Den Haag. Abendblatt-Kulturchefin Maike Schiller hat Anton Corbijn in Den Haag besucht. Gespräch über Licht, Schatten und Leben nach dem Tod.

Blauer Himmel über Den Haag. Anton Corbijn verstaut seine Kameraausrüstung im Kofferraum, faltet seinen langen Körper in den Mini und chauffiert seinen Besuch einen kleinen Umweg auf dem Weg zum Café: „Sie müssen den Internationalen Gerichtshof gesehen haben“, findet er. „Und das Meer ist auch nicht weit.“ Das beschauliche Den Haag, das sieht man auf der improvisierten Stadtrundfahrt sofort ein, ist eine gute Stadt, wenn man so viel auf Reisen ist wie Anton Corbijn.

Der Fotograf und Regisseur, der schon in Berlin, London und Los Angeles gelebt hat, gehört zu den berühmtesten und meistbeschäftigten Künstlern seiner Zunft, er braucht einen Rückzugsort – und einen internationalen Flughafen in der Nähe. Nach Den Haag, wo er heute nicht nur seinen Wohnsitz, sondern auch ein zwar sehr schmales, aber dreistöckiges Studio besitzt, ist er bewusst zurückgekehrt.

Hamburg wird wieder zur Hauptstadt der Bilder

Anton Corbijn, 1955 als Sohn eines holländischen Inselpfarrers geboren, hat mit seinen Fotos Musikgeschichte geschrieben. Er hat Bands wie U2 oder Depeche Mode zu ihrem Look verholfen, er hat die Stones fotografiert und Joe Cocker­, er hatte David Bowie vor der Kamera, Miles Davis, Tom Waits, aber auch Politiker wie Nelson Mandela oder Schauspieler wie Philip Seymour Hoffman.

Für ihn lag Bono in der Badewanne, Mick Jagger ließ sich in Frauenkleidern fotografieren und Herbert Grönemeyer, mit dem Corbijn eine lange Freundschaft verbindet, einen Eisbären durch sein „Mensch“-Video wandeln. 2007 drehte Anton Corbijn seinen ersten Kinofilm, „Control“, es folgte „The American“ mit George Clooney und die Thriller-Verfilmung „A Most Wanted Man“ nach der Romanvorlage von John le Carré­.

Für das Gespräch bestellt Corbijn überbackene Käsesandwiches, holländische „Tostis“, und Tee. Kurzer prüfender Blick nach oben, dann schaut er nach einem Tisch, an dem es sowohl Sonnen- als auch Schattenplätze gibt.

Sie sitzen im Schatten, ich sitze in der Sonne. Ist Licht ­etwas, was Sie als Fotograf grundsätzlich registrieren? Was Ihnen auffällt?

Anton Corbijn: Ich bin jedenfalls nicht sehr gut darin, Licht herzustellen. Meine Stärke ist es, das richtige Licht zu erkennen. Wenn ich natürliches Licht sehe, weiß ich, wie ich es nutzen kann.

Deshalb fotografieren Sie vor allem unter freiem Himmel? Im Studio sind Sie eher ­selten.

Corbijn: Ich nutze die Umgebung draußen wie ein Studio. Eine Steinwand ist auf den ersten Blick neutral – aber sie ist es eben doch nicht, sie hat Struktur. Zudem hatte ich kein Geld für ein Studio, als ich anfing, also ging ich mit dem um, was ich hatte. Aus Notwendigkeit. Später wurde das meine bewusste Wahl, und ich habe begonnen, über das Sonnenlicht nachzudenken, besonders, als ich in L.A. lebte. Man hat es dort den ganzen Tag mit heftigem­ Sonnenlicht zu tun. Hier in Den Haag ist es normalerweise nicht so sonnig wie heute, es gibt immer Wolken. Ein wolkiger Himmel ist mir das Allerliebste. Man kann alles fotografieren, wenn es wolkig ist! Es ist toll für ­Gesichter.

Sie haben einmal gesagt, Sie mögen sogar Regen. Tatsächlich?

Corbijn: Nicht zum Fotografieren. Aber ich mag den Sound von Regen. Ich hatte, als ich aufwuchs, ein Zimmer unter dem Dach, das Geräusch von Regen über mir habe ich immer als tröstlich empfunden. Das geht mir noch heute so. Die Selbstpor­träts, die ich in der Hamburger Ausstellung zeige, sind in meinem Heimatort auf einer kleinen Insel in Holland aufgenommen, also genau dort, wo dieses Zimmer unter dem Dach war. Und man sieht auf den Bildern nicht nur mich, sondern immer auch Himmel. Der ­Himmel über mir hat für mich immer eine große Rolle gespielt. Und man sieht in den Fotos die Verzweiflung, mit der ich unter diesem Himmel versuche, ­jemanden darzustellen, jemand zu sein. Das ist auch der Titel dieser Serie: „a. somebody“. Ich dachte früher immer, ich wäre niemand. Mich selbst erkannte ich erst später.

Wie alt waren Sie, als Sie die Selbstporträts machten?

Corbijn: Mitte vierzig.

Sie waren längst gut im Geschäft, Sie waren jemand.

Corbijn: Ja, der Bürgermeister des abgelegenen Örtchens, in dem ich geboren wurde, fragte mich damals, ob ich dort auf der Insel nicht eine Ausstellung machen könnte. Aber ich hatte dort gar keine Familie mehr, ich war dort nie mehr, dort passiert auch nichts! Dann dachte ich darüber nach, dass meine Obsession für die Musikszene ja irgendwoher kommen musste. Es interessierte mich, dorthin zurückzukehren. Vielleicht war da etwas in meiner Herkunft zu finden?

Das Making-of einer
außergewöhnlichen
Ausgabe: Fotograf
Anton Corbijn und
Kultur-Ressortchefin
Maike Schiller bei
der Bildauswahl
Das Making-of einer außergewöhnlichen Ausgabe: Fotograf Anton Corbijn und Kultur-Ressortchefin Maike Schiller bei der Bildauswahl © HA | Thorsten Ahlf

Und? Was war es?

Corbijn: Es war genau dieses Nichts. Da war wirklich NICHTS auf der Insel, auf der ich als Junge lebte. Die Beatles in den 60ern, die ich im Radio hörte, wirkten in dieser Umgebung wie Magie auf mich. Die ­Musik transportierte Freiheit, man konnte es fühlen, und ich konnte nur ­davon träumen. Mein Vater war Pastor, und die Insel war heftig christlich, dunkel christlich. Wir lebten neben dem Friedhof, und meine tiefreligiösen Eltern glaubten intensiv an das Leben nach dem Tod.

Sie sind Fotograf geworden. Ihre Arbeit ­besteht darin, Menschen zu fotografieren, ein Werk also, das die darauf abgebildete Person auch nach ihrem Tod weiterleben lässt. Ein interessanter Zufall.

Corbijn: Ja, das ist es. Ich habe in der Selbstpor­trät-Serie diese Besessenheit noch deutlicher aufgegriffen, indem ich mich als Musiker verkleidete, die ich verehrte, die aber alle bereits gestorben waren. John Lennon, Jimi Hendrix, solche Leute. Aber es gilt auch grundsätzlich: Wenn ich meine Ausstellungen hänge, sehe ich auf meinen Fotos so viele Menschen, die nicht mehr da sind. Wir sprachen ja schon über den Unterschied zwischen Studioarbeit und meiner Art, die Menschen draußen zu fotografieren. Ich verbringe draußen einfach eine andere Zeit mit ihnen, oft sehe ich ihr Umfeld, manchmal ihre Familien, Freunde. Ich esse mit ihnen, so wie mit Ihnen jetzt, es ist wundervoll. Es ist mehr, als bloß ein Foto zu machen.

Die Abwesenheit von Geselligkeit, Musik oder Kunst in Ihrer religiösen Familie ­bewirkte bei Ihnen also eine Notwendigkeit, sich genau diesen Dingen zuzuwenden?

Corbijn: Genau. In den protestantischen Kirchen hat man ja nichts an den Wänden, alles ist karg. Man soll sich auf den Glauben konzentrieren. Ich war nie in einem Museum als Kind! Dabei war es zu Hause nicht so, dass es gar keine Kunst gab: Es hingen ein paar schreckliche, düstere Gemälde meines Großvaters im Haus. Landschaften. Er hat sogar Malerei unterrichtet. Mein Vater allerdings erbte keine seiner künstlerischen Gene.

Es hat eine Generation übersprungen.

Corbijn: Das ist wohl so. Ich hatte keine anderen Interessen im Leben als Musik und Fotografie. Ich war 17, als ich das erste Foto machte, mit der Kamera meines Vaters.

Es überrascht mich, dass Ihr puritanischer Vater eine Kamera hatte.

Corbijn: In unserem Dorf gab es nur zwei Männer, die studiert hatten, meinen Vater und den Arzt. Dieser Doktor war kein bisschen religiös, aber sie wurden trotzdem Freunde. Der Arzt liebte Fotografie und verhalf auch meinem Vater zu einer Kamera. Ich durfte sie ausleihen. In den nächsten Schulferien arbeitete ich in einer Fabrik, um Geld für eine eigene Kamera zu verdienen. Ich wollte Fotograf werden, um der Musik nah sein zu können. Es war der logische Weg für mich.

Noch logischer wäre es womöglich gewesen, selbst Musik zu machen.

Corbijn: Dafür war ich nie gut genug. Und ziemlich schüchtern. Fotografie war ideal: Sie brachte mich dieser Welt nah, aber die Kamera schützte mich gleichzeitig.

Was haben Ihre Eltern davon gehalten, dass Sie ausgerechnet Fotograf werden wollten?

Corbijn: Sie haben es nicht verstanden, aber sie waren auch nicht dagegen. Ich war der Älteste von vier Geschwistern, meine Eltern­ erwarteten vor allem, dass alle Kinder studierten. Ich bin hier in Den Haag auf eine Technische Hochschule gegangen. Das war in Ordnung für sie. Vorher hatte ich mich an drei Kunsthochschulen beworben, die mich zu Recht alle abgelehnt haben. Ich war kulturell so ungebildet! Aber in dieser Technischen Hochschule gab es an einem Tag der Woche einen Fotografiekurs. Wenn die Leute heute sagen, mein „besonderer Stil“ wäre so „wiedererkennbar“ – daran liegt es. Ich musste es mir eigentlich selbst beibringen. Man macht es dann halt so, dass es für einen selbst funktioniert. Das wird der Stil: Das Unvermögen, es irgendwie anders zu tun.

Ihre Mutter war ebenfalls Theologin ...

Corbijn: ... und meine Onkel waren Pastoren, mein einer Großvater auch, der andere tief religiös. Meine Tante heiratete einen Pastor. Mit elf oder zwölf Jahren kam ich auf den Gedanken, Missionar zu werden. Mir gefiel die Idee, reisen zu können. Dann habe ich in der Zeitung gelesen, dass in Neuguinea zwei Missionare verspeist worden seien. Ich habe den Berufswunsch dann fallen gelassen.

Einen Beruf, der mit vielen Reisen verbunden ist, haben Sie dennoch ergriffen. Hat Ihre Arbeit auch einen missionarischen ­Aspekt?

Corbijn: Nein. Sie ist aber vermutlich schon ein bisschen protestantisch.

Inwiefern?

Corbijn: Sie ist ziemlich ehrlich. Und wenig lebenslustig – das wäre dann wohl eher katholisch (lächelt). Für meine Eltern ging mein Beruf endgültig in Ordnung, als ich 1994 eine Ausstellung im Stedelijk Museum in Amsterdam hatte, zu der sie kamen. Die Vernissage war proppevoll. Und mein Vater sagte: „Du kannst also wirklich davon leben, was?“ Für ihn war dieser Gedanke geradezu außerirdisch.

Sind Sie selbst ein geduldiger Mensch?

Corbijn: Ich war es mal. Gerade am Anfang meiner Karriere musste ich oft Ewigkeiten auf die Leute warten, um ein paar Minuten zu haben, in denen ich ein Bild von ihnen machen konnte.

Sie warteten auf die Musiker, die Sie fotografierten? Nicht auf das perfekte Licht?

Corbijn: Den Luxus hatte ich gar nicht. Diese Musiker besuchten Holland für ein Konzert oder ein Festival und gaben mir vielleicht fünf Minuten. Manchmal wartete ich einen Tag auf diese fünf Minuten – und musste am nächsten Tag wiederkommen. Es hat mir trotzdem nichts ausgemacht. Ich hatte nicht das hastige Leben, das ich jetzt führe, ich hatte Zeit. Und ich hatte eher wenig Selbstbewusstsein. Ich hadere immer noch manchmal mit mir, aber es hilft natürlich sehr, wenn die eigene Arbeit anerkannt wird.

Ihre Arbeit wird nicht nur anerkannt, Sie sind berühmt. So wie die meisten Menschen, die Sie vor der Kamera hatten. Ist Berühmtheit etwas, das Sie grundsätzlich interessiert?

Corbijn: Berühmtheit an sich: nie. Ich mag aber kreative Menschen, deren Arbeit mich inspiriert. Vor allem Musiker haben mich eben anfangs interessiert. Manchmal habe ich angefangen, Künstler zu fotografieren, die noch keiner kannte – die später aber berühmt wurden. Mein Name wurde dann mit ihren verbunden. Und irgendwann habe ich natürlich auch begonnen, aktiv auf Musiker zuzugehen. Ich habe nicht ausschließlich Bands fotografiert, die ich auch zu Hause höre, aber ich finde immer etwas, was mich anspricht. Ich will bloß nicht, dass man ein Foto mag, nur weil David Bowie darauf zu sehen ist. Es ist nicht nur, wer vor der Kamera ist – es ist, was man damit macht.

Die Ausstellung

Wann wird Fotografie zur Kunst?

Corbijn: Ich versuche, dass meine Fotos mehr sind als die Personen, die darauf zu sehen sind. Aber ich empfinde den Begriff „Kunst“ auch als Last.

Machen wir es simpler: Wann ist ein Foto ein gutes Foto?

Corbijn: Wenn man die Wahrnehmung der Menschen auf etwas verändert. Wenn der Betrachter etwas „in einem anderen Licht“ sieht. Wenn ein Bild etwas über die abgebildete Person erzählt und über den Fotografen. Berühmtheit hat natürlich auch Vorteile: Wenn die Person auf dem Foto berühmt ist, ist die Wahrscheinlichkeit höher, dass es jemand druckt.

Sie haben mit „Control“, „The American“ und „A Most Wanted Man“ auch hoch­karätig besetzte Kinofilme gemacht – löst das Filmemachen das Fotografieren in Ihrem Leben ab?

Corbijn: Abgelöst wird das Fotografieren für mich nicht, ich mache bloß mehr unterschiedliche Dinge. Gerade habe ich einen Film mit U2 gemacht, und ich ­bereite einen großen Kinofilm vor, der sehr viel Zeit in Anspruch nimmt. Für Depeche Mode designe ich das Bühnenbild, für einige Magazine fotografiere ich, auch die Ausstellungen in Hamburg und etwas später in Antwerpen brauchen viel Planung und Arbeit. Aber es ist natürlich toll, wenn die eigene Arbeit ­gefeiert wird. Ich will mein Leben nicht wiederholen, ich will, dass es ein Abenteuer bleibt.

Wie kommen Ihre Bilder zustande? Mick Jagger in Frauenkleidern zum Beispiel – Ihre Idee oder seine?

Corbijn: Mick Jagger hat genau so die Tür geöffnet, als ich kam.

Oh, wirklich?

Corbijn: Ja. Vielleicht sollte man die Umstände erwähnen. Er drehte gerade einen Film. Aber ich mag es grundsätzlich, spielerisch zu sein. Und es hat natürlich immer auch etwas mit Vertrauen zu tun. Ich finde Musiker mit ihren Instrumenten zum Beispiel ziemlich langweilig. Vier junge Männer mit Instrumenten... (verdreht die Augen.) Es ist immer gut, eine Szenerie zu kreieren, in der etwas passieren kann. Ich bin vielleicht ein ernsthafter Mensch, aber in meiner Arbeit bin ich spielerisch, mehr noch in meinen Videos als in meinen Fotos.

Der Eisbär im Musikvideo zu Herbert Grönemeyers „Mensch“ fällt einem sofort ein...

Corbijn: Genau.

Ein berühmtes Foto zeigt David Bowie in einer Art Stoffwindel.

Corbijn: Ein Lendentuch. Nicht dazu da, etwas aufzuhalten, sondern etwas vor dem Blick anderer zu schützen. Das war, als David Bowie das Theaterstück „The ­Elephant Man“ in Chicago spielte. Es war nicht erlaubt, ihn zu fotografieren, aber er machte für mich eine Ausnahme.

Weil Sie ihn so gut kannten?

Corbijn: Im Gegenteil: Es war das erste Mal, das ich ihn traf. Es war 1980, ich lebte in London, hatte praktisch kein Geld und arbeitete für den „New Musical Express“. Ein Journalist hatte ein Interview mit David Bowie in Amerika und ich sagte, ich würde gern mitkommen. Bowie erlaubte aber keine Fotos. Also kaufte ich von dem Geld, das meine Eltern mir eigentlich für neue Töpfe gegeben hatten, selbst ein Flugticket und kam trotzdem mit zum Interview. Bowies Assistentin Coco sagte: Was machen Sie hier, Fotografen sind nicht erlaubt! Ich sagte, dass ich auf eine Ausnahme gehofft hatte. Sie schüttelte natürlich den Kopf. Es gab aber eine Vorgeschichte: Zwei oder drei Jahre zuvor hatte Bowie in Holland gespielt.

Weil auch da keine Fotografen erlaubt waren, hatte mir ein Pressemensch damals gesagt, ich solle mein Portfolio im Hotel lassen, und das habe ich getan. Und es am nächsten Tag ­wieder abgeholt, ohne Ergebnis. Das erzählte ich nun Coco in Chicago. Sie schaute in ihren Unterlagen. Und ­tatsächlich: Da stand „Bester Fotograf in Holland“! Sie hatten mein Portfolio damals angeschaut, und sie hatten sich eine Notiz gemacht! Sie erzählte es ­David Bowie – und er stimmte zu. Es ging sehr schnell. Und es wurde dieses sehr klassische Bowie-Porträt. Ähnlich war es bei Miles Davis, Ian Curtis und anderen, solche Bilder entstanden oft in sehr, sehr kurzer Zeit. 1980 war das Jahr, in dem ich zum ersten Mal das ­Gefühl hatte, meine Fotografie zu ­mögen. Aber es steckte keine Methode dahinter. Ich hatte immer das Gefühl, ich fange bei jedem Foto ganz von vorn an.

Sie brauchen auch Künstler, die dieses ­Risiko vor der Kamera eingehen.

Corbijn: Richtig. Ich habe einmal ein Foto von dem Maler Gerhard Richter gemacht – mit seinem Rücken zur Kamera. Ein schönes Foto! Und er liebte es.

Kam das Gegenteil auch vor? Dass Sie ­Bilder machten, die die Künstler nicht ­gedruckt sehen wollten?

Corbijn: Das passiert gelegentlich mit U2. Jahre später lieben sie es dann. Zeit ist immer ein wichtiger Faktor. Und ich habe mal eine Fotosession mit den Eurythmics gemacht, als sie schon getrennt waren, als Band und als Paar. Ein Greatest-Hits-Album sollte kommen, und sie hatten mich gebeten, noch einmal ein gemeinsames Foto zu machen. Es wurde nicht gut genug, und sie mochten es nicht. Sie machten nie mehr ein gemeinsames Fotoshooting.

Gehen Sie eigentlich nach den Vernissagen noch manchmal in Ihre Ausstellungen, um zu sehen, wie die Besucher auf die Fotos ­reagieren?

Corbijn: Nein. Ich würde wohl erkannt werden, das wäre vielleicht etwas merkwürdig.

Als Udo Lindenberg eine Ausstellung im Hamburger Museum für Kunst und ­Gewerbe hatte, ist er immer mal wieder dort aufgetaucht. Die Leute mochten das.

Corbijn: Oh, wirklich? Lebt Udo Lindenberg noch im Hotel Atlantic?

Ja.

Corbijn: Als ich „Most Wanted Man“ in Hamburg gedreht habe, sah ich ihn ab und zu in seinem Porsche nach Hause kommen. Und er hat ein Musical über sein Leben geschrieben, oder? Udo Lindenberg ­habe ich 1977 mal fotografiert. Auch schon eine Weile her.

Wenn Ihre Kamera für Sie anfangs wie ein Schlüssel zu einer bestimmten Welt war – was bedeutet Sie Ihnen heute?

Corbijn: Sie ist immer noch ein hervorragendes Werkzeug, um Menschen kennenzulernen. Wenn man eine Kamera hat, muss man auf die Menschen zugehen, auch wenn man eigentlich eine Scheu davor hat. Und ich mag es, mit der Kamera rauszugehen und etwas zu schaffen. Es kostet dich einen halben Tag. Ein Film bedeutet ein Jahr deines Lebens.

Haben Sie immer eine Fotokamera bei sich?

Corbijn: Nein. Ich fotografiere immer noch vor allem auf Film. Obwohl ich mir im letzten Jahr eine Digitalkamera gekauft habe. Ich benutze sie manchmal, wenn ich es eilig habe.

Das klingt ja nicht nach der großen neuen Liebe, mit der Sie Ihre Hasselblad da ­betrogen haben ...

Corbijn: Ich bevorzuge das Analoge. Du schaust nicht die ganze Zeit auf das Display, noch dazu im Sonnenlicht, wenn man das Bild darauf ohnehin nicht vernünftig erkennen kann. Analoge Fotografie ist mehr Abenteuer. Man macht ein Foto, ohne genau zu wissen, was man eigentlich hat. Das Ergebnis sieht man erst später, das ist aufregend. Was ich immer dabeihabe, ist mein iPhone. Aber das ist ja etwas anderes.

Sie sind aktiv auf Instagram, eigentlich passt das gar nicht zu Ihnen.

Corbijn: Stimmt, aber ich mag das genug, um mich ein bisschen da zu tummeln. Aber wenn man es zu ernst nimmt, ist es Bullshit.

Sie haben in Ihrer Karriere mehr Männer als Frauen fotografiert, ist das eine richtige Beobachtung?

Corbijn: Ja, das stimmt wohl. Das gilt vor allem für früher. Es hat zwei Gründe: Zum einen war ich, wie gesagt, damals sehr schüchtern. Ernsthaft schüchtern. Und in der Musikszene der 70er-Jahre waren nun einmal vor allem Männer. Viele Männer.

Ist denn Fotograf zu sein – in den 70ern, in der Musikszene! – nicht ein prima Weg ­gewesen, Frauen kennenzulernen?

Corbijn: Hm, es geht so, ehrlich gesagt. (lacht.) Später bin ich mit einigen Models ausgegangen, aber das war wirklich viel später. Heute fotografiere ich natürlich viel mehr Frauen. Aber ich glaube, ich habe trotzdem noch immer einen anderen Begriff von „Schönheit“.

Gibt es jemanden, den Sie gern fotografiert hätten, wozu es aber nie kam?

Corbijn: Ich denke immer, dass ich wirklich gute Arbeit mit Bob Dylan machen könnte. Ich habe einmal ein einziges Bild von ihm gemacht, das ist 20 Jahre her. Ich glaube, wir wären eine gute Kombination. Und ich mag die aktuellen Bilder nicht so sehr, die es von ihm gibt.

Was hält Sie davon ab, ihn zu foto­grafieren?

Corbijn: Na, er weiß ja, wo er mich findet. (grinst.) Ich hatte früher übrigens tatsächlich mal eine Liste von Leuten, die ich gern fotografieren würde. Viele habe ich dann auch fotografiert. Heute führe ich so eine Liste nicht mehr.

Sie haben immer wieder in Hamburg ­gearbeitet, erstmals in den 80er-Jahren, als Ihr erstes Musikvideo für die Band Palais Schaumburg dort entstand. Wie war Ihr erster Eindruck?

Corbijn: Eine reiche Stadt. Was mir damals ­vielleicht besonders auffiel, weil ich so arm war. Rund um die Alster: so reich alles! Und gleichzeitig war da dieses anarchische Element, das Linke. Ich mag an Hamburg die Architektur, die ich in „A Most Wanted Man“ gefilmt habe. Ich wollte, dass die Stadt selbst und also die Art, wie sie aussieht, eine Rolle im Film spielt.

Wo haben Sie gewohnt, als Sie zuletzt in Hamburg drehten?

Corbijn: Fast zwei Monate lang im Hotel ­Atlantic. Und dann eine Weile in der Danziger Straße, gegenüber von einem Schwulenclub, ­direkt darüber hatte eine muslimische Organisation ihre Räume. In Hamburg tolerieren die Menschen­ ­einander offenbar.

Wie empfinden Sie denn das Licht in ­Hamburg? Das müsste Ihnen doch gefallen. Wolken gibt es jedenfalls oft.

Corbijn: Ein nordischer Himmel. Weite hohe Himmel. Hamburg hat tolles Licht.