Hamburg. Notstand in Altenheimen, Krankenhäusern, Kitas – seit Jahren wachsen in Hamburg die Probleme im sozialen Bereich.

Selbst gebastelte Klagetafeln, auf denen Pflegekräfte ihre Sorgen notieren können, Klagemauern auf Pappkartons vor dem Rathaus – das „Hamburger Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus“ setzt auf öffentlichkeitswirksamen Protest. Auch für den morgigen Donnerstag (17.30 Uhr) ruft die Initiative auf dem Rathausmarkt zu einer „bunten Aktion“ auf. Ab 18 Uhr (Patriotische Gesellschaft, Trostbrücke 4-6) werden die Mitglieder dann mit Abgeordneten des Gesundheitsausschusses der Bürgerschaft diskutieren.


Was fordert die Initiative?

Sie hält die von der Bundesregierung beschlossene Einführung von Pflegepersonaluntergrenzen für unzureichend. Es sei viel zu wenig Geld dafür vorgesehen. Zudem müsse der Berufsstand attraktiver gemacht werden, vor allem mit einer angemessenen Bezahlung und einer besseren Ausbildung. Die notwendigen 10.000 gültigen Unterschriften, damit sich die Bürgerschaft mit den Forderungen beschäftigen muss, hatte die Initiative bereits im März übergeben. Insgesamt wurden 28.000 Unterschriften gesammelt. Die Initiative konzentriert sich auf den Krankenhaus-Sektor, hält aber auch die Personalsituation in Pflegeheimen für unzureichend.


Wie groß ist der Personalmangel?

In den Hamburger Krankenhäusern waren 2016 laut Statistischem Bundesamt 9303 Vollzeitkräfte in der Pflege beschäftigt. In mehreren Hamburger Krankenhäusern können Betten nicht belegt werden, weil Personal fehlt. Die Hamburger Krankenhausgesellschaft schätzt, dass die Kliniken in den kommenden zehn Jahren 5700 neue Pflegekräfte brauchen. Laut einer Analyse von Michael Simon, Professor für Gesundheitspolitik an der Hochschule Hannover, fehlen bundesweit 100.000 Pflegestellen: „Wir haben haarsträubende Verhältnisse in unseren Krankenhäusern.“ Die deutschen Kliniken schufen laut „Spiegel“ in den vergangenen 20 Jahren zwar 60.000 neue Arztstellen, bauten jedoch 25.000 Pflegestellen ab. Frank Weidner, Direktor des Deutschen Instituts für angewandte Pflegeforschung (dip), sagt: „Wir haben schon vor 15 Jahren vor der Dramatik der Pflegesituation gewarnt. Doch in der Politik wollte lieber niemand zuhören – denn der Personalaufbau ist teuer.“

In der Altenpflege arbeiten traditionell sehr viele Beschäftigte auf Teilzeitbasis. Bei den ambulanten Pflegediensten waren es 2015 (neuere Zahlen gibt es nicht) 3202 Vollzeit- und 7390 Teilzeitkräfte, in den Heimen 5234 Vollzeit- und 7138 Teilzeitkräfte. Laut Rahmenplan Pflege werden 4500 Beschäftigte in der Altenpflege 2030 fehlen. Dann werden 118.900 Senioren in Hamburg leben, die 80 Jahre und älter sind.


Wie groß ist die Arbeitsbelastung?

Ver.di kritisiert eine viel zu hohe Belastung. Nach einer Studie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2013 fehlten Beschäftigte der Gesundheits- und Krankenpflege an 19,6 Tagen wegen Krankheit, deutlich mehr als der Schnitt von 13,7 Tagen. Die Beschäftigtengruppe leidet viel häufiger an psychischen Erkrankungen (358 Ausfalltage im Jahr auf 100 Versicherte gegenüber 237 Ausfalltagen auf alle Beschäftigten).

Nach Umfragen können sich 77 Prozent der Beschäftigten in der Krankenpflege nicht vorstellen, ihre Tätigkeit bis zum gesetzlichen Rentenalter auszuüben, in der Altenpflege sind es 72 Prozent. Senatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) macht vor allem die hohe Abbruchquote (40 Prozent) in der Altenpflege-Ausbildung Sorgen: „Zu wenig Arbeitskräfte führen zu einer zu hohen Belastung, zu hohe Belastung schreckt Auszubildende ab und führt zu Kündigungen. Zudem verlieren wir viele ausgebildete Kräfte nach wenigen Jahren. Sie wenden sich von diesem Beruf ab, weil die Belastung zu hoch und die Bezahlung zu niedrig ist.“

Das Bundesgesundheitsministerium spricht von erheblichen körperlichen Belastungen vor allem durch langes Stehen, schweres Heben und ungünstige Körperhaltungen. Auch seelisch müssten Beschäftigte im Pflegebereich einiges aushalten: „Die große Verantwortung, die ständige Aufmerksamkeit sowie der Termin- und Leistungsdruck machen den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Pflege deutlich mehr zu schaffen als Beschäftigten in anderen Berufen.“ Zudem seien Pflegekräfte durch den Umgang mit Abschied, Leid, Tod und Trauer häufig emotionalen Belastungen ausgesetzt.


Was wird in der Kranken- und in der Altenpflege verdient?

In der Krankenpflege in Hamburg lehnen sich die meisten Kliniken unabhängig von ihrer Trägerschaft an den „Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst Pflege“ an. Viele Beschäftigte werden durch die unterschiedliche Laufzeit der Verträge mit etwas Verspätung von der mit Ver.di vereinbarten Tariferhöhung profitieren. Nach drei Jahren Berufserfahrung verdient eine Krankenpflegekraft dann 2877 Euro, in Spezialbereichen wie der Psychiatrie 3017 Euro. Eine Stationsleitung (Normalstation) bekommt künftig 3804 Euro. Dazu gibt es Zuschläge für Schichtdienste sowie ein Weihnachtsgeld von 80 bis 90 Prozent. Laut Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) verdiente 2016 eine Fachkraft in der Hamburger Krankenpflege im Schnitt 3276 Euro.

In der Altenpflege liegen die Gehälter niedriger. Laut IAB-Studie verdienten Fachkräfte in der Altenpflege 2016 in Hamburg 2806 Euro. Dennoch liegt die Hansestadt hier in der Spitzengruppe, besonders im Osten sind die Gehälter viel geringer. Die Tarifverträge, sofern es überhaupt welche gibt, differieren stark. In Deutschland gelten rund 100 verschiedene Kontrakte. In Einrichtungen der Diakonie Hamburg startet eine examinierte Fachkraft nach ihrer dreijährigen Ausbildung mit einem Gehalt von 2727 Euro.

Ver.di kämpft seit Jahren für einen einheitlichen Tarifvertrag. Der Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste lehnt dies ab. Träger von Pflegeeinrichtungen könnten nicht frei über ihre personelle Ausstattung und Anbieterpreise entscheiden, sie seien an Personalschlüssel und vereinbarte Pflegesätze gebunden. Daher sei eine „Zwangsbeglückung durch allgemeinverbindliche Tarifverträge ein Angriff auf die Tarifautonomie“. Branchenexperten rechnen damit, dass sich die Gehälter mittelfristig dennoch angleichen könnten. Hintergrund: 2020 soll die generalistische Ausbildung kommen, mit dem Abschluss Pflegefachfrau oder Pflegefachmann könnten die examinierten Kräfte dann entscheiden, in welchen Bereich sie gehen. Wer dann weniger zahlt, dürfte noch größere Schwierigkeiten haben, Personal zu finden.


Was macht der Senat?

Prüfer-Storcks hatte sich in den Koalitionsverhandlungen auf Bundesebene für bessere Arbeitsbedingungen in der Pflege eingesetzt. Auch auf ihre Initiative hin stellen die Pflegeheime bundesweit 8000 neue Fachkräfte ein, in Hamburg rund 400. Die Senatorin will künftig Pflegeeinrichtungen und Kliniken auszeichnen, die für besonders gute Arbeitsbedingungen sorgen.

Das Ansinnen der Initiative hält sie für rechtswidrig. Hamburg fehle die Gesetzgebungskompetenz, der Bund habe ein Gesetz zu Personalvorgaben für Krankenhäuser beschlossen. Weiter sagt ihre Behörde: „Der Haushaltsvorbehalt wird verletzt. Die Neuregelung der Krankenhausinvestitionen würde Senat und Bürgerschaft verpflichten, alle denkbaren Investitionsbedarfe der Krankenhäuser zu finanzieren. Als (Mit-)Eigentümer von Hamburger Krankenhäusern müsste die Stadt Defizite dieser Krankenhäuser ausgleichen.“ Der Senat werde wegen der „Rechtswidrigkeit des Volksentscheids nun gezwungen, gegen ein grundsätzlich richtiges Anliegen vorzugehen, das er selbst verfolgt“.