Hamburg. Chef David Harrington plauderte erst über die Politik der USA. Dann spielte er mit dem Ensemble in der Elbphilharmonie groß auf.

Als 1973 alles begann mit dem Ensemble, regierte Richard „Tricky Dick“ Nixon im Weißen Haus, und der Vietnamkrieg tobte noch. 45 Jahre später: Ein Immobilienmogul aus New York kündigte gerade das Atomabkommen mit dem Iran, dem „schlechtesten Deal aller Zeiten“, mit seiner Unterschrift aus Kindergartenfilzstift-strichen auf. „Jetzt gibt es mehr zu tun als je zuvor“, fand Kronos-Quartet-Chef David Harrington, zum aktuellen Machthaber in Amerika entfuhr ihm ein „Oh Boy …“ und anschließend: „Sie sagten seinen Namen, nicht ich.“

Dann berichtete er, dass er gerade an einem weiteren Programm arbeitet – ausschließlich mit Stücken aus Ländern, die der orangehaarige Mann im Oval Office als „shithole countries“ („Dreckloch-Länder“) beschimpft hatte. „Diese shithole countries werden für ein großartiges Konzert sorgen, da bin ich mir verdammt sicher.“ Die Bürstenfrisur des Geigers aus San Francisco, mit dem alles begann, ist inzwischen silbergrau.

Glöckchen und bunte Heulschläuche

Doch diese Patina ist ja nur äußerlich. In den vergangenen 45 Jahren ist Harrington mit seinem Kronos Quartet auf einem fliegenden Noten-Teppich so oft um und durch die Weltmusik-Welt gereist wie sonst wohl niemand. Demnächst müsste die Summe der Stücke, die für das abenteuersüchtigste Streichquartett unter der Sonne geschrieben wurden, die Zahl 1000 erreichen. „Wir zählen nicht, jemand in unserem Büro zählt“, sagte Harrington dazu in der Elbphilharmonie-Künstlergarderobe, nach einer Einspielprobe im Großen Saal entspannt mit seinem Salatteller beschäftigt. Alltag, Normalzustand.

Wenige Minuten später legte Kronos fast drei Stunden lang 16 Teile eines unendlich großen Mosaiks nebeneinander. Größtenteils brandneue Musik. Von Menschen aus Serbien, Ägypten, Kanada, Iran, China, Aserbaidschan, Indien, den USA und Syrien. Kleine Trommeln kamen zum Einsatz, chinesische Becken, Glöckchen und bunte Heulschläuche. Und gut 2000 Menschen, von denen viele wohl keine Ahnung hatten, dass ihnen so etwas gefallen würde, erlebten, dass es ihnen sehr gefiel. Denn um bleibende Werte zu hinterlassen, hat das Ensemble 2015 das „Fifty for the Future“-Programm gestartet: 50 Stücke in fünf Jahren aus aller Welt, paritätisch von Männern und Frauen geschrieben, deren Noten sich Interessierte kostenlos herunterladen können, um die Kunstform „Streichquartett“ mit frischen Herausforderungen zu beliefern.

Klangfarben wie Polarlicht

Mitunter ist diese gewagte Idee besser als die Umsetzung, doch die Trefferquote der Kostproben, die Kronos bei seinem Elbphilharmonie-Debüt spielte, war beachtlich: Mal wurde mit Phrasenverschiebungen experimentiert, in „Another Living Soul“ von Nicole Lizée schimmerten Klangfarben wie Polarlicht. Verstörend und hauchzart bezauberte Laurie Andersons „Flow“, wie ein Schubert-Lied in Zeitlupe hinter einer Nebelwand. Dann, Rolle seitwärts, stampfende Afropop-Beats aus Kenia, bevor eine Uraufführung über die Bühne ging und „Just Strings And A Light Wind Above Them“ der anwesenden Litauerin Onuté Narbutaité hielt, was der Titel versprach: ein ätherisches Spiel mit Stille und ihren Rändern.

So Rock’n’Roll, wie ein Streichquartett nur sein kann, dann: Gershwins „Summertime“ als Hommage an Janis Joplin, nicht die einzige Jahrhundertstimme, an die erinnert wurde. Später kam noch ein Arrangement von „God Shall Wipe All Tears Away“ von der Gospelsängerin Mahalia Jackson, und als Zugaben „The House of the Rising Sun“ vor Billie Holidays Lynchjustiz-Anklage „Strange Fruit“. Fünf Jahre nach 9/11 hatte Kronos einst bei einem Gedenkkonzert das für Harrington ultimativ schönste Stück überhaupt gespielt, Wladimir Martynows „The Beatitudes“, das später in „La Grande Bellezza“ zu Filmmusik wurde und auch jetzt und live frontal zu Herzen ging. Danach Indisches, Arabisches, Asiatisches - der Hörgewohnheits-Kompass rotierte wild.

Mehr als zwei Stunden Welt-Musik

Zu guter Letzt, nach 15 Standpunkten, hoben die Kalifornier ab, nach mehr als zwei Stunden Welt-Musik folgte Weltraum-Musik: „One Earth, One People, One Love“ aus „Sun Rings“ von Terry Riley, ein NASA-Kompositionsauftrag und eine weitere Auseinandersetzung mit dem Trauma der gefällten Zwillingstürme von New York. Kronos as Kronos can.

Um so collagieren zu können, braucht es enormen Überblick. Harringtons Nerd-Charakter ist bekannt, er ist das manische Sammler-und-Jäger-Hirn hinter den Kronos-Projekten. Auf die Frage, wie politisch im klassischen Sinne des Wortes ein ganz und gar unklassisches Streichquartett sein kann oder sollte, antwortete er vor dem Konzert mit einer Geschichte, die belegt, wie eigen Kronos ticken will: Sie haben gerade in San Francisco ein Konzert gegeben, das erzählte, wie die „I have a dream“-Rede von Martin Luther King entstand.

Perspektiven verändern

Der hatte zunächst ganz andere Formulierungen vorbereitet. „Das weiß ich von seinem Redenschreiber und Anwalt, Clarence Jones, der ganz in unserer Nähe wohnt. Als King diese Rede hielt, stand Mahalia Jackson mit auf der Bühne und sagte ihm: Martin, erzähl ihnen von deinem Traum.“ Der Rest wurde historisch. „Für mich ist das ein Moment in unserer amerikanischen Geschichte, in dem Musiker an der Seite dieser kraftvollen Persönlichkeit waren und tatsächlich Dinge beeinflussten.“

Stimmungen machen mit Musik, Perspektiven verändern, Grenzen überschreiten, den Horizont erweitern, Toleranz üben. Diese Leitmotive klingen immer mit, wenn Kronos auftritt. An Abenden wie diesem entsteht daraus mehr als die Summe der vielen Einzelteile. Man ging nicht nur klüger, als man kam, sondern auch bescheidener.

Aktuelle CDs „Landfall“ mit Laurie Anderson (Nonesuch), „Clouded Cellow“ (Cantaloupe).