Hamburg. Der New Yorker wird 2019 neuer NDR-Chefdirigent. Nun gibt er seine ersten Konzerte mit seinem Orchester in der Elbphilharmonie.

Das übliche Schaulaufen – ein Konzert, bei dem sich Kandidaten vorstellen oder den ersten Flirt-Eindruck verfestigen – war bei Alan Gilbert und dem NDR Elbphilharmonie Orchester nicht notwendig. Der Amerikaner war elf Jahre lang Erster Gastdirigent beim NDR. 2017 wurde er fast überfallartig zum Nachfolger von Thomas Hengelbrock ausgerufen. An diesem Freitag und Sonnabend leitet der Ex-Chef des New York Philharmonic seine ersten (ausverkauften) NDR-Konzerte nach vollzogener Berufung. Auf dem Programm: Mahlers Dritte, eines jener Stücke, mit denen Gilbert seine achtjährige Amtszeit im Lincoln Center begann.

Wie war die ­Probe eben, jetzt, wo Sie der Chef hier sind?

Alan Gilbert: Das hat Spaß gemacht. Was jetzt tatsächlich anders ist, kann ich wirklich nicht sagen. Wir haben ja auch erst diese eine Probe gehabt. Vieles fühlte sich sehr vertraut an, dieses Orchester habe ich ja nun wirklich schon so oft dirigiert. Aber eben noch nicht in diesem Saal, und viele Musiker sind für mich ebenfalls neu. Ich muss lernen, wie das Orchester hier funktioniert. Einiges ist offensichtlich nicht so einfach, das muss uns klar sein, aber ­andererseits: Wir haben direkt mit der Arbeit begonnen. Es gab keinen Subtext.

Warum wechselt man von New York nach Hamburg?

Gilbert: Meine Zeit dort war vorbei und der Punkt gekommen, um mich nach anderen Möglichkeiten umzusehen. Und dieses Orchester hatte ich immer im Blick, wir haben eine gemeinsame Geschichte.

Die erwartbarere Karriererichtung wäre entgegengesetzt gewesen.

Gilbert: Sagt wer? Aber: Nach einem Posten in New York, was wäre dann der naheliegende, logische nächste Fortschritt?

Der Cellist Yo-Yo Ma sagte Ihnen einmal: „Du musst nichts mehr beweisen, du warst Chef vom New York Phil, du kannst tun, was immer du möchtest.“ Was heißt das für Ihre Arbeit hier?

Gilbert: Ihre Fragen beinhalten die gängigen Vorstellungen, was wohl die normalen Erwartungen wären. Es geht um mehr, um Fragen wie: Gibt es nur eine Richtung im Leben? Ich denke, nicht. Ich glaube, man kann viele Wege gehen. Ich habe nach New York nicht ausdrücklich einen neuen Posten gesucht. Ich hatte dort eine gute Zeit, viel Erfolg … Als sich diese Möglichkeit abzeichnete, war das sehr spannend. Der Große Saal hat daran einen großen Anteil, aber natürlich auch der gute Draht zum NDR Orchester. Am Ende war es klar, ich hatte keine Wahl. Und mir gefiel die Vorstellung, dorthin zu gehen, wo es nicht mehr notwendig ist, Werbung für den Paradigmenwechsel zu machen, den Orchester im 21. Jahrhundert vollziehen müssen.

Die Situation hier ist ja wie ganzjährig Weihnachten: Sie könnten aufs Programm setzen, was Sie wollen – der Saal ist eh ­immer ausverkauft. Alles ganz einfach.

Gilbert: Wäre schön, wenn das so einfach wäre. Wir müssen schon realistisch bleiben. Es gibt diese Flitterwochenphase, aber bloß, weil jetzt alles ausverkauft ist, können wir uns nicht ewig darauf verlassen. Wir haben jetzt eine Chance: Es gibt Menschen, die wegen des Saals kommen. Und ich würde das nicht als falschen Grund bezeichnen, jeder Grund ist ein richtiger. Die Frage ist aber doch: Was bringt sie dazu, wiederkommen zu wollen? Wie bauen wir eine Beziehung mit dem Publikum auf?

Generalintendant Christoph Lieben-Seutter schätzte, 2019 sei das Jahr, in dem ­Konzerte im Großen Saal nicht mehr automatisch ausverkauft sein werden. 2019 ­fangen Sie hier beim NDR an …

Gilbert: … Perfektes Timing …

… Tja. Was bedeutet das für Ihre Planung?

Gilbert: Ich habe niemals gedacht: Ist doch egal, was wir spielen, sie kommen sowieso. Ein Programm muss für mich immer positiv inspiriert sein.

Alan Gilberts CD-Tipps

Dann geben Sie doch einmal Andeutungen, was von Ihnen zu erwarten ist.

Gilbert: Konkret will ich noch nicht werden, ­alles zu seiner Zeit, und die Standard-Antwort könnte heißen: Eine Balance aus akzeptierten Meisterwerken mit Neuem, junge Komponisten … Ja, so wird es auch sein. Aber ich möchte ­immer auch Geschichten erzählen. Und mit den Programmen auch erkunden, was ein ­Orchester ausmacht.

Okay, dann andersherum: Günter Wand wollte womöglich nicht für seine Bruckner-Interpretationen in ewiger Erinnerung ­behalten werden, es kam aber so. Wofür möchten Sie als NDR-Chefdirigent stehen?

Gilbert: In meinem Leben – und nicht nur hier – versuche ich, Musik dafür zu nutzen, dass Menschen sich einer grundlegenden Idee nähern; die sie erkennen lässt, was es bedeutet, menschlich zu sein. Musik zu machen ist für mich ein aufrichtiges Anliegen, eine Verpflichtung. Und auch wenn das jetzt leicht pathetisch klingt: Dafür ist es gar nicht so entscheidend, welches Stück man spielt.

Jeder ordentliche Chefdirigent gibt auf Autopilot Dinge von sich wie: Mein Orchester muss seinen Brahms können, seinen Beethoven; Bach kann nicht schaden, etwas Ahnung von Schostakowitsch auch nicht. Womit soll Ihr NDR-Orchester glänzen?

Gilbert: Gute Orchester müssen heutzutage sehr flexibel sein, es gibt unterschiedliche Stile für unterschiedliche Komponisten. Deswegen sollten sie rhythmische Flexibilität besitzen, es geht auch um die Frage, wie Zeit und Klang verbunden sind. Aber wir heben gerade ab.

In New York sind Sie an viele Spielorte ­abseits vom Lincoln Center gegangen. Wollen Sie in Hamburg in der Elbphilharmonie bleiben, oder gibt es NDR-Wandertage?

Gilbert: Beides. Ich wünschte, ich könnte schon konkreter werden. Unsere Identität geht über das Konzerthaus hinaus. Das Orchester ist viel mehr, als ein einzelnes Gebäude repräsentieren kann – selbst wenn es so großartig ist wie dieses. Wir sind Hamburgs Orchester für die Menschen dieser Stadt – und nicht nur eines, das zufällig hier ist…

Sagen Sie das Kent Nagano und den Philharmonikern, die das genauso sehen …

Gilbert: Nun ja: Glücklich die Stadt, die mehr als ein Orchester hat. Das ist ein Luxus. Ich respektiere Kent sehr, wir sprechen uns hoffentlich bald wieder.

Wann immer man mit Hamburger Konzertorchester-Chefdirigenten spricht und sagt: Wäre es nicht toll, auch mal Oper in der Staatsoper zu dirigieren …?

Gilbert: … eine Idee, die ich extrem interessant finde! Sie haben recht. Es wäre eine Win-win-win-Situation. Ich will niemandem seinen Platz wegnehmen. Wenn wir gewinnen, bedeutet das nicht, dass jemand anderes verliert. Leider denken nicht alle so.

Die „New York Times“ schrieb, Sie würden nicht „out of the box“ über Unkonventionelles nachdenken, sondern es vorziehen, auf eine „bigger box“ hinzuarbeiten.

Gilbert: Wenn ich Vorschläge gemacht habe wie: Lasst uns mit Licht arbeiten, mit dem Publikum sprechen, kam als Reaktion: Oh, toll, das ist out of the box. Das sollte aber nicht so gesehen werden; ich will, dass diese Konzepte zur neuen Normalität werden. Einmal haben wir Strawinskys „Petruschka“ gespielt, in einer Version, bei der die Musiker Kostüme und alberne Hüte trugen, es gab Live­videos, die Geigen tanzten herum. Ich ließ mich auch mal mit zusammengeknülltem Zeitungspapier bewerfen. ­Dazu sagt kein Orchestermusiker Nein. Am Anfang meines Jobs wäre so etwas niemals möglich gewesen, die Box ist im Laufe der Zeit größer geworden.

Ein sehr ambitioniertes Avantgarde-Angebot war Ihr „NY Phil Biennal“-Projekt …

Gilbert: Das wird leider eingestellt. Ich nannte es so, weil ich wollte, dass es uns zu Wiederholungen zwingt.

Dann morphen Sie es zukünftig ins ­Hamburger Musikfest?

Gilbert: Es ist jedenfalls eine der Ideen, über die ich hier mit meinen Partnern spreche. Die Welt braucht so etwas – eine Vernetzung zeitgenössischer Musik, eine ­Momentaufnahme dessen, was passiert, konsequent kuratiert.

100 Prozent reines Kassengift.

Gilbert: Kann schon sein. Aber ganz und gar den Aufwand wert.

Christoph Lieben-Seutter sagte über Sie: „Seine Ideen für ein Orchester im 21. Jahrhundert passen perfekt zur Elbphilharmonie.“ Irgendeine Ahnung, was er damit ­wohl gemeint haben könnte?

Gilbert: Nein.

Dann eine Idee, was es bedeuten könnte?

Gilbert: Ich glaube, ihn interessiert die Ausweitung des Konzepts, was ein Orchester leisten kann. Sie sind sehr „nützliche Werkzeuge“, das mag jetzt komisch klingen, sie können so viel mehr tun. Es geht auch um den Abschied von der Vorstellung, ein Orchester sei eine unpersönliche Masse hinter der unsichtbaren Wand einer Konzertbühne. Das muss man aufbrechen, die Mitglieder individualisieren, damit das Publikum sie als einzelne Menschen wahrnimmt, nicht nur als Teil dieser „Maschine“.

In dieser Hinsicht gab es kaum ein nütz­licheres „Werkzeug“ als die NDR-„Konzerte für Hamburg“, eine Idee Ihres Vorgängers. Werden Sie diese Reihe fortsetzen?

Gilbert: Wir haben schon darüber diskutiert. Es wäre schade, sie einfach so einzustellen. Noch weiß ich nicht, ob und wie es ­damit weitergehen wird. Ich sollte mal mit Thomas darüber sprechen.

Die Maestro-Gruppendynamik hier hat sich seit Ihrer Berufung geändert. Nun gibt es Sie, Kent Nagano bei den Philharmoniker und Sylvain Cambreling bei den Symphonikern. Wie fühlt sich das für Sie an – drei Dirigenten in einer Stadt, die alle, jeder auf seine Art, vor allem mit modernerer Musik in Verbindung gebracht werden?

Gilbert: Es ist, wie es ist. Am wichtigsten für ­jeden Musiker ist, aufrichtig in dem zu sein, was er tut.

Haben Sie Hengelbrock nach Ratschlägen zum Großen Saal gefragt, oder zum ­Orchester? Hat er welche gegeben?

Gilbert: Wir haben kurz darüber gesprochen, nach einem NDR-Konzert neulich in ­Paris. Aber ich mache meine eigenen ­Erfahrungen. Es gibt so viel zu beachten: die Positionierung der Instrumentengruppen, die Abstände zu den Wänden ... kleine, praktische Dinge.

Wie viel Zeit braucht es, damit ein Dirigent seine Amtszeit Ära kennen kann? Kleiner Tipp: Sie haben einen Fünfjahresvertrag.

Gilbert: So lang dauert es mindestens, womöglich länger. Einiges dieser Arbeit macht sich erst nach zwei, drei Jahren ­bezahlt. Ich mag diesen Fünfjahrezeitraum und hoffe, er wird länger.

Und von welchem Komponisten werden Sie hier garantiert nichts dirigieren?

Gilbert: Carl Orff.

Das Konzert am 6.4. sendet NDR Kultur live (20 Uhr). Es wird auf www.arte.tv gestreamt.