Hamburg. In seinem ersten großen Interview erklärt Hamburgs neuer Bürgermeister, was ihn von Olaf Scholz unterscheidet und welche Pläne er für die Stadt hat.

Am Mittwoch um 14 Uhr wurde Peter Tschentscher in der Bürgerschaft zum 14. Bürgermeister von Hamburg seit 1946 gewählt. In seinem ersten großen Interview als Senatschef erläutert der 52-Jährige seine Vorstellungen für die Stadt.

Glückwunsch, Herr Bürgermeister. Wie fühlt es sich an?

Peter Tschentscher: Sehr gut. Ich bin guter Dinge.

Rot-Grün hat 73 Stimmen, Sie haben aber nur 71 erhalten. Wie bewerten Sie das Wahlergebnis?

Tschentscher: Ich freue mich über jede der 71 Stimmen. Von einer Stimme mehr oder weniger hängt nicht der Regierungserfolg ab. Es gab schon Bürgermeister, die hatten drei Stimmen mehr und waren nicht lange im Amt. Und wir hatten auch schon den umgekehrten Fall. Es kommt jetzt darauf an, was wir die kommenden Wochen und Monate tun. Nach meinem Eindruck gibt es bei SPD und Grünen eine große Zustimmung zu der Neuaufstellung mit mir als Bürgermeister, Melanie Leonhard als Parteivorsitzender und Andreas Dressel als Finanzsenator.

Hat Olaf Scholz schon gratuliert?

Tschentscher: Ja, er war einer der Ersten. Aber auch Andrea Nahles, Stephan Weil aus Niedersachsen und viele andere. Auch die Bundeskanzlerin hat mir ihre Glückwünsche übermittelt.

Ab welchem Moment war die innere Bereitschaft da, Erster Bürgermeister zu werden?

Tschentscher: Als wir wussten, dass Herr Scholz geht. Dass es so kommen könnte, war vielen in der SPD schon länger bewusst. Je wahrscheinlicher dies wurde, desto mehr haben sich die, die für seine Nachfolge infrage kamen, überlegt, ob sie dazu bereit sind. Dafür war Zeit genug. Für mich war relativ bald klar: Ich habe die nötige Erfahrung und bin dazu bereit.

Wie lang war „relativ bald“? Eine Nacht drüber schlafen, ein Gespräch mit Ihrer Frau oder wie muss man sich das vorstellen?

Tschentscher: In erster Linie muss man das mit sich selbst ausmachen. Aber meine Frau war auch einverstanden. Ich wäre auch gern noch zwei Jahre Finanzsenator geblieben, dann hätte ich mit neun Amtsjahren selbst Herbert Weichmann überrundet. Aber die Variante, Bürgermeister zu werden und diese Stadt gestalten zu können, in der ich seit 30 Jahren politisch aktiv bin, hat mich doch gereizt.

Wann war Ihnen klar, dass Sie es werden?

Tschentscher: Am Donnerstagabend vor der Bekanntgabe der SPD-Minister in Berlin. Bis dahin wurden viele Gespräche geführt mit denjenigen, die für die Nachfolge von Olaf Scholz infrage kamen. Wir haben uns auf den Tag vorbereitet, an dem entschieden wird, dass er nach Berlin geht. Diese Klarheit hatten wir an diesem Donnerstagabend, dem 8. März.

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SPD-Fraktionschef Andreas Dressel galt in der Öffentlichkeit lange als Favorit, hat dann aber mit Rücksicht auf seine Familie verzichtet. Fühlen Sie sich jetzt als Bürgermeister zweiter Wahl?

Tschentscher: Nein. Auch Herr Dressel kam infrage und hat sich, wie wir alle, an die Verabredung gehalten, sich dazu nicht öffentlich zu äußern. Dass sich in den Medien dennoch alle auf diese Variante eingestellt hatten, lag nicht an uns. Als es dann anders entschieden war, entstand der Eindruck, wir müssten uns für unsere Entscheidungen rechtfertigen. Aber das empfinden wir nicht so. In kurzer Zeit wird das vermutlich niemanden mehr interessieren. Wichtig ist, was in den nächsten Monaten und Jahren passiert.

Worauf freuen Sie sich am meisten?

Tschentscher: Dass ich aus dem Ressort, das mich sieben Jahre lang auf den Bereich Haushalt und Finanzen begrenzt hat, heraustreten kann. Senatoren sind in der öffentlichen Darstellung stark an ihr Ressort gebunden. Dabei wird leicht übersehen, dass wir alle insgesamt an Politik inter­essiert sind und die Entscheidungen des Senats in allen Themen der Stadt gemeinsam treffen. Ich war als Fraktionsvorsitzender in der Bezirksversammlung Hamburg-Nord übrigens viele Jahre auch für alle Themen der Bezirkspolitik zuständig.

Wovor haben Sie am meisten Respekt?

Tschentscher: Dass es sehr hohe Erwartungen an das Bürgermeisteramt gibt. Die öffentliche Aufmerksamkeit ist viel höher. Das habe ich sofort gespürt. Kaum war ich nominiert, wurde ich am nächsten Tag beim Bäcker angesprochen: Sie sind doch unser neuer Bürgermeister! Ich war sieben Jahre lang Finanzsenator und mein Gesicht war wirklich oft in den Zeitungen. Aber in dem Moment wird einem klar: Das ist jetzt eine neue Situation. Die Leute interessieren sich sehr für die Person des Bürgermeisters, und sie erwarten, dass er sich um alle Probleme der Stadt kümmert.

Wie viel sind Sie denn bereit, von sich preiszugeben?

Tschentscher: Mehr als bisher. Aber das enge private Umfeld möchte ich schützen. Mein Eindruck ist, dass die Menschen gar nicht neugierig sind, wie es bei jemandem zu Hause aussieht, aber sie wollen wissen, wie der Bürgermeister so ist, der im Rathaus regiert. Journalisten fragen dann einfache Dinge wie: Trinken Sie lieber Rot- oder Weißwein?

Und?

Tschentscher: Rotwein.

Die Grünen leben nach dem Weggang von Olaf Scholz geradezu auf, fordern mehr Dialog auf Augenhöhe mit dem Ersten Bürgermeister. Hat es daran bislang gefehlt?

Tschentscher: Nein. Auch Olaf Scholz hat intern Rücksprache gehalten. Die Grünen wünschen sich einfach mehr offene Kommunikation. Ich bin gern auf deren Mitgliederversammlung gegangen, habe mich vorgestellt und diskutiert. Dialog auf Augenhöhe kommt nicht nur bei den Grünen gut an.

Sondern wo noch?

Tschentscher: Es gibt bei vielen den Wunsch nach mehr Mitsprache. Früher waren die Leute froh, dass sie überhaupt wählen durften. Doch das demokratische Bewusstsein hat sich weiterentwickelt, die Menschen mischen sich stärker ein. Ich glaube, sie erwarten gar nicht für jedes Problem sofort eine Lösung oder dass die Politik ihre Meinung eins zu eins übernimmt. Aber sie erwarten schon, dass ihre Sichtweise im Rathaus bekannt ist, wenn dort Entscheidungen getroffen werden.

Hatte Olaf Scholz da Defizite?

Tschentscher: Sie sollten daraus, dass ich ein paar Dinge anders machen möchte, keine Kritik an meinem Vorgänger oder der bisherigen Senatspolitik ableiten. Das wäre unglaubwürdig: Ich war immerhin sieben Jahre Mitglied dieses Senats.

Also war die Kritik der Grünen an Scholz unberechtigt?

Tschentscher: Nun ja. Selbst wenn er die Grünen in Regierungserklärungen nicht direkt erwähnt hat: Er hat auch in den vier Jahren SPD-Alleinregierung nicht vom „SPD-Senat“ gesprochen, sondern immer nur von „dem Senat“. Wir machen Politik nicht für Parteien, sondern für Hamburg.

Mit Verlaub. Olaf Scholz hat die Grünen als „Anbau“ bezeichnet, jetzt tanzen sie im Wohnzimmer.

Tschentscher: Nein. Der „grüne Anbau“, bezogen auf die Bildung der rot-grünen Koalition, das war doch ein passendes Bild. Ein „Anbau“ ist nichts Negatives. Für mich gilt: Es gibt nur einen Senat, und dessen Bilanz muss 2020 insgesamt vor den Wählern bestehen.

Seit Ihrer Nominierung wurde oft betont, wie ähnlich Sie Ihrem Vorgänger sind. Ist das für Sie ein Lob oder eher ein Bürde?

Tschentscher: Ein Lob. Ich halte Olaf Scholz für einen der besten Politiker Deutschlands. Aber auch wenn wir uns in der analytischen, vorausschauenden Denkart ähneln, gibt es doch Unterschiede in der Persönlichkeit.

Nämlich? Was werden Sie anders machen?

Tschentscher: Ich bin durch einen anderen beruflichen Hintergrund geprägt und werde mich daher auf eine andere Art mit den Themen befassen.

Also hier der distanzierte Jurist Olaf Scholz, dort der menschenzugewandte Arzt Peter Tschentscher.

Tschentscher: Ich habe jedenfalls einen anderen Zugang zu bestimmten Themen, und das wird man bei meiner Arbeit merken.

Wie konkret?

Tschentscher: Wir haben uns als Senat schon immer stark um junge Menschen und Familien gekümmert und das ist auch richtig: Gebührenfreiheit in den Kitas, Jugendberufsagenturen und Abschaffung der Studiengebühren. Wir haben uns für Jobs eingesetzt und dafür, dass die Menschen eine gute Arbeit haben. Aber irgendwann wird man eben älter. Und die ältere Generation soll auch gut leben können in Hamburg. Die Gesundheitssenatorin bewegt dort schon sehr viel. Ich habe mir vorgenommen, das noch sichtbarer zu einem eigen-
ständigen Thema zu machen. Dass wir gute Seniorenheime haben oder andere altengerechte Wohnformen, Barrierefreiheit im öffentlichen Raum, gute Pflege ...

Stichwort Wohnungsbau: Aus Ihrer Parteitagsrede konnte man schließen, dass auch 10.000 neue Wohnungen pro Jahr nicht reichen werden.

Tschentscher: Ja, das ist ehrgeizig. Wir haben mal mit 6000 Baugenehmigungen pro Jahr als Ziel angefangen, und schon das haben viele nicht für möglich gehalten. Letztes Jahr waren es dann 12.000. Aber irgendwann lässt sich das nicht mehr steigern. Wir nennen jetzt die Größenordnung „mehr als 10.000“. Wichtig dabei ist, dass der Anteil der Wohnungen mit günstigen Mieten steigt. Das wollen wir durch den Wohnungsbau der städtischen Saga erreichen und durch klassische Sozialwohnungen. Aber es gibt auch viele Menschen, deren Einkommen knapp über den Grenzen für eine geförderte Wohnung liegen und die sich trotzdem keine Neubaumiete von zwölf Euro pro Quadratmeter leisten können. Für diese Gruppe haben wir die Acht-Euro-Wohnungen entwickelt: Sie werden zwar nicht staatlich gefördert, aber wir stellen die Grundstücke günstiger zur Verfügung und ermöglichen kosteneffizientes Bauen.

Sie haben kürzlich auf die 300.000 Ein-Pendler verwiesen, für die es doch viel günstiger wäre, in der Stadt zu wohnen. Wollen Sie die alle nach Hamburg holen?

Tschentscher: Nicht alle, aber einen Teil. Etliche sind ja nur nach Norderstedt oder Lüneburg gezogen, weil sie für sich und ihre Familien in Hamburg keine geeignete Wohnsituation gefunden haben. Also pendeln sie ein und aus. Das verursacht Lärm, Luftverschmutzung und Staus. Wenn wir diesen Menschen Wohnraum in Hamburg bieten könnten, würde das viele Probleme lösen – mal ganz abgesehen davon, dass es sich auch finanziell positiv auswirken würde. Wir geben jedes Jahr von der in Hamburg erhobenen Einkommensteuer zwei Milliarden Euro ab, weil die Menschen zwar bei uns arbeiten, aber nicht hier wohnen.

Hamburgs Bürgermeister seit 1945

Wir haben jetzt schon eine Volksinitiative gegen Flächenfraß und Naturzerstörung. Die wird sich freuen.

Tschentscher: Wir sind noch gut dran. Berlin ist ungefähr so groß wie Hamburg, hat aber doppelt so viele Einwohner. Auch Frankfurt oder München sind viel dichter besiedelt. In Hamburg ist Wachstum noch möglich. Das muss nicht immer schneller, höher, weiter bedeuten – aber manchmal eben doch. Zum Beispiel am Barmbeker Bahnhof. Dort treffen zwei U-Bahnen, eine S-Bahn und diverse Buslinien aufeinander. In solchen gut erschlossenen Lagen muss man auch mal in die Höhe gehen, um nicht anderswo neue Flächen zu versiegeln. Und wenn es dann doch nötig ist, schaffen wir durch den Naturcent einen Ausgleich an anderer Stelle.

Zwei Millionen Einwohner sind also eher Verheißung als Bedrohung?

Tschentscher: Irgendwann ist natürlich Schluss. Aber wir haben noch Möglichkeiten.

Olaf Scholz hat ja einmal gesagt, mit ihm werde es keine Fahrverbote geben. Den Satz würden Sie nicht wiederholen, oder?

Tschentscher: Es gibt an wenigen Stellen Durchfahrbeschränkungen. An den härtesten Stellen ist es aufgrund von Vorgaben, die von außen kommen, erforderlich, diese Maßnahme zu machen. Aber sie sind begrenzt auf Dieselfahrzeuge der schlechteren Kategorie. Und ich bin sicher, dass viele Leute gerne vom Auto umsteigen und den Straßenraum entlasten werden, wenn wir zum Beispiel die neue U 5 fertig gebaut haben.

Aber die Umwelthilfe, die ja gegen viele Städte wegen der Luftbelastung geklagt hat, wird nicht bis zur Fertigstellung der U 5 im Jahr 2030 warten.

Tschentscher: Nein, aber wir tun ja vorher schon viel zur Verbesserung der Luftqualität. Von 2020 an werden wir nur noch emissionsfreie Busse beschaffen. Ich bin fasziniert davon, was alles technisch möglich ist. Wir haben eine effiziente, wirtschaftlich stark aufgestellte Hochbahn, die sich das vorgenommen hat. Das wird wieder ein Vorbild in Deutschland sein. Ich sage aus Überzeugung: Wir haben die besten Tage noch vor uns.

Ist Hamburg eine sozial gespaltene Stadt?

Tschentscher: Nein. Das war sie nie. Wir haben schon immer wirtschaftliche Kraft und soziale Verantwortung verbunden. Aber es gibt Probleme für diejenigen, die in Branchen mit sehr niedrigen Löhnen arbeiten. Da müssen wir ansetzen und haben das in der Vergangenheit getan: Wir haben als erstes Bundesland den gesetzlichen Mindestlohn für den öffentlichen Sektor eingeführt und die Leiharbeit begrenzt. Wir müssen jetzt wieder einen Schritt vorangehen, indem wir mit den Gewerkschaften Tarifverträge schließen, mit denen am Ende jeder in den öffentlichen Unternehmen auf einen Mindestlohn von zwölf Euro pro Stunde kommt.

Für welche Berufsgruppen gilt das?

Tschentscher: Zum Beispiel für Gebäudereiniger oder Bodenverkehrsdienste – das sind ja Bereiche, die gar nicht unter dem internationalen Konkurrenzdruck stehen, weil man sie gar nicht ins Ausland verlagern kann. Deswegen sollte es möglich sein, dass wir schrittweise die zwölf Euro erreichen in einer Stadt mit so hoher Wertschöpfung. Wer ein Leben lang für diesen Lohn arbeitet, darf am Ende nicht auf das Sozialamt angewiesen sein.

Wie schnell kann das gehen?

Tschentscher: Das wird nur schrittweise gehen. Wir beginnen jetzt mit den Gesprächen mit den Gewerkschaften.

Die werden nichts dagegen haben.

Tschentscher: Nein, aber wir müssen das mit unseren öffentlichen Unternehmen hinbekommen. Ich meine, dass sie die wirtschaftliche Kraft haben, das zu machen. Das ist ein lösbares Problem. Wenn wir das geschafft haben, dann sind wir einmal mehr Vorreiter in Deutschland.

Die soziale Spaltung verläuft ja auch regional. Die Unterschiede zwischen Blankenese und Billstedt oder Harvestehude und Harburg sind riesig.

Tschentscher: Das ist so, und deswegen ist unser Ansatz, dass Sozialwohnungen oder Wohnungen mit niedrigen Mieten auch etwa in der HafenCity entstehen. Das kostet Geld, weil wir für ein städtisches Grundstück, auf dem Wohnungen mit Mietpreisbindung entstehen, niedrigere Preise bekommen. Wir wollen den sogenannten Drittel-Mix, also durchschnittlich ein Drittel Sozialbindung bei Neubauprojekten. Wir wollen die Stadt nicht in Arm und Reich unterteilen.

Aber das ist sie doch schon.

Tschentscher: Unser Ansatz ist es aber, diese Tendenzen nicht noch zu verschärfen, sondern ihnen entgegenzuwirken. Uns geht es um eine ganzheitliche Stadtentwicklung: Das Prinzip – da wohnen die Reichen, da die Armen, da wird gearbeitet und da gewohnt, da ist es laut und da ist es schön grün – ist nicht das richtige Konzept. Die Stadt soll hohe Lebensqualität für alle bieten.

Eine Volksinitiative fordert eine bessere personelle Ausstattung der Kitas. Bislang lehnt der Senat das ab. Kann es sein, dass das Problem jetzt mit mehr Geld aus dem Bundeshaushalt gelöst wird?

Tschentscher: Richtig ist, dass wir für das, was wir ohnehin vorhaben, zusätzliches Geld benötigen. Aber: Der Kita-Bereich entwickelt sich auch aufgrund gestiegener Bevölkerungszahlen rasant. Schon in den nächsten Jahren werden die Ausgaben dafür eine Milliarde Euro pro Jahr erreichen. Wir finden schon jetzt nicht so viele Erzieherinnen und Erzieher wie wir brauchen. Deswegen ist es nicht realistisch, den Betreuungsschlüssel jetzt noch schneller zu verbessern. Wir müssen auf Machbarkeit achten.

Wenn es keine Einigung mit der Initiative gibt, bleibt nur der Gang zum Verfassungsgericht, oder?

Tschentscher: Im Fall der Kita-Initiative ist das noch nicht entschieden. Vielleicht können wir uns auf etwas Vernünftiges einigen. Aber manchmal gibt es Forderungen, bei denen ich sage: Das geht nicht. Ein kostenloser öffentlicher Nahverkehr klingt ja toll, aber ich möchte die Großstadt sehen, die das mal eben finanziell stemmen kann. Ich fühle mich verpflichtet, auf Realitätssinn und Vernunft zu setzen. Und unsere Gesetze sehen vor, dass wir Forderungen vom Verfassungsgericht überprüfen lassen, wenn wir Zweifel an der Finanzierbarkeit haben.

Das Erzbistum will bis zu acht katholische Schulen schließen, obwohl die Schülerzahl insgesamt steigt. Was kann der Staat da tun?

Tschentscher: Erst einmal finde ich es bemerkenswert, dass die katholischen Gemeinden eine sehr engagierte Diskussion darüber führen und viele Annahmen infrage stellen. Das Zweite ist, was wir für Privatschulen tun können. Wir sind bundesweit Spitze. Kein anderes Bundesland gibt so viel aus für den Privatschulsektor. Das finde ich auch in Ordnung. Was die katholischen Schulen über den reinen Unterricht hinaus vermitteln, finde ich gut. Diese Schulen haben eine wichtige Aufgabe in der Stadt.

Was halten Sie von der Idee, eine Schulgenossenschaft zum Erhalt aller katholischen Schulen zu gründen?

Tschentscher: Ich finde die Idee charmant. Ich hoffe, dass es zu einer Lösung kommt. Ob wir als Stadt etwas dazu beitragen können, muss man sehen.

Die Grünen-Senatoren Jens Kerstan und Katharina Fegebank unterstützen die Volksinitiative „Tschüs Kohle“, die zum Ziel das Abschalten des Kohlekraftwerks Moorburg hat. Ist das ein Affront für Sie?

Tschentscher: Nein, aber man muss ja sagen, wer das Kraftwerk genehmigt hat. Das war der damalige Senat mit grüner Beteiligung. Vattenfall hatte seinerzeit einen Anspruch auf die Genehmigung. In der Wirtschaft geht es immer um Planungssicherheit. Und es gibt eine Betriebserlaubnis für dieses Kraftwerk. Andererseits ist Kohle nicht die Energieform, die wir uns für die Zukunft wünschen. Wir brauchen regenerative Energien. Den industriellen Bedarf können wir bislang nicht darüber decken. Da bedarf es noch weiterer Schritte.

Könnten Sie denn den Aufruf der Volksinitiative auch unterschreiben?

Tschentscher: Volksinitiativen sollen vom Volk kommen. Meine Aufgabe ist es jetzt, die Dinge aus der Bürgermeistersicht zu sehen.

Wir verstehen das als Kritik an Ihren grünen Senatskollegen.

Tschentscher: Nein. Ich erkläre das für mich. Alle Gespräche mit den Grünen in den vergangenen Wochen waren sehr einvernehmlich. Wenn man regiert, muss man die Realität im Blick haben. Trotzdem darf man Ideale haben und sich eine Energieversorgung ohne Kohle wünschen.


Kommentar: Tschentscher und Lindner

Die Grünen fordern eine klare Distanzierung der rot-grünen Koalition von dem ­G-20-Gipfel. Werden Sie dem nachgeben?

Tschentscher: Bei aller Kritik und Verunsicherung: Nach allem, was wir jetzt wissen, hat es keine vorhersehbar falschen Entscheidungen gegeben. Das Ausmaß der Gewalt hat niemand erwartet. Es wird jetzt konsequent ermittelt. Die Polizei hat zum ersten Mal auch im Nachhinein viele Täter gefasst, die teilweise zu Recht hart verurteilt wurden.

Die Grünen wollen solche Veranstaltungen nicht mehr in der Stadt haben. Sie schließen das aber nicht aus?

Tschentscher: Wir sind eine internationale Stadt und können uns nicht von Gewalttätern vorschreiben lassen, welche Veranstaltungen wir durchführen. Aber wir werden die Erfahrungen und Erkenntnisse vom G-20-Gipfel bei allen künftigen Entscheidungen beachten.

Welche Zukunft hat die Rote Flora?

Tschentscher: Da muss sich etwas ändern. Aber diejenigen, die jetzt flott eine Räumung fordern, haben selbst viele Jahre nichts unternommen, als sie im Senat Verantwortung hatten.

Sie sind Arzt – inwieweit ist das eine gute Voraussetzung für Ihr neues Amt?

Tschentscher: Ich glaube, es ist eine gute Voraussetzung. Der berühmte Arzt und Politiker Rudolf Virchow hat gesagt: „Politik ist nichts anderes als Medizin im Großen.“ Er hat den Zusammenhang zwischen Gesundheit und den Lebensumständen, den sozialen Bedingungen beschrieben. Die ärztliche Tugend lautet: zunächst untersuchen, dann einen Befund erheben und die Diagnose stellen. Erst zum Schluss wird die Therapie festgelegt. Das halte ich für übertragbar. In der Politik werden oft Maßnahmen gefordert, bevor die Ursachen eines Pro­blems geklärt sind.

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