Hamburg. Ein Bremer wird Hamburger Bürgermeister. Der Entscheidung für Tschentscher war eine lange Nacht vorausgegangen. Aufstieg für Pein?

Es war ein Geheimtreffen, aber es fand an einem der sichtbarsten Orte der Stadt statt: im Rathaus. Gegen 19 Uhr rollte eine schwarze Limousine nach der anderen auf den Senatsparkplatz am Alten Wall. Manch einer kam auch mit der Aktentasche unter dem Arm zu Fuß.

Die inoffizielle Runde, die die wichtigsten und einflussreichsten Sozialdemokraten im Stadtstaat zusammen­führte, hatte unter großem Zeitdruck Wichtiges zu besprechen: Wer soll Nachfolger oder Nachfolgerin von Olaf Scholz im Amt des Bürgermeisters werden? Einige der Zimmer auf der Senatsseite und das Eckbüro des Bürgermeisters waren hell erleuchtet. Es wurde ein langes Ringen um die richtige Personalentscheidung, aber auch die künftige Senatslinie nach dem Abgang des großen Zampano Scholz. In den vergangenen Jahren, die Scholz in Partei und Senat dominierte, hat es solch offene Diskussionsprozesse kaum mehr gegeben. Die Fahrer der Dienstwagen mussten lange warten, bis sie die ihnen Anvertrauten nach Hause fahren konnten.

Sozialsenatorin sagte ihren Urlaub ab

Ein abgekämpfter Olaf Scholz war kurz zuvor aus Berlin nach Hamburg gekommen, um als Landesvorsitzender an dem Treffen teilzunehmen. Und doch: Scholz hat sich auch unter dem Druck seiner Berliner Aufgaben als kommissarischer SPD-Chef in den vergangenen Wochen immer weiter von seinen Hamburger Aufgaben entfernt.

Asket und Zahlenmensch: So tickt Peter Tschentscher

Intern hatte längst Vize-Parteichefin Melanie Leonhard Koordination und Moderation des schwierigen Nachfolgeprozesses übernommen. Sie hatte sogar einen geplanten Urlaub abgesagt, um sich auf diese Aufgabe zu konzentrieren. Ein Problem lag darin, dass die Hamburger SPD erst die Entscheidung der SPD-Mitglieder über die Große Koalition abwarten wollte, um keine Nachfolgedebatte aufkommen zu lassen, wenn Scholz doch plötzlich in Hamburg bleiben würde. Es gelang Leonhard, die Genossen darauf einzuschwören, gemeinsam und solidarisch zu schweigen.

Leonhard verzichete für ihren Sohn

Obwohl Scholz also scheinbar in eine eher ungewohnte Nebenrolle rutschte, hatte sich Leonhard stets eng mit ihm abgestimmt. Schon vor Wochen hatte der Noch-Bürgermeister versucht, Leonhard zu überzeugen, als erste Frau in der jahrhundertelangen Geschichte des Stadtstaats an die Spitze des Senats zu rücken. Doch die Historikerin hatte intern sehr schnell deutlich gemacht, dass sie aus familiären Gründen nicht die enorme zeitliche, psychische und physische Belastung in Kauf nehmen möchte. Leonhard hatte mit Blick auf ihren zwei Jahre alten Sohn lange gezögert, das Senatorenamt zu übernehmen.

Früher hätte Scholz zu Beginn eines solchen informellen Treffens einen Vorschlag gemacht, der dann nach der Diskussion auch angenommen worden wäre. Diesmal war die Ausgangslage völlig offen. Jetzt erläuterte Leonhard zu Beginn noch einmal die Gründe, die für sie ausschlaggebend sind, ihren Hut nicht in den Ring zu werfen.

Auch Dressel zieht die Familie vor

Dann war Bürgerschafts-Fraktionschef Andreas Dressel an der Reihe. Er hatte lange als der Favorit gegolten. Doch auch Dressel erklärte, dass er für die Scholz-Nachfolge nicht zur Verfügung stünde. Das hatte sich bereits vor einigen Tagen abgezeichnet. Dressel ist Familienvater und hat sogar drei kleine Kinder, seine Frau arbeitet als Richterin. Hinzu kommen weitere familiäre Belastungen.

Selbstverständlich stand die Rathaus-Runde auch unter dem Eindruck der jüngsten Meinungsumfrage, die die SPD in Hamburg nur noch bei 28 Prozent sieht – ein Allzeit-Tiefstand. Der Schock über diese demoskopische Talfahrt, die wohl vor allem auf das Chaos und die Gewaltausbrüche rund um den G-20-Gipfel zurückzuführen sind, dürfte auch bei Dressel nicht die Neigung erhöht haben, den Bürgermeister-Rucksack zu schultern.

Schließlich wären nicht alle Senatsmitglieder über die Maßen erfreut gewesen, wenn Dressel an die Spitze gerückt wäre. Der Fraktionschef hatte das eine oder andere Mal in die Kompetenzen der Behördenchefs eingegriffen – zum Beispiel in der Flüchtlingskrise –, was selbstverständlich nicht gut ankam. Nicht ganz frei von Friktionen war auch das Verhältnis zwischen Scholz und Dressel zuletzt gewesen, obwohl der Fraktionschef dem Bürgermeister über viele Jahre den Rücken freigehalten und ihm die erforderlichen Mehrheiten in der Bürgerschaft verschafft hatte.

Wer Bürgermeister werden will, muss das Amt wollen

Grundsätzlich gilt jedoch: Wer Bürgermeister werden will, muss das Amt auch wollen. Der Senatschef oder die Senatschefin ist in der Öffentlichkeit und in den Medien so stark präsent, dass eine innere Reserve sofort auffallen würde. Parteifreunde hatten immer wieder gesagt, Dressel könnte der Senatschef werden, nur müsse er eben auch zugreifen und das Amt mit allen Fasern wollen. Die Selbstprüfung des Juristen fiel – unter Abwägung aller Umstände – offensichtlich anders aus.

Und so blickten alle Teilnehmer der Runde irgendwann in Richtung von Finanzsenator Peter Tschentscher, Vorsitzender des SPD-Kreisverbands Hamburg-Nord. Tschentscher ist über die vergangenen sieben Jahre ein ebenso enger wie zurückhaltender Weggefährte von Scholz gewesen. Der in Bremen geborene Arzt ist als Finanzsenator ein politischer Allrounder und kennt den Regierungsbetrieb quer durch alle Behörden und Ämter in- und auswendig. Aber Tschentscher ist auch unauffällig und bislang jenseits seines Fachressort nicht durch Wortmeldungen aufgefallen.

Tschentscher ähnelt Scholz

„Ich bin bereit. Und ich traue mir das auch zu“, sagte der Finanzsenator die für viele erlösenden Sätze und war damit der Einzige unter den SPD-Granden, der die Nachfolge von Scholz im Rathaus auch wirklich antreten wollte. Tschentscher ähnelt Scholz auch vom eher sparsamen Temperament und steht für einen Kurs der Kontinuität in der Senatspolitik. Das war den Teilnehmern offensichtlich sehr wichtig.

Leitartikel: Tschentscher ist der zweite Scholz

Leonhard hat sich durch ihre Aktivitäten während der vergangenen Wochen zusätzliches Renommee in der Führungsriege erworben, sodass in der Runde sehr schnell klar war, dass sie Scholz als Parteichefin nachfolgen solle. Doch auch für Tschentscher fand die Runde schon einen Nachfolger: Dressel, obwohl kein ausgewiesener Finanzexperte, soll die Finanzbehörde am Gänsemarkt übernehmen.

Der Eimsbütteler SPD-Kreischef Milan Pein
Der Eimsbütteler SPD-Kreischef Milan Pein © dpa | Axel Heimken

Einmal in Fahrt, entwickelte die Runde auch noch einen Vorschlag für die Nachfolge von Dressel als Fraktionschef. Den Scharnierposten soll der Eimsbütteler SPD-Kreischef Milan Pein übernehmen. Da hat allerdings die Fraktion klar das letzte Wort.