Hamburg. Die deutschsprachige Erstaufführung des Einpersonenstücks „Marias Testament“ an den Kammerspielen ist ein Theaterereignis.

Der Sohn ist seiner Mutter fremd geworden. In einer Endzeitsekte wird er als Erlöser gefeiert, man hört von Wundern oder Taschenspielertricks, je nachdem. Jedenfalls ist der Sohn jetzt tot, und seine Jünger belagern die Mutter: Sie soll das Leben des Heilands bezeugen und so eine Weltreligion begründen. „Was aufgeschrieben ist, sagen sie, wird die Welt verändern.“ Die Mutter aber weigert sich: Ihr sind die Gläubigen zuwider, und überhaupt spürt sie jetzt schon, wie das Leben ihres Sohnes verklärt wird, das Leben des Spinners, des Menschenfischers.

Der Roman „Marias Testament“ des irischen Autors Colm Tóibín ist eine negative Theologie: Sie geht aus von der Frage, was wäre, wenn Jesus nicht erst durch den Tod am Kreuz zum Mensch geworden wäre, sondern immer schon menschlich gewesen sei? Weil er nämlich nicht der Sohn Gottes war, sondern der Sohn des Schreiners Joseph und seiner Frau Maria, ein ganz normaler, etwas wirrer junger Mann, der falsche Freunde hatte und irgendwann selbst glaubte, dass er etwas Besonderes sei?

Zurückhaltend inszeniert

Und was, wenn Maria kurz vor ihrem Tod noch versuchen würde, das Ganze wieder geradezurücken? Hier baut Tóibín eine kleine Fußangel ein – man weiß ja, dass Maria gescheitert ist, man weiß, dass es diese Klarstellung nicht gab. Man kennt das Neue Testament, und man ist sich darüber im Klaren, dass Milliarden Menschen an dessen Botschaft glauben.

2011 wurde „Marias Testament“ als Einpersonenstück in Dublin uraufgeführt, die deutschsprachige Erstaufführung in den Hamburger Kammerspielen hat Regisseur Elmar Goerden mit Theaterlegende Nicole Heesters zurückhaltend inszeniert: Heesters’ Maria ist festgesetzt in einer Art Küche, und bevor die Jünger in einer weiteren Befragungsrunde mit sanftem Druck Erbauliches von ihr erfahren wollen, legt sie selbst Zeugnis ab, schonungslos gegen sich und gegen andere.

Maria ist verbittert und kalt

Diese Maria ist verbittert und kalt, aber sie ist auch stark, sie ist nüchtern und klar, und wird umso schmerzhafter von der Trauer überwältigt, wenn sie realisiert, wie grausig ihr Sohn gestorben ist, ihr Sohn, den sie schon lange zuvor verloren hat. Die 81-jährige Heesters spielt diese Figur mit mühsam zurückgehaltener Energie, ein nervöses Zucken im Fuß muss reichen, um anzudeuten, wie viel in ihr brodelt, ein drohendes Heben der Stimme, um zu zeigen, dass mit ihr nicht zu spaßen ist. Und immer wieder ein Innehalten, ein Zögern und Zaudern: Hier sieht jemand, dass es nicht mehr weitergeht.

Die Qualität des Abends versteckt sich in diesen Verzögerungen: Da steht Heesters an der Bühnenrampe und verstummt mitten im Satz. Ein flehender Blick ins Publikum, eine bebende Lippe – natürlich könnte man hier annehmen, dass die Schauspielerin schlicht ihren Text vergessen hat. Oder man sieht eine Figur, die keine Worte mehr findet, angesichts des Geschehens. Dass diese zwei Erklärungen bis zum Ende in der Schwebe bleiben, zeigt, auf welchem Niveau hier gespielt wird, es ist aber auch ein Hinweis darauf, was für eine kluge Entscheidung es war, Heesters als Maria zu besetzen, jenseits der Prominenz der Nestroy-Preisträgerin.

Wie aus der Zeit gefallen

Regisseur Goerden scheiterte vor acht Jahren beinahe geräuschlos als Intendant des Bochumer Schauspielhauses. Nicht, weil sein Theater Qualitätspro­bleme gehabt hätte, sondern weil Goerden für ein Theater steht, das wie aus der Zeit gefallen wirkt: ein Theater, das die psychologische Motivation seiner Figuren ernst nimmt, ein Theater, das die Protagonisten bis tief ins Innere ausleuchtet, um so seelische Abgründe aufzudecken. So etwas passt nicht in eine mit postdramatischer Ironie abgehärtete Welt, aber es passt für ein Stück wie „Marias Testament“, ein Stück, das es sich nicht einfach macht und das Maria auch nicht als strahlende Heldin vom Platz gehen lässt.

„Schon in meiner Jugend habe ich Hochzeiten gehasst“, giftet sie. „Diese Verschwendung von Essen und Wein! Diese lautstarke Verkündung von Frohsinn und Trunkenheit!“ Maria mag klar sehen, wirklich sympathisch wird sie durch diese Klarsicht nicht. Diese Maria ist auch: eine rechthaberische, verbohrte alte Frau. Weil Goerden diese unsympathischen Züge akzeptiert, und weil Heesters diese Züge spielen kann, ist dieser kleine, große Abend vor allem eines: zutiefst menschlich, in all seiner Widersprüchlichkeit.

„Marias Testament“ wieder am 28.2.,
1.–3.3., 8.–11.3., 30./31.3., Kammerspiele,
Karten u. a. in der Abendblatt-Geschäftsstelle
(Großer Burstah 18–32) und T. 30 30 98 98