Hamburg. Der Bertini-Preis erinnert an den großen Publizisten, dessen private Bibliothek erstmals öffentlich zugänglich sein wird.

Behutsam streicht Bibliothekarin Carola Kieras über ein paar Buchrücken. Dann breitet sie die Arme aus und lächelt. „Wir sind sehr froh über diese Sammlung. Es ist eine Ehre, dass sie hier bei uns angekommen ist.“ Das Fenster in Kieras’ Rücken gibt die Aussicht frei auf einige vom Regen durchtränkte Wiesen und ein kleines Waldstück. Die Idylle scheint perfekt – Studierstube mit norddeutschem Landschaftsblick, was will man mehr. Doch der unscheinbarere Raum liegt im offenen Archiv der KZ-Gedenkstätte Neuengamme, einem Ort also, der die Seele nicht zu vergnügten Höhenflügen anspornt, sondern Nachdenklichkeit einfordert.

Es ist ein Nachdenken auch über Ralph Giordano, dessen Bücherschatz hier einen Hafen gefunden hat. 3300 Bände, die komplette Privatsammlung des 2014 verstorbenen Publizisten steht in den Regalen – frisch erfasst und sortiert. Am 16. Februar wird die neue Ralph-Giordano-Bibliothek mit einem Festakt eröffnet, danach ist sie als Präsenzbibliothek für alle zugänglich. Das frische Namensschild hängt schon neben der Tür, der Raum selbst wirkt luftig, modern, angenehm unprätentiös.

Auch viele Biografien von NS-Opfern sind dabei

Gleich am Eingang stehen Giordanos eigene Veröffentlichungen, darunter das Buch, das den Ruhm des gebürtigen Barmbekers, Jahrgang 1923, begründete: „Die Bertinis“. Etliche Ausgaben sind hier versammelt – auch die Übersetzungen ins Dänische und Schwedische. Wie die gleichnamige jüdische Familie Ausgrenzung und Verfolgung durch die Nationalsozialisten durchstand und in einem Kellerversteck in Alsterdorf bis zur Befreiung überlebte, hat Giordano in dem 1982 erschienenen Schlüsselroman beschrieben – und damit seine eigene Geschichte erzählt. Der Bertini-Preis für Zivilcourage, der am Sonnabend im Ernst-Deutsch-Theater zum 20. Mal verliehen wird, erinnert an Autor und Werk.

Vor den Nazis versteckt, von den Briten befreit

Da nichts aussortiert wurde, entsteht vor den Besuchern ein rundes, unverfälschtes Bild von Giordanos Lese­gewohnheiten und Interessengebieten. Rund 75 Prozent der Bücher beschäftigen sich mit geschichtlichen und gesellschaftspolitischen Themen: Nationalsozialismus und Widerstand, der Umgang mit der NS-Vergangenheit nach 1945 und Rechtsextremismus. Viele Biografien von NS-Opfern sind dabei. Ein Titel springt ins Auge, der auf faszinierende Weise genau zum Standort passt: „Als Letztes starb die Hoffnung“, Berichte Überlebender aus Neuengamme. Nach Themenschwerpunkten geordnet, finden sich auch Reiseführer, Kochbücher, Werke von Thomas Mann.

Ein Kreis geschlossen

Etliche Bücher beschäftigen sich mit Israel und dem Judentum, aber auch mit Religion im Allgemeinen. Historisches über die DDR steht da und auch über die Türkei. Immer wieder sind klar die Arbeitsschwerpunkte des einstigen Eigners zu erkennen. Viel früher als andere und mit viel zu wenig Resonanz – das als Beispiel – hatte Ralph Giordano über den Völkermord an den Armeniern berichtet. Was komplett fehlt, sind zeitgenössische Bücher aus den Jahren vor 1945. Alle Werke zur NS-Zeit entstanden erst danach und reflektieren über diese Zeit. Es wirkt fast so, als habe Giordano zeit­lichen Abstand zu diesem Themen­komplex gebraucht.

Für viele, die Ralph Giordano kannten und schätzten, hat sich mit der Überführung seiner Bücher nach Hamburg ein Kreis geschlossen – zumindest beinahe. Denn Giordanos Grab befindet sich nicht in seiner Geburtsstadt, sondern auf einem Friedhof in Köln, wo er viele Jahrzehnte gewohnt hat. Dass das nicht so bleibt, ist der Wunsch seiner letzten Lebensgefährtin Elli Jakob.

Viel Ärger in Kauf genommen

Viel Energie hat die aparte Frau schon investiert, um eine Umbettung zu erreichen, viel Ärger auch in Kauf genommen – so viel, dass sie zurzeit nicht einmal fotografiert werden möchte. Ihr Hauptmotiv: Auf einem jüdischen Friedhof wäre die Grabstelle nicht von Auflösung bedroht, Giordanos Grab bliebe ewig erhalten. Seit drei Jahren liefert sich Jakob darüber eine erbitterte Auseinandersetzung mit dem Sohn von Giordanos dritter Ehefrau Roswitha, neben der der jüdische Publizist bestattet wurde.

Bei der Gedenkfeier für Giordano im Ernst-Deutsch-Theater im Januar 2015 hatte Landesrabbiner Shlomo Bistritzky bedauert, dass Giordano nicht auf einem jüdischen Friedhof in Hamburg bestattet sei. Obwohl bekennender Atheist habe der sich immer mit dem Judentum verbunden gefühlt und sei stolz auf seine Verbundenheit mit dem Judentum gewesen. Genau so sieht es auch Elli Jakob – und kämpft dafür. „Ralph gehört nach Hamburg“, sagt sie entschlossen, „weil er ein Hamburger Jung war und immer einer geblieben ist.“

Muslimischen Funktionären misstraute er

Statt lange über das Für und Wider der Umbettung zu diskutieren, sagt Jakob Dinge wie: „Ich weiß einfach, dass etwas nicht so bleiben muss, wenn es falsch ist, das hat Ralph mich gelehrt.“ Eine Anekdote fällt ihr ein: „Ralph hat immer gesagt: ,Ich kann aus einem Kölner einen Hamburger machen, aber nicht umgekehrt.‘ Das sagt doch alles.“ Jakob war es auch, die Giordanos Bibliothek zusammenhielt und sicherte, der neue Standort war ihre Idee. „Diese Bücher sind sein Ich, seine Persönlichkeit. Sie gehören an einen Platz, wo Menschen verantwortungsvoll damit umgehen.“

30 Jahre ist es in diesem Jahr her, dass Giordano seine Streitschrift „Die zweite Schuld oder von der Last Deutscher zu sein“ veröffentlichte. In dem Buch beklagte er Scheinheiligkeit und Unvollständigkeit deutscher Vergangenheitsbewältigung. „Jede zweite Schuld setzt eine erste voraus – hier: die Schuld der Deutschen unter Hitler. Die zweite Schuld: die Verdrängung und Verleugnung der ersten nach 1945“, so der Autor.Doch seitdem ist viel geschehen – auch an Aufarbeitung, zu der Giordano stets leidenschaftlich beigetragen hat. „Deutschland ist die Liebe meines Alters“, bekannte er in seinem letzten Interview im März 2013 mit dem „Kölner Stadtanzeiger“ und auch: „Ich durfte immer sagen und schreiben, was ich wollte. Wer kann das in wie vielen Ländern dieser Erde von sich sagen?“

Zu unabhängig war sein Geist

Gegen Rechtsradikale hat Giordano, der sich einen „Freiheitsfanatiker“ nannte, bis zuletzt gekämpft, aber er ließ sich auch nicht ohne Wenn und Aber von links vereinnahmen. Seine entschlossene Islam-Kritik und sein Engagement gegen den Bau der großen Moschee­ in Köln-Ehrenfeld passten nicht allen und wurde in zahlreichen Würdigungen zu seinem 90. Geburtstag und auch in einigen Nachrufen lieber verschwiegen. Mit vielen Freunden habe er sich deshalb überworfen, schrieb der „Spiegel“ posthum, doch was sind das für „Freunde“, die solche Diskurse nicht aushalten können? Giordano blieb auch in diesem Punkt streitbar, nannte Grünen-Politiker „Multikulti-Illusionisten“ und „Beschwichtigungs-Apostel“ und bekannte noch kurz vor seinem Tod, muslimischen Funktionären zutiefst zu misstrauen.

Carola Kieras leitet
die Bibliothek der
Gedenkstätte
Neuengamme, die
den Nachlass von
Ralph Giordano
übernommen hat
Carola Kieras leitet die Bibliothek der Gedenkstätte Neuengamme, die den Nachlass von Ralph Giordano übernommen hat © HA | Roland Magunia

In Wahrheit ließ sich Giordano eben einfach nicht in ein Rechts-links-Schema pressen, zu unabhängig war sein Geist. „Die humanitas ist unteilbar“, hat dieser leidenschaftliche Demokrat immer nicht nur immer wieder gesagt, sondern auch danach gelebt. So streitbar, empfindlich und manchmal auch pathetisch Giordano sich bei öffentlichen Debatten einbrachte, so freundlich, großzügig und gelassen war er im persönlichen Umgang. „Ein Barmbeker bleibt immer ein Barmbeker und ein Barmbeker immer ein Hamburger“ ist ein Satz, den er gerne einflocht, wenn es um seine Geburtsstadt ging – und er sprach ihn mit breitem Barmbeker Idiom.

Scharfe Intelligenz und besondere Emotionalität

Schneeregen klatscht an die Fenster der Ralph-Giordano-Bibliothek, unversehens reißt der Himmel auf, und die Sonne bescheint die vielen Regalmeter. Die Beschäftigung mit Giordanos Bibliothek habe sie auch wieder stärker in dessen viele Veröffentlichungen eintauchen lassen, bekennt Carola Kieras. Auf die Frage, wie sie diesen bedeutenden Sohn der Stadt Hamburg dabei wahrgenommen habe, denkt Kieras sehr lange nach, scheint jedes Wort im Geiste abzuwägen. Dann ist sie sicher: „Mich beeindruckt bei Ralph Giordano die Mischung aus scharfer Intelligenz und besonderer Emotionalität.“ Und dann mit Entschlossenheit: „Seine Bücher sind hier richtig, sie gehören genau an diesen Ort.“