Hamburg. Erstmals wurden 45 Orte dokumentiert und ein umfassendes Bild der NS-Zeit erarbeitet. Ausstellung im Rathaus wird heute eröffnet.
Dort, wo heute mehr Licht ist als anderswo in der Stadt, wo Villen und Segelboote zum Postkartenmotiv werden, verfinsterte vor mehr als 70 Jahren der Schatten des Nationalsozialismus das Idyll: An der Alster lag die Zentrale des Horrors. Ob Adolf Hitler im Hotel Atlantic oder die Gauleitung im heutigen US-Generalkonsulat, erstmals wurde nun umfassend rekonstruiert, wie das Nazi-Regime das Alsterumfeld geprägt hat. Herbert Diercks und Lisa Herbst von der KZ-Gedenkstätte Neuengamme haben mit Unterstützung der Hamburgischen Bürgerschaft 45 Orte und Geschichten zusammengetragen.
Exklusives Angebot für Abendblatt-Leser
Von heute an ist ihre Rathaus-Ausstellung „Rund um die Alster – Hamburg im Nationalsozialismus“ zu sehen. Kurator Diercks stellt im Abendblatt zehn ausgewählte Orte vor: „Wir wollen mit der Schau etwas zum Vorschein bringen, das in Vergessenheit zu geraten droht. Bekannte Bilder mit unbekannten Geschichten kreuzen, um das kollektive Bewusstsein zu schärfen.“ Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) ergänzt: „Die Ausstellung stellt Menschen in den Mittelpunkt, die unter der NS-Diktatur litten und ermordet wurden. Sie zeigt Orte, welche die Nationalsozialisten für ihre Propagandazwecke missbrauchten. Es geht um Verfolgung, Ausgrenzung, aber auch Widerstand. Vieles davon war kaum bekannt.“
1. Stadtpark
Symmetrie und Weite der Anlage wurde für den Selbstinszenierungswahn der Nazis missbraucht. Massenaufmärsche und Kundgebungen wurden vor Hakenkreuz und Reichsadler gestaltet. Da Hamburg zur „Führerstadt“ werden sollte, wurde auch ein Ausbau des Stadtparks nach Norden geplant – mit einem Stadion für 100.000 Menschen. Während des Krieges wurde Gemüse angebaut, auf der Festwiese standen Flugabwehrkanonen, Baracken, Schutzgräben und Scheinwerfer – wohl Grund für die Bombardierung 1943. Das 1926 im Stadtpark eingeweihte Heinrich-Heine-Denkmal wurde von den Nazis zerstört, seit 1982 steht ein neues am Rathausmarkt.
2. Ballindamm
Das Gebäude der „Hamburg-Amerikanischen Packetfahrt Actien-Gesellschaft“ (HAPAG) am Ballindamm 25 diente von 1940 bis 1943 als Dienstsitz und Verhandlungsort des Gerichts der Kriegsmarine. Fast 7000 Verfahren sind überliefert. Das Gericht verhängte mindestens 41 Todesurteile, 32 wurden vollstreckt. Das 1905 gebaute „Kirdorfhaus“ daneben, am Ballindamm 17, ist nach Emil Kirdorf benannt, Mitgründer und Aufsichtsratsvorsitzender eines Kohlesyndikats und einer der einflussreichsten Nationalsozialisten. Kirdorf brachte Hitler mit Industriellen in Kontakt und warb für die NSDAP.
3. Alsterpavillon und Alsterhaus
Im alten, 1914 errichteten „Alsterpavillon“, traten noch von 1939 bis 1941 bei den Nazis verhasste Swingorchester auf – subtiler Widerstand und von der Polizei beobachtet. Im August 1941 brachen Gestapo und Schutzpolizei ein Konzert ab, verhafteten mehrere Menschen. Der Alsterpavillon wurde geschlossen. Gegenüber, im heutigen Alsterhaus, befand sich das jüdisch geprägte „Warenhaus Hermann Tietz“. In der Weltwirtschaftskrise der 30er-Jahre verschuldete sich das Unternehmen, im Nationalsozialismus verweigerten Banken Kredite und betrieben den Ruin des Hauses. Die jüdischen Besitzer wurden zum Verkauf und zur Flucht gezwungen. Der „arische“ Angestellte Georg Karg wurde neuer Geschäftsführer, benannte das Haus 1936 in Alsterhaus um und gelangte 1940 in Besitz des Unternehmens. Die antisemitisch motivierte Umbenennung des Unternehmens in „Hertie“ hatte Bestand, Karg blieb Chef.
4. Das Budge-Palais
Die heutige Hochschule für Musik und Theater am Harvestehuder Weg ist von der jüdischen Familie Budge zum Palais ausgebaut worden, von 1938 an diente es dem Reichsstatthalter Karl Kaufmann als Dienstsitz. Den Tod der Kunstsammlerin Emma Budge 1937 nutzen erst die Nationalsozialisten, später Museen und Kunsthändler, um sich ihren Besitz anzueignen. Budges testamentarischer Wille zugunsten jüdischer Familienangehöriger wurde missachtet.
5. Flakinsel in der Alster
Bis 1946 lag mitten in der Außenalster eine Flakinsel zur Luftabwehr. Sie bestand aus massiven Betonplattformen auf eingerammten Holzpfählen, die sogenannte Bürgermeister-Krogmann-Stellung dürfte dem Schutz des Regierungsviertels in Harvestehude und Rotherbaum gedient haben. Ausrüstung kam per Schiff. Soldaten und „Flakhelfer“ wohnten nahe der Badeanstalt Schwanenwik in Baracken, erreichten die Stellung über einen Steg. Als „Flakhelfer“ waren Schüler mehrerer örtlicher Oberschulen eingesetzt.
6. Das US-Generalkonsulat
Die zwei benachbarten Villen am Alsterufer 27/28 nutzte die NSDAP bis Kriegsende als „Gauhaus“. Sie ließ die Villen umbauen und verbinden, brachte dort Büros der Gauleitung unter – Karl Kaufmann und Stellvertreter Harry Henningsen residierten im heutigen US-Generalkonsulat.
7. Werkzeugfabrik
Wegen der Kriegswichtigkeit der Produktion wurden in der Werkzeugmaschinenfabrik Heidenreich & Harbeck mehrere Hundert verschleppte Männer und Frauen aus den besetzten Ländern beschäftigt. Auch Kriegsgefangene wurden zur Zwangsarbeit eingesetzt.
8. Rote Geibelstraße und Jarrestadt
Die Widerstandsnester lagen im Arbeitermilieu von Barmbek und Winterhude. Die Geibelstraße galt als „rot“, die Menschen waren sozialdemokratisch oder kommunistisch, wählten links und waren in der Arbeiterbewegung aktiv. Mehrere Frauen und Männer aus der Geibelstraße beteiligten sich nach 1933 am Widerstand. Zum 1. Mai 1933 wurden rote Inletts der Federbetten aus den Fenstern gehängt. Auch in der „Jarrestadt“ wohnten wie in ganz Winterhude Arbeiter- und Angestelltenfamilien, viele beteiligten sich am Widerstand.
9. Sophienterrasse
Der einzige erhaltene Repräsentativbau der Nazis ist die Sophienterrasse 14, heute ein „Palais“ mit Luxusapartments. Von 1937 an war dort das Generalkommando des X. Armeekorps sowie die Wehrkreisverwaltung X untergebracht. Aus dem Amt Ausland/Abwehr wurde von Hamburg aus 1940 auch der Angriff auf Dänemark und Norwegen vorbereitet.
10. Baracken Burmesterstraße
Ein Wohnlager für Arbeiter der Firma Heidenreich & Harbeck stand an der Burmesterstraße. Kriegsgefangene und verschleppte Russen, sogenannte Ostarbeiter, lebten im 1942/43 errichteten Barackendorf am Osterbekkanal und am Barmbeker Stichkanal – auch Ehepaare, zum Teil mit Kindern. In den 60er-Jahren wurden die Baracken abgerissen.
Die Ausstellung ist im Rathaus bis zum 11. Februar zu sehen. Der Eintritt ist frei.