Hamburg. Die katholische Kirche in Hamburg droht sich selbst zu zerstören. Nun hilft nur noch ein Moratorium. Ein Essay von Matthias Iken.
Für den Tag der offenen Tür hatten sich Eltern, Lehrer und Schüler des Niels-Stensen-Gymnasiums in den vergangenen Wochen intensiv vorbereitet, die Klassenräume geschmückt, ein Programm mit Musik einstudiert: In diesen Tagen entscheiden die Eltern der Viertklässler, wo sich die Schulkarriere ihrer Kinder fortsetzen wird: Es ist ein Schönheitswettbewerb, für den sich die Schulen herausputzen, ihre Profile schärfen und ihre Erfolge in den Mittelpunkt rücken.
Mitten in die Vorbereitungen für diesen wichtigen Tag in Harburg platzte am Freitag eine Meldung, die alle Planungen überflüssig machte. Das katholische Erzbistum, der mit Abstand größte freie Schulträger in Hamburg, wird das Niels-Stensen-Gymnasium schließen – und mindestens vier weitere Schulen. Mitten in die Anmeldephase und damit zu einem tödlichen Zeitpunkt hat man den Schulen ihre Zukunft geraubt.
Schockstarre und Wut
Bei den Katholiken in der Stadt regiert eine Mischung aus Schockstarre und Wut, aus Enttäuschung und tiefer Trauer. Priester versuchen in den Gottesdiensten zu erklären, was sie doch nicht erklären und noch weniger verstehen können. Gestandene Männer, seit Jahren ehrenamtlich in den Gemeinden engagiert, brechen in der Öffentlichkeit in Tränen aus. Und Lehrer, die seit Jahrzehnten für weniger Geld oft mehr leisten als viele Kollegen im Staatsdienst, fühlen sich verraten und verkauft.
Das noch junge, erst 1994 gegründete Bistum Hamburg befindet sich in der tiefsten Krise seiner Geschichte. Die Schulen sind für die katholischen Christen von besonderer Bedeutung: Bis 1807 waren öffentliche katholische Messfeiern in Hamburg verboten, der erste Kirchenneubau seit der Reformation entstand erst von 1889 an in St. Georg.
Stolz kirchlichen Lebens
Die durch Zuwanderung rasch wachsende Gemeinden trafen sich daher im 19. Jahrhundert in ihren Schulen. Sie waren und sind nicht nur Kristallisationspunkte, sondern auch Stolz kirchlichen Lebens. Nun fahren die Sanierer mit der Abrissbirne durch diese Schullandschaft. Zweifelsohne ist die finanzielle Situation der katholischen Kirche in Hamburg schwierig – doch die Strategie des Klerus gegen diese Krise ist Selbstmord aus Angst vor der Pleite. Wegen der Sünden der Vergangenheit wird die Zukunft geopfert. Zwölf Thesen, die das Drama beleuchten.
Die Kirchenleitung ist dialogunfähig
Die Kommunikation der Schulschließungen ist ein Schlag ins Gesicht aller Beteiligten. Einsame Entscheidungen ohne Rücksprache mit den Betroffenen mögen im 19. Jahrhundert üblich gewesen sein, im 21. Jahrhundert sind sie aus der Zeit gefallen. Noch im Dezember hieß es, die Kirchenleitung wolle zunächst Einzelgespräche mit den Schulleitern führen und dann mit den Gremien sowie dem „Schulumfeld“, also etwa mit Sponsoren und der Stadt, sprechen. Nun wurden die Direktoren sehr kurzfristig informiert. Das Kollegium des Niels-Stensen-Gymnasiums kritisiert: „Weder war bei der Verkündung der Nachricht an das Kollegium ein Vertreter des Erzbistums anwesend, noch wurden die Eltern per Post direkt informiert“. Stattdessen mussten das die Schüler übernehmen, „die heute tief betroffen von der Nachricht aus der Schule entlassen werden mussten“.
Was Lehrer und Eltern zusätzlich empört: Sie hatten sich in den vergangenen Wochen solidarisch mit der Kirchenleitung gezeigt, bewusst auf Dialog und Deeskalation gesetzt. Als Dankeschön wurden sie nun vor vollendete Tatsachen gestellt. Eine Schule im Anmeldeprozess vom Netz zu nehmen ist der GAU. „Wir hätten von unserem christlichen Arbeitgeber eine offene Kommunikation im Vorfeld erwartet: An keiner Stelle sind wir als Kollegium in den Prozess der Lösungsfindung einbezogen worden“, so die Erklärung der Niels-Stensen-Schule.
Die Kirchenleitung stützt sich auf zweifelhafte Daten
Es mutet seltsam an, dass die Kirche ausgerechnet eine Unternehmensberatung mit einem Gutachten beauftragt, das den Kern des christlichen Lebens tangiert. Noch seltsamer ist, welche Zahlen als Begründung für den Kahlschlag angeführt werden. In der Grundschule an der Eulenstraße kommen die Gutachter zu einer angeblichen Investitionssumme von 1,2 Millionen Euro – ein Mondpreis, der Kenner des Gebäudes überrascht.
Das alte Schulgebäude in Ottensen verfügt weder über eine Küche noch eine Turnhalle. Aber es braucht sie auch nicht: Das Essen kommt aus dem Gemeindezentrum, die Turnhalle stellt die Rudolf-Steiner-Schule zur Verfügung. „Eigentlich müssten nur die Toiletten gemacht werden“, sagt ein Kirchenvorstand der Gemeinde, den die Unternehmensberater nie kontaktiert haben. „Ich würde eher Kosten von 100.000 Euro veranschlagen.“ Ein anderer Kirchenvorstand, selbst Manager, sagt: „Jeder weiß, dass diese Beraterzahlen immer um ein Drittel gekürzt werden können.“ Noch etwas haben Ernst & Young nie in ihre Kalkulationen einbezogen: Wenn Sanierungen oder Reparaturen anstehen, übernehmen oft Freiwillige oder Handwerker aus der Gemeinde die Arbeiten. Das senkt die Kosten beträchtlich.
Oder wurde die kleine einzügige Grundschule bewusst zum Sanierungsfall? Vor mehreren Jahren war der Plan für die Erweiterung der beliebten Grundschule weit gediehen, den das Bistum abschmetterte. Die Schule, so hieß es damals, sei nicht im Bestand gefährdet. Selbst das Gutachten betont, die Schule arbeite ohne Verluste. Sie steht aber auf einem großen Filetgrundstück im Szenestadtteil Ottensen. Da stehen Immobilienentwickler Schlange ...
Die Kirchenleitung raubt den Gemeinden Zukunft
Nicht nur die besondere Tradition der katholischen Schulen macht sie zu Zentren christlichen Lebens. Viele Einrichtungen sind eng mit Gemeinden oder kirchlichen Jugendverbänden verzahnt. Die kleine Kirche St. Marien lebt von ihrer Grundschule an der Eulenstraße: Sie ist Nachwuchspool für die gesamte Kinder-, Jugend- und Elternarbeit. Noch findet jeden Sonntag ein Kindergottesdienst statt; ob Pfadfinder oder Messdiener, ob Martinslauf, Gemeindefest oder Sternsinger – viel Leben der kleinen Gemeinde steht auf der Kippe. Der langjährige Pfarrer fürchtet „unabsehbare Folgen“ für St. Marien.
Die Kirchenleitung verprellt ihre treuesten Gläubigen
Nicht nur die Entscheidung an sich verprellt die Menschen, sondern auch die Art und Weise der Kommunikation. Christen engagieren sich in ihrer Kirche nicht wie in einem Sportverein, einem Kegelclub oder den Taubenzüchtern aus Spaß, sondern aus einem tief wurzelnden Glauben. Nach dem Gottesdienst am Sonntag standen erwachsene Männer zusammen und schämten sich ihrer Tränen nicht. Sie fühlen sich betrogen um ihre Zeit, ihr Engagement, ihre Verantwortung. Manche werden sich nun in die innere Emigration zurückziehen – oder der Kirche ganz den Rücken kehren.
Die Kirchenleitung verspielt ihre Reputation
Wenn es um Gesellschaftskritik geht, sind Kirchenvertreter gern in vorderster Front dabei. Sie kritisieren Managergehälter, die Flüchtlingspolitik oder den Kapitalismus generell. Wer aber ins eigene christliche Haus Unternehmensberater lädt und dann den Kahlschlag forciert, setzt jede moralische Überzeugungskraft aufs Spiel.
Die Kirchenleitung vertreibt ihre Angestellten
Die Kirche ist kein Stahlkonzern. Sie lebt von Mitarbeitern, die oft extrem motiviert und engagiert ans Werk gehen. Um es klar zu sagen: Staatliche Schulen locken mit manchen Vorteilen, christliche Schulen können nur einen besonderen Geist und Umgang entgegensetzen. Als Arbeitgeber droht sich die Kirche nun zu disqualifizieren. Auch wenn keinem Lehrer gekündigt werden soll, dürften viele Kollegen in die staatlichen Schulen wechseln, so wie viele Schüler auch. Damit träfe der Kahlschlag am Ende nicht nur bis zu acht Schulen, sondern alle 21 Einrichtungen.
Die Kirchenleitung riskiert eine Austrittswelle
Katholiken sind Kummer gewöhnt. Waren es früher oftmals lebensfremde Positionen aus Rom, sind es nun unverständliche Entscheidungen vor Ort. Früher traten die Menschen aus, nachdem sie sich in einem langen Prozess von der Kirche entfremdet hatten. Heute denken plötzlich Menschen über diesen Schritt nach, die sich noch vor wenigen Tagen als engagierte Katholiken bezeichnet haben. Der Exodus derer, auf denen die Kirche gründet, hat begonnen. Doch mit jedem Christen, der austritt, wird sich die Finanzkrise verschärfen.
Die Kirchenleitung verschüttet alternative Finanzquellen
Niemand wird den Verantwortlichen vorwerfen, dass sie handeln. Die Versäumnisse der Vergangenheit haben die Kirche in diese Notsituation gebracht. Aber WIE sie handeln, ist das Problem – und welche Alternativen sie zuvor geprüft, respektive nicht geprüft haben. Als die Flüchtlingswelle 2015 in Deutschland ankam, warb Bischof Heße in persönlichen Briefen um Spenden. Die eigenen Schulen warteten darauf bislang vergeblich. Dabei erschließen die Schulen schon heute Geldquellen, die außerhalb jeder Gedankenwelt von Unternehmensberatern liegen: aus Spendenaktion, Crowdfunding, über Mäzene. Selbst die 7,8 Millionen Euro teure Sanierung des Mariendoms haben Spender finanziert. Hätte Petrus die Kirche mit Beratern von Ernst & Young erbaut, das Christentum wäre längst vergessen.
Die Kirchenleitung zerschneidet das kirchliche Netz
Das katholische Leben spielt sich nicht nur in den Gemeinden, sondern auch in den Schulen ab. Schon die Einrichtung sogenannter pastoraler Räume hat viele Gemeinden im Kern erschüttert. Wer nun die Axt an die Schulen legt, zerstört Traditionsketten. Wer als Kind fern von Kirche aufwächst, wird sie als Erwachsener kaum finden.
Die Kirchenleitung verscherzt es sich mit der Stadt
Geradezu rätselhaft ist, warum Hilfsangebote der Stadt offenbar ausgeschlagen wurden. Bei den Investitionen in die Bauten sei die Behörde zur Hilfe bereit, hieß es. Bildungssenator Ties Rabe, früher selbst Religionslehrer, hatte die katholischen Schulen in der Vergangenheit stets gelobt. Schon im Dezember hatte der SPD-Politiker einen Brief an den Bischof geschrieben und ein Gesprächsangebot gemacht. Es verpuffte. Laut Aussagen von Rabe rief der Bischof erst am Donnerstag vergangener Woche zurück.
Die Kirchenleitung darf innerkirchliche Solidarität einfordern
Das Bistum Hamburg hat seit 2013 seine Steuereinnahmen von 83,9 auf 100,3 Millionen Euro gesteigert, rechnet aber bis 2020 wieder mit einem Rückgang auf bis zu 87 Mio. Euro. Die Kirche zählt noch immer zu den reichen Körperschaften im Land. Schätzungen zufolge summiert sich das Vermögen auf bis zu 200 Milliarden Euro in Deutschland. Auch wenn dieses Geld kaum verfügbar sein dürfte, muss eine Frage erlaubt sein: Wo bleibt der Kirchenfinanzausgleich?
Die Kirchenleitung handelt unsozial
Zu Recht waren die katholischen Schulen stets stolz auf ihre Vielfalt, auf ihren Multikulturalismus. Katholisches Leben war und ist in Hamburg international, hier mischen sich eher als in den Stadtteilen arme und reiche Kinder. Es ist der gute Ruf, der die Schulen stets zu besonders attraktiven Adressen gemacht hat. Nun sind vor allem Schulen in sozial schwächeren Stadtteilen wie Harburg, Neugraben und Altona von der Schließung betroffen. „Das entspricht weder unserem Selbstverständnis als Christen noch dem, was die katholische Kirche insgesamt propagiert“, kritisieren die Kollegen des Niels-Stensen-Gymnasiums. „Die Entscheidung des Erzbistums macht uns vor allem auch aus diesem Grund traurig und wütend.“
Nie war die Wut unter den Gläubigen so groß wie in diesen Tagen. Und sie wird sich nicht so rasch legen. Die Fehler sind gemacht. Aber ein noch größerer Fehler wäre, ihn nicht zu erkennen und zu korrigieren. Nur mit einem unverzüglichen Moratorium und einem Aufschub aller Maßnahmen um ein Jahr ist das Vertrauen wieder herzustellen. Die Kirche muss Transparenz und Offenheit schaffen, die Menschen mitnehmen und eine gemeinsame Strategie gegen die Schuldenkrise erarbeiten. Einzelne Schließungen mögen am Ende unvermeidlich sein.
Wenn die Kirchenleitung aber mit der Brachialstrategie der vergangenen Tage weiterwurstelt, könnte der Katholizismus in Hamburg bald aussehen wie die alte Hauptkirche St. Nikolai an der Willy-Brandt-Straße: eine Kirche ohne Gläubige, ein Ort in Trümmern, ein Mahnmal. Darunter kann man dann ja ein Museum einrichten.