Hamburg. Udo Löhr und Jochen Kuhlmann waren Hamburgs letzte Ankläger von NS-Verbrechern. Ein Gespräch zum Gedenktag der Opfer.

Beide Schnauzbart, beide Kaffee: Dr. Udo Löhr (78) und Jochen Kuhlmann (77) wirken nicht wie die letzten „Nazi-Jäger“ Hamburgs – sie sind es aber. Als Oberstaatsanwälte brachten sie nationalsozialistische Gewaltverbrechen vor Gericht, trieben die späte Verurteilung von Massenmördern voran. Am Donnerstag werden ihre Erinnerungen im Rathaus als szenische Lesung verdichtet. Vorab sprachen beide über die schwierige Tätersuche und das Grauen der Opfer.

Herr Kuhlmann, Herr Löhr, sprechen wir über Ihre Arbeit.

Udo Löhr: Dazu muss ich gleich sagen, dass wir unsere Arbeit kritisch sehen.

Ach, ja?

Löhr: Ja, unsere Aufgabe, nationalsozialistische Gewaltverbrechen aufzuklären, wurde von der Politik lange nicht forciert, vor allem nicht in den 50er- und 60er-Jahren. Auch in den 70er-Jahren, als wir als junge Hüpfer in die Abteilung kamen, mussten wir kämpfen.

Mit was denn?

Löhr: Es gab zwar die zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, aber eine zen­trale Anklagebehörde fehlte. Die Suche nach Tätern, Opfern und Zeugen war nach der verstrichenen Zeit schwierig, Urkunden und Beweise waren rar.

Lesung im Rathaus

Ihre Verfahren waren generell schwierig.

Jochen Kuhlmann: Unser Gegner war die Zeit. Die Alliierten hatten nach dem Krieg angefangen, Prozesse zu führen, aber die Aufklärung der Massenvernichtung fiel unter den Tisch. In der breiten Bevölkerung war kein Bewusstsein, kein Wille vorhanden.

Löhr: Im Gegenteil.

Kuhlmann: Der Krieg war vorbei, und damit geriet vieles in Vergessenheit. Das änderte sich, als allen die Augen geöffnet wurden – besonders durch den Ulmer Einsatzgruppenprozess 1958, der vieles ans Licht brachte.

Wie erklären Sie das Desinteresse im Volk?

Kuhlmann: Die Leute hatten genug vom Krieg. Es wurde nicht zwischen Kriegsgeschehen und Judenvernichtung unterschieden, für viele waren das Kriegsverbrechen, was nicht stimmt. Das ideologische Töten von Zivilisten ist etwas anderes, und große Teile des Volkes waren irgendwie verstrickt.

Löhr: Hinzu kam, dass viele Richter und Staatsanwälte nach dem Krieg kein großes Interesse an Aufklärung hatten.

Und dann kamen Sie.

Kuhlmann: Aber da waren fast 30 Jahre vergangen. Totschlag etwa verjährt und die 1968 beschlossene Strafminderung für „Beihilfe zum Mord“ kam einem Amnestiegesetz gleich. Es gab zunehmend Freisprüche für Nazi-Schwerverbrecher, die fühlten sich noch bestätigt.

Löhr: Der Lesungstitel „Hört damit auf!“ stammt aus einer Prozesspause, in der alles auf Freispruch hindeutete.

Kuhlmann: Arie Goral, ein jüdischer Prozessbeobachter, meinte, der Prozess wäre besser nie eröffnet worden, als ihn mit Freispruch zu beenden. Er rief: Schluss mit dem Verfahren, hört damit auf!

Wie viele NS-Verbrecher haben Sie angeklagt?

Kuhlmann: Die meisten Verfahren sind mangels Beweisen eingestellt worden.

Löhr: Auch die Verhandlungsfähigkeit der Angeklagten war schon Thema. Aus Schwerverbrechern waren alte Männer geworden. Und die Verfahren waren riesig, ich hatte mal 400 Angeklagte, 200 Tatorte, etliche Zeugen, drei Jahre Arbeit.

Gab es überhaupt noch Zeugen?

Kuhlmann: Tatzeugen waren meist tot, Opferzeugen, die überlebt hatten, waren bis in die 70er-Jahre schon mehrfach vernommen worden. Ein Widerspruch in ihren Aussagen wurde von Verteidigern zu Recht sofort aufgegriffen. Auch Beweisdokumente gab es kaum, und wenn, dann für uns vielfach unerreichbar im Osten.

Löhr: ... und die Regierung hatte kein Interesse, daran etwas zu ändern.

Trotzdem gab es Ihretwegen harte Strafen.

Kuhlmann: Ja, die Leute habe ich immer noch vor Augen, ältere Herren, die dasaßen wie die Opis und keiner Fliege was zuleide tun konnten, aber Massenmörder waren. Fast alle waren weder geständnisbereit, noch konnten oder wollten sie sich erinnern, hatten nur auf Befehl gehandelt und machten auf krank.

Welcher Prozess ist Ihnen in besonderer Erinnerung geblieben?

Kuhlmann: Ein Großverfahren in Hamburg war das gegen Dr. Ludwig Hahn, Kommandeur der Sicherheitspolizei in Warschau, er bekam lebenslänglich.

Wie haben Sie ihn drangekriegt?

Kuhlmann: Man musste ihm das eigene, subjektive Wollen nachweisen, im Fall der Gettoräumung war das möglich. Aber vielen konnten Judenhass und niedrige Beweggründe, also Mordmerkmale, nicht nachgewiesen werden. Viele wurden, wenn überhaupt, nur wegen Beihilfe verurteilt. Eine Frage der rechtlichen Abgrenzung von Täter und Teilnahme.

Wie sind sich Täter und Opfer begegnet?

Kuhlmann: Die Zeugen waren diszipliniert.

Löhr: Das waren ja meist kleine Leute, die froh waren, mit dem Leben davongekommen zu sein. Es gab Nervenzusammenbrüche und Tränen.

Kuhlmann: Diese Zeugen wollten weder Rache noch Genugtuung, die wollten, dass die Wahrheit ans Licht kommt.

Welche Gefühle haben Sie begleitet?

Kuhlmann: Zeugenaussagen waren hart.

Löhr: Vor allem, wenn sie neben einem am Tisch saßen. Was die erlebt haben ...

Kuhlmann:Wenn die Zeugen berichteten, konnten Sie im Saal eine Stecknadel fallen hören. Da brauchten auch wir Gerichtspersonen öfter mal eine Pause.

Tatsächlich?

Kuhlmann: Wenn bei der Gettoräumung eine junge Familie aus der Wohnung geknüppelt und brutal zerrissen wird, gefriert einem das Blut. Jahrelang den Tod vor Augen, und jetzt, 6 Uhr morgens, ist es so weit. Wer nicht schnell genug ist, wird erschossen – der Rest zum Umschlagplatz getrieben und sortiert. Einem Vater wurde sein Sohn aus dem Arm gerissen, seine Frau weggeprügelt – er hat beide nie wieder gesehen.

Löhr: Sie können uns glauben, dass da Gefühle vorhanden waren.

Anders als bei bloßen Zahlen ...

Kuhlmann: Sie können keine Gefühle entwickeln, wenn Sie in der Akte lesen, dort wurden 20.000 Juden erschossen.

Löhr: Ich hatte eine Vernehmung mit einem Zeugen, der seinen Einsatz beim „Kommando 1005“ überlebt hat. Ein Spuren­beseitigungstrupp. Die haben Juden gezwungen, alte Massengräber auszuheben und die Leichen zu riesigen Scheiterhaufen aufzutürmen und zu verbrennen. Die SS-Männer versprachen ihnen die Freiheit, jagten sie aber am Ende in die Leichenhaufen und erschossen sie. ­Meinen Zeugen hatten sie nur in die Schulter getroffen. Der wühlte sich durch einen brennenden Leichenberg zurück ins Leben.

Wie sind Sie den Angeklagten begegnet?

Kuhlmann: Man musste sich gegen große Nähe wehren. Die Prozesse dauerten Jahre, man begegnete sich ständig.

Hatten Sie Verständnis für die Verteidiger?

Löhr: Das Verhältnis war nicht belastet, hier waren das selten Rechtsaußen.

Kuhlmann: Absurdes gab es trotzdem.

Löhr: Einmal wurde beantragt, zur Zeugenaussage „knöcheltief im Blut gestanden“ Beweis zu erheben. Natürlich können Sie literweise Blut auf eine Wiese schütten und stehen nicht bis zu den Knöcheln drin. Aber bei Massenerschießungen flogen Blut und Gehirn durch die Gegend, da waren die Stiefel der SS-Leute trotzdem blutverschmiert. Es war teils absurd, um was gestritten wurde.

Konnten Sie jemals loslassen?

Kuhlmann: Ich habe das 21 Jahre lang gemacht, das lässt einen nicht los bei der Einmaligkeit dieser Verbrechen.

Löhr: Das hängt in den Klamotten.

Haben Leute recht, die sagen: Mehr als 70 Jahre später ist es auch mal gut?

Löhr: Wenn Sie eine Umfrage zum Fall Gröning machen würden, dem 96 Jahre alten „Buchhalter von Auschwitz“, der seine vier Jahre Haft nun absitzen muss. Viele würden sagen: Lasst den Alten doch frei. Das zeigt: Es ist nicht gut.

Kuhlmann: Das sehen Sie auch am aufkommenden Antisemitismus. Umso wichtiger ist es, zu erinnern, zu gedenken und: dagegenzuhalten.