Hamburg. Am 24. und 25. Januar gastiert Regisseur Julien Gosselin mit dem Théâtre National de Strasbourg im Thalia-Theater.

Es ist gar nicht so einfach, den jungen französischen Regisseur Julien Gosselin ans Telefon zu ­bekommen. Der Mann ist gefragt. Am 24. und 25. Januar gastiert er mit dem Théâtre ­National de Strasbourg und dem Stück „1993“ anlässlich des Festivals „Um alles in der Welt – Lessingtage 2018“ vom 19. Januar bis 4. Februar im Thalia-Theater. Für eine Einladung zum Themenschwerpunkt „Demokratie in ­Gefahr“ empfiehlt sich Gosselins Arbeit gleich aus mehreren Gründen.

Angestoßen durch die Ereignisse um das inzwischen geräumte Flüchtlingscamp Calais im Norden Frankreichs nahe seinem Wohnort hat Gosselin den Autor Aurélien Bellanger gebeten, ein Stück zu schreiben. „Calais war nur der Ausgangspunkt. Der Text drehte sich schnell immer stärker um die Krise Europas“, sagt der gerade mal 30-jährige Gosselin am Telefon.

Bewegungen der Welt untersuchen

Das Regie­talent, das bereits 2013 mit einer Version von Michel Houellebecqus „Elementarteilchen“ auch in Deutschland für Aufsehen sorgte und 2016 mit „2666“ einen viel beachteten zwölfstündigen Abend nach Roberto Bolanos ­Roman im Pariser Odéon-Théâtre de l’Europe herausbrachte, suchte nach einem Stoff, um ihn mit jungen Schauspielabsolventen in Strasbourg zu inszenieren, die alle um die 25 Jahre alt sind.

Lessingtage-Infos

„Sie kennen nur das Europa der Freizügigkeit, der offenen Grenzen, des Friedens, doch das verändert sich gerade“, so Gosselin. „Auf einmal kommen Fragen von Nationalität und Forderungen nach einem Territorium auf, das diese Generation so nicht kannte.“ Hinzu kommt, dass sich ein Teil der jungen Menschen zunehmend abgekoppelt fühle von einer bürokratischen Elite, die ihnen Chancen und Aufstieg verwehre. All das treibe sie in die Arme der neurechten Bewegungen, in Frankreich des schon länger etablierten Front National.

Ästhetisch radikaler Ansatz

Seine Analyse der Gegenwart ist zugegeben wenig optimistisch. „Ich bin Theatermacher. Ich lehne es ab, schnelle Lösungen zu präsentieren“, sagt er. „Ich bin kein Politiker, aber man muss den Menschen Essen, Schlaf und Kleidung ermöglichen.“ Sein Ansatz ist politisch, er ist aber auch ästhetisch radikal. Gosselin inszeniert keine Klassiker, auch ist er nicht sehr an Dialogen interessiert. Dafür an „großen, gewichtigen Stoffen“ und „bewegenden Fragen“, nicht aber an „kleinen, privaten Miniaturen“.

Von großen Fragen erzählt auch „1993“, das in Teilen eher einem politischen Pamphlet ähnelt. „Ich wollte von der Abnormalität erzählen, von dem Europa des ­Austauschprogramms Erasmus, der Sanftheit, der Offenheit und auf der ­anderen Seite einer Enklave mitten in Europa – Calais – als einem Ort der ­Gewalt und des Krieges.“

Eurotunnel erhält eine neue Bedeutung

Der Eurotunnel erhält auf der Bühne eine neue Bedeutung. Gosselin ­zitiert auch die Idee des US-Politikwissenschaftlers Francis Fukuyama, der 1992 vom „Ende der Geschichte“ sprach – allerdings als gedankliche Provokation. Aus ihr sprach der Glaube, dass sich die Prinzipien des Liberalismus wie Demokratie und Marktwirtschaft endgültig durchgesetzt hätten, Europa ­somit seinen Fokus nach außen richten könne. „Das ist natürlich polemisch“, so Gosselin. „Ist Europa mit Krieg und ­Gewalt wirklich am Ende? Nein, natürlich nicht. Vielleicht kommt das perfekte Europa niemals.“

Der französische
Regisseur
Julien Gosselin
gastiert mit
einer Produktion
aus Straßburg
in Hamburg
Der französische Regisseur Julien Gosselin gastiert mit einer Produktion aus Straßburg in Hamburg © Simon Gosselin

Gosselin hat sich mit seinen bisherigen Arbeiten einen Ruf als Hoffnungsträger des Theaters erarbeitet. Wie eher wenige seiner Landsleute ist er an postdramatischen Formen interessiert – ­ohne sie so zu benennen. Dabei sucht er sich keine klassischen Stücktexte und transportiert sie in ein Heute, sondern wählt Romanstoffe. „Ich möchte mit Texten arbeiten, die sich aktuell mit Worten von heute auf die gegenwärtige Welt beziehen“, sagt Gosselin.

Gemeinsamer Raum des Theaters

Ihn fasziniert der gemeinsame Raum des Theaters, der ­Akteure und Zuschauer in der gemeinsamen Erfahrung eines Rhythmus, des Voranschreitens der Zeit und einer kollektiv empfundenen Anspannung vereine. Ein Vorgang, den er als geradezu physisch und sogar musikalisch empfinde.

„Das Theater ist der letzte Ort für Poesie, die Schönheit der Kunst, wie man etwas sagt.“ Diesen Reiz will auch das Thalia vor allem jungen ­Zuschauern vermitteln, weshalb alle in den 1990er-Jahren geborene Besucher nur neun Euro Eintritt für „1993“ bezahlen.

„1993“ Mi 24./Do 25.1., jeweils 19.30, Thalia- Theater, Alstertor, Karten 10,- bis 52,- Euro unter: T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de