Das Abendblatt geht auf Spurensuche in der Geschichte. Heute die “Horst-Wessel-Steine“ in Norderstedt.
Die Ochsenzoller Straße gehört zu den wichtigsten Straßen in Norderstedt. Sie schlängelt sich quer durch Garstedt und verbindet die Segeberger Chaussee mit der Niendorfer Straße. Vor Jahrzehnten hatte der Kreuzungsbereich Alte Dorfstraße/Ochsenzoller Straße/Scharpenmoor/Schwarzer Weg eine ganz besondere Bedeutung für Menschen, die dem Wahn der Nationalsozialisten verfallen waren – und das sollen auch im damaligen Garstedt nicht wenige gewesen sein. In diesem Kreuzungsbereich waren bis zum Ende der Nazi-Zeit die Horst-Wessel-Steine platziert. An den jeweiligen Heldengedenktagen standen sie im Mittelpunkt des dörflichen Geschehens. Heute sind die Steine nicht mehr zu sehen. Aber tatsächlich gibt es sie noch – und zwar an genau der Stelle, wo sie einst gestanden haben. Über die Zeit der nationalsozialistischen Herrschaft in Deutschland wird vielerorts der Mantel des Schweigens gedeckt. Wer im Norderstedter Stadtarchiv sucht, findet nur wenig brauchbares Material. Marlen von Xylander, wissenschaftliche Mitarbeiterin und Leiterin des Stadtmuseums, bedauert das: „Diese Jahre sind schlecht dokumentiert, vermutlich ist viel Material vernichtet worden.“ Aber es gibt in der Stadt immer noch Menschen, die über die damaligen Ereignisse berichten können.
Horst Wessel war der vordere Stein, verziert mit einem Hakenkreuz, gewidmet. Der zweite Stein trug die Inschrift „Nimmer wird das Reich zerstört, wenn ihr einig seid und treu. 1813 - 1913“. Er war mit einem Balkenkreuz versehen. Insgesamt war das Ensemble als „Horst-Wessel-Steine“ bekannt. Auf einer Grußkarte aus Garstedt ist die offenbar mit einem Holzzaun umgebene und sehr gepflegt erscheinende Anlage zu sehen.
Horst Ludwig Wessel war ein Sturmführer der SA, der paramilitärischen Kampforganisation der NSDAP. Nachdem Wessel von KPD-Mitgliedern am 23. Februar 1930 getötet worden war, stilisierte ihn die NS-Propaganda zu einem „Märtyrer der Bewegung“. Er war Verfasser des Horst-Wessel-Lieds, das kurz nach seinem Tod zur Parteihymne der NSDAP wurde und von 1933 bis 1945 im Anschluss an das Deutschlandlied den zweiten Teil der Nationalhymne bildete. Viele Plätze und Straßen in Deutschland wurden nach ihm benannt.
Auch die Garstedter Parteifunktionäre huldigten dem Personenkult und ließen die Horst-Wessel-Steine aufstellen. An den „Heldengedenktagen“, die jeweils im Februar oder März stattfanden trafen sich hier die Garstedter Nationalsozialisten und alle, die irgendwie dazugehören wollten. Die heutige Straße Schwarzer Weg hieß damals passend zur Gedenkstätte Horst-Wessel-Straße.
Einer, der damals die Aufmärsche und den Ablauf der Feierstunden organisierte, gehörte gar nicht der Partei an: Der in Garstedt sehr beliebte und bekannte Dorfschullehrer Richard Dall war als politischer Leiter der nationalsozialistischen Kriegsgräberfürsorge dazu auserkoren worden. Also nahm er seine Hakenkreuzbinde aus dem Schrank und hielt die von ihm erwartete Rede, bevor die Feuerwehrkapelle das Lied „Ich hatte einen Kameraden anstimmte“. Anschließend legte Dall die Binde wieder in den Schrank zurück. Allen Versuchen, ihn als Parteimitglied zu werben, scheiterten.
„Ich habe kein Geld, mir einen braunen Anzug zu kaufen, ich habe drei Kinder“, war seine Standardantwort, mit der er offensichtlich überzeugen konnte. Richard Dall war von 1920 bis 1960 Lehrer an der damaligen Garstedter Volksschule, der heutigen Grundschule Niendorfer Straße.
Als der Nazi-Terror vorbei war, verschwanden auch die Steine aus dem Garstedter Ortsbild. Wer sie verschwinden ließ und wann das war, kann heute niemand mehr ganz genau sagen. Aber es gibt noch Garstedter, die wissen, was mit den Horst-Wessel-Steinen geschehen ist: Sie wurden ganz einfach an Ort und Stelle vergraben.
Auch 72 Jahre nach dem Ende des Terrorregimes liegen sie also dort, wo sie einst gestanden haben. Viele hundert Autos fahren täglich an der Stelle vorbei, wo einst die Garstedter Nationalsozialisten ihre Helden feierten, aber nichts erinnert mehr an die einstige Gedenk- und Aufmarschstätte.
Mit etwas Mühe müssten die Steine auf einem kleinen Rasenstück vor dem Gebäude eines Fußpflegedienstes zu finden sein. Die Bewohner des Gebäudes haben mit dem damaligen Geschehen natürlich nichts zu tun.