Hamburg. „Gewalt ist undemokratisch“, sagt Christiane Schneider im Abendblatt-Interview über die G20-Krawalle und übt auch Selbstkritik.

Sie gilt als eine der klügsten, streitbarsten und umstrittensten Abgeordneten der Linken in der Bürgerschaft: Innenpolitikerin Christiane Schneider, die für ihre Fraktion das Amt der Parlamentsvizepräsidentin ausübt, gibt im G20-Sonderausschuss die Chefaufklärerin. Sechs Monate nach dem Gipfel zieht sie eine auch selbstkritische Zwischenbilanz – und fordert von Linken eine harte Debatte mit den Gruppen, die Gewalt für legitim halten.

Frau Schneider, die Arbeit des G-20-Sonderausschusses verläuft bisher zäh und weitgehend ergebnislos. Wie steht es mit der selbstkritischen Aufarbeitung der Linken? Immerhin haben Sie die Proteste mitorganisiert, von denen manche in Gewaltorgien mündeten.

Christiane Schneider: Wir haben mit einer selbstkritischen Aufarbeitung vor einiger Zeit begonnen und werden diese auch weiterführen. Die Vorwürfe, die Linke habe sich bei G20 grenzwertig oder grenzüberschreitend verhalten, kann ich allerdings nicht nachvollziehen. Mir fehlen dafür auch die Belege von denen, die uns das vorwerfen. Die von uns direkt mit organisierte G20-Demonstration am Sonnabend ist bis auf einen Zwischenfall friedlich geblieben.

Dass Sie dort nach allem, was zuvor passiert war, noch zusammen mit dem Schwarzen Block marschiert sind, ist aber auf viel Unverständnis gestoßen. Zumal einige dort vermummt waren.

Schneider: Es gab einzelne Vermummungen. Die Polizei hat aber selbst festgestellt, dass im Schwarzen Block viele bunt gekleidet waren. Sie hatte zunächst, wie ich inzwischen aus sicherer Quelle weiß, bis weit nach Beginn vorgehabt, diese Demons­tration zu zerschlagen. Das hat sie dann nicht gemacht – vermutlich weil die Demonstration mit 76.000 friedlichen Teilnehmern so groß war und die Folgen unkalkulierbar gewesen wären.

Die Linke hätte sagen können: Nach dem, was an der Elbchaussee und im Schanzenviertel passiert ist, lassen wir den Schwarzen Block bei uns nicht mitlaufen. Das wäre ein klares Signal gegen die Gewalt gewesen.

Schneider: Unsere Aufgabe als Mitveranstalter war es, dafür zu sorgen, dass die Teilnehmer sich friedlich verhalten. Das ist, abgesehen von einer Ausnahme, gelungen. Wir wissen außerdem bis heute gar nicht, wer die Leute waren, die die Autos an der Elbchaussee angezündet haben.

Hat die Linke also rund um G20 keine Fehler gemacht?

Schneider: Das will ich nicht sagen. Wir haben uns zum Beispiel dieses Ausmaß der Gewalt vorher nicht vorstellen können. Damit meine ich vor allem die Ereignisse an der Elbchaussee, die ich zutiefst verstörend fand. Die Gewalt dort ist ja nicht aus einem Konflikt heraus entstanden, sondern wurde offenbar kaltblütig geplant und ohne Sinn und Verstand angewandt. Das ist eine völlig neue Qualität der Gewalt in Deutschland gewesen.

Hat man sich im Anti-G20-Bündnis nicht genug von militanten Gruppen abgegrenzt?

Schneider: Diese Diskussion gibt es. Der Philosoph Michael Brie hat dazu interessante Aufsätze für die Rosa-Luxemburg-Stiftung geschrieben. Darin wirft er die Frage auf, wie lange linke Gruppierungen, er spricht von der „Mosaik-Linken“, sich von strikt gewaltaffinen Gruppen so etwas bieten lassen müssen wie bei G20. Er plädiert dafür, sich von denen zu trennen. Ich aber finde: Erst mal muss man die Auseinandersetzung führen.

Wenn die Linke die Gewaltfrage klar entschieden hätte: Welche Debatten sollte sie noch mit gewalttätigen Gruppen führen?

Schneider: Es gibt in der linken Bewegung hier und da die Auffassung, dass man durch Gewalt mehr Aufmerksamkeit erreicht und auch Sachen verhindern kann. Manche sagen: Hätte es in Brokdorf keine Gewalt gegeben, gäbe es jetzt Hunderte von Atomkraftwerken in Deutschland. Ich kenne das Gefühl der Ohnmacht nach großen friedlichen, aber konsequenz­losen Demonstrationen.

Aber ich bezweifle, dass Gewalt in modernen Gesellschaften zu Fortschritt führt. Gewalt ist undemokratisch. Da werden Tausende Menschen, die friedlich demonstrieren, als Schutz benutzt – und da wird sinnlos Gewalt gegen Anwohner der Schanze oder der Elbchaussee ausgeübt. Das ließe sich auch nicht im Entferntesten mit irgendwelchen emanzipatorischen Ansprüchen begründen. Damit müssen wir uns viel stärker auseinandersetzen – in der Debatte mit den Befürwortern von Gewalt. Das sehe ich als einen unserer Fehler: Wir hätten uns offensiver mit der Frage auseinandersetzen müssen, ob Gewalt legitim ist oder nicht.

Was ist Ihre Haltung?

Schneider: Nein, Gewalt ist nicht legitim. Übrigens auch nicht gegen Polizisten. Ich akzeptiere das Gewaltmonopol des Staates. Dafür muss aber grundsätzlich Rechtsstaatlichkeit gewährleistet sein. Deswegen müssen auch Rechtsverstöße der Polizei aufgeklärt werden. Dass der Senat Hartmut Dudde zum Einsatzleiter gemacht hat, war kein gutes Signal. Das hat zur Eskalation beigetragen.

Herr Dudde ist das Lieblingsfeindbild aller Linken, oder?

Schneider: Ihn zum Einsatzleiter zu machen war ein fatales Signal gegen die Rechtsstaatlichkeit. Gerichte haben Herrn Dudde viele Male bescheinigt, bei den von ihm geleiteten Einsätzen gegen Gesetze verstoßen zu haben. Das wusste der Senat. Er hat ihn trotzdem als Einsatzleiter eingesetzt. Das zeigt, dass der rot-grüne Senat auf Eskalation gesetzt hat.

Noch einmal zurück zur Selbstkritik: Gab es weitere Fehler der Linken?

Schneider: Wir hätten mehr dafür tun müssen, dass ein fester Gesprächsfaden zwischen den Veranstaltern und der Polizei entsteht. Wir alle hatten Angst, dass es Tote geben könnte – die Veranstalter der Proteste und auch die Polizei. Trotzdem hat es keinen intakten Gesprächsfaden gegeben. Eigentlich bräuchte man für solche Situationen eine Clearingstelle, wo sich alle Beteiligten mit Dritten vorher zusammensetzen. Die Polizei hat das nicht gewollt. Aber wir hätten stärker darauf drängen müssen. Da hätten wir auch als Fraktion mehr tun können.

Stattdessen haben Linken-Politiker Camps mit angemeldet, aus denen laut Polizei Gewalttäter losmarschiert sind.

Schneider: Das halte ich für Unsinn. Wer mit dem Ziel anreist, Gewalt auszuüben, der verabredet sich nicht in einem Camp, das voll ist mit V-Leuten und umstellt von der Polizei. Es sei denn, er ist ein Volltrottel. Bei den Camps ging es darum, dass Menschen übernachten können. Mehr nicht. Das Erste, was Herr Dudde gemacht hat, war zu sagen: Camps kommen nicht infrage. Damit hatte er den Weg der Eskalation beschritten.

Was erwarten Sie von der Roten Flora im Zuge der Aufarbeitung?

Schneider: Viele dort sitzen noch in den Schützengräben der 90er-Jahre. Die Diskussion ist aber längst weitergegangen. Wenn man sich deren Aufruf zur „Welcome to Hell“-Demo anguckt, dann endet der mit einem Absatz, in dem es sinngemäß heißt, man wolle selbst die Aktionsformen wählen, die man für angemessen und vermittelbar halte. Das ist zwar kein Aufruf zur Gewalt, aber es ist ein Spielen damit. Das finde ich nicht richtig.

Trägt die Rote Flora also eine Mitschuld an der Eskalation?

Schneider: Das würde ich so nicht sagen. Ich finde aber: Ein spielerisches Verhältnis zur Gewalt ist nicht angemessen. Darüber würde ich mit der Roten Flora gerne sprechen, wenn wir mal wieder ins Gespräch kommen.

Ist Ihr Gesprächsfaden jetzt etwa auch zur Roten Flora gerissen?

Schneider: Herr Blechschmidt, der Sprecher der Flora, und ich reden mal mehr und mal weniger miteinander. Jetzt haben wir lange nicht mehr gesprochen. Die Rote Flora muss wohl erst einmal intern ihre Konsequenzen ziehen.

Glauben Sie, dass der G20-Sonderausschuss noch Ergebnisse bringt?

Schneider: Ich bin da sehr skeptisch. Weil das Format es nicht hergibt. Vertreter des Bundes kommen einfach nicht, weil sie formal nicht verpflichtet sind. Und die Hamburger Vertreter sagen dann, sie wüssten vieles nicht, weil das ja Bundessache sei. Ich halte das für ein von vornherein abgekartetes Spiel. In einem echten Untersuchungsausschuss hätten wir andere Möglichkeiten. Aber den wollte die CDU nicht. Hinzu kommt: Wir sind die einzigen, denen das Thema Grundrechte dort noch wirklich am Herzen liegt. Die Grünen sind uns bei diesem Thema ja leider verloren gegangen.

Sie sagen, Sie stünden für Rechtsstaatlichkeit, aber kritisieren die Öffentlichkeitsfahndung nach den G20-Randalierern als „Menschenjagd“. Dabei hat die Justiz jede Entscheidung überprüft.

Schneider: Ich habe bei dieser Aussage an den Soko-Leiter gedacht, der in Richtung der Beteiligten gesagt hat: „Wir werden viele von euch kriegen.“ Das ist keine Bemerkung, die ein Polizist äußern sollte. Ich weiß außerdem auch um die enorme Belastung für die Richter.

Sie behaupten, dass die Justiz bei der Genehmigung der Fahndung geschlampt hat?

Schneider: Ich behaupte, dass die Genehmigung vorschnell war. Ein Beispiel ist doch schon bekannt: Ein rechter Video-Blogger hat sich im Geschehen selbst gefilmt und Videos ins Netz gestellt. Man hätte ihn also auch ohne Öffentlichkeitsfahndung finden können. Die Polizei sagt nun, man hätte „1.000.000.000 Videos“ sichten müssen, um ihn zu identifizieren und sich die Öffentlichkeitsfahndung nach ihm zu sparen. Dabei reicht eine ganz einfache Suche bei YouTube mit dem Suchbegriff „G20“ und „Rewe“. Das zeigt doch, dass nicht alle Mittel vor Veröffentlichung der Bilder ausgeschöpft worden sind.

Glauben Sie, dass das Dezernat Interne Ermittlungen die mutmaßlichen Übergriffe von Polizisten aufklären wird?

Schneider: Die Ermittlungen scheinen in einem frühen Stadium zu stecken. Ich finde es aber seltsam, dass die Soko „Schwarzer Block“, die so umfangreiches Videomaterial sichtet, bislang nur zu drei von 115 Ermittlungsverfahren beigetragen hat.

Wir haben über Selbstkritik gesprochen. Gibt es etwas, das Sie sich selbst vorwerfen?

Schneider: Ja. Bei einer Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung vor dem Gipfel mit vielen jungen Leuten sagte jemand, dass Gewalt manchmal auch zu guten Ergebnissen führe. Ich habe darauf nicht reagiert. Das war ein Fehler. Ich hätte widersprechen müssen und das so nicht im Raum stehen lassen dürfen. Das werde ich in Zukunft anders machen.