Hamburg . Hier lebt die Tradition: Jens Meyer-Odewald über den Gesellschaftssaal des Hotels Vier Jahreszeiten. Mehr Hansestadt geht nicht.
Es begab sich aber zu der Zeit, dass Rotgardisten auf dem Dach des Alsterpavillons Position bezogen und das Portal des Hotels Vier Jahreszeiten unter Beschuss nahmen. Glücklicherweise beherrschten die Revolutionäre ihre Flinten weniger gut als ihre Parolen. Ein Jahrhundert ist das her.
Der Charme des Gebäudes mit der Adresse Neuer Jungfernstieg ist geblieben. Vor gut 120 Jahren wurde dieses illustre Kapitel norddeutscher Gastfreundschaft aufgeschlagen. Mit diesem geschichtlichen Bewusstsein lasse ich mich in der Wohnhalle des Hotels auf einem Polstersessel nieder. Ein Gefühl wie Gott in Hamburg. Wahlweise fällt der Blick auf das vornehme Publikum im Raum oder auf die Binnenalster. Mehr Hansestadt geht nicht.
Was sind das für Menschen, die unmittelbar vor dem Heiligen Abend Zeit haben und sich gepflegt der Muße hin-geben? Entfliehen sie der Hektik vor dem Fest? Sind es Lebenskünstler? Oder Leute mit reichlich Geld, für die Freizeit kein hohes Gut ist? Weil sie viel zu viel von beidem haben und die kleinen Freuden des Lebens nicht zu schätzen wissen?
Genuss, Lebensfreude und Faible für Stil
Näheres Hingucken beantwortet zumindest die letzte Frage. Genuss, Lebensfreude und Faible für Stil sind dem Gros der Gäste anzumerken. In der Wohnhalle, die besser den Namen Gesellschaftssaal trüge, herrscht eine inspirierende Geräuschkulisse. Immer wieder hallt Lachen durch den 200 Quadratmeter umfassenden, denkmalgeschützten Raum im Erdgeschoss, direkt links neben dem Haupteingang.
Ein Herr mit dunklem Anzug und gewinnendem Wesen fragt nach meinen Wünschen? Es ist Andreas Winkels, der Restaurantleiter. Ein Tee? Ja, sehr gerne bitte. Der Mann ist ausgebildeter „Master of Tea“, also höre ich auf seine Empfehlung. Aus einem goldfarbenen Samowar lässt er heißes Wasser in eine Kanne fließen. Dazu serviert Winkels Gebäck aus der hauseigenen Patisserie. Boomerangs für die Adventsdiät. Fraglos gibt’s schlimmere Dienstaufträge. Dieser Tag ist dein Freund.
Das ältere Ehepaar am Tisch nebenan bestellt einen Kaffee Pompadour und eine Schokolade Bénédictine. Das machen sie alle Jahre wieder, verrät die Dame später. Beide kommen aus Salzburg, besuchen zu Weihnachten ihre Tochter plus Familie in Hamburg und buchen von jeher dieses Hotel. Die nachmittägliche Mußestunde in der Wohnhalle ist Tradition.
Über der Feuerstelle prangt das Hamburger Wappen
In der Ecke haben zwei junge Frauen Platz genommen. Sie tuscheln angeregt, kichern ungeniert. Gut so. Vor ihnen steht eine Étagère, beladen mit Köstlichkeiten. Es handelt sich um den Königin Victoria Afternoon Tea, den Renner in dieser Zeit. Das weiß ich von Kellnerin Julia, einem fröhlichen Engel der Gastronomie. Die 16 Tische in der Wohnhalle sind seit Wochen ausgebucht. Ohne Reservierung geht nur selten etwas. „Und am Heiligen Abend“, flüstert Herr Winkels beim Nachgießen des Wassers, „werden die Plätze quasi vererbt.“ Die gut betuchte Gesellschaft Hamburgs pflegt in aller Ruhe einen Aperitif zu sich zu nehmen, um anschließend in den Restaurants des Hauses zu tafeln. Das war schon immer so.
Herrlich entspannt geht mein Blick auf Reise. Gestern ist heute – und heute ist gestern. Vergangenheit und Gegenwart verschmelzen in Harmonie. Natürlich hat das seinen Preis. Wer Geld hat, kann sich etwas gönnen. Zufriedenheit und Glück jedoch kann man sich nicht kaufen. Das beruhigt.
In diesem Wohnzimmer, dem wahrscheinlich vornehmsten Refugium Hamburgs, lebt die Historie. Neben dem Kamin aus französischem Sandstein hängen Ölgemälde seiner Königlichen Hoheit Prinz Heinrich von Preußen und seiner Ehefrau Irene. Über der offenen Feuerstelle prangt das Hamburger Wappen mit der Hammaburg.
Geschmückter Tannenbaum
In der Mitte der Wohnhalle des Hotels steht ein geschmückter Tannenbaum. Daneben befindet sich ein hausgefertigtes Lebkuchenhaus mit mehreren Etagen. Der Vorgänger ging beim Abbau am Dreikönigstag dieses Jahres zu Bruch. Ich lasse den Notizblock und einen Anstandskeks liegen. Auf in die Empfangshalle auf der anderen Seite des Hotelportals.
Hier herrscht geschäftiges Treiben. Trubel vor dem Fest. Während der Feiertage ist das Hotel praktisch ausgebucht. „Viele sind Stammgäste“, weiß die Guest-Relation-Managerin Alexandra Mayer, eine herzerfrischende Bayerin. Sie sitzt an einem Schreibtisch am Fenster. Als Gastgeberin – auch für die VIPs – schweigt sie diskret über den ganz normalen Wahnsinn ihres Berufs.
„Das Wort Nein gibt es nicht“, verrät sie vielsagend. „Ich weiß nicht“ ist gleichfalls tabu. Wenn jemand einen Last-minute-Tannenbaum mit violetten Kugeln auf seiner Suite haben möchte, kein Problem. Gestern bat einer darum, das Geschenk für seine Gattin vom Juwelier Tiffany am Neuen Wall abzuholen. Aber gerne doch. Und als an ihrer früheren Wirkungsstätte ein Hotelgast seinen Sprösslingen Gutes tun wollte, kam eben der Schneemann. Frau Mayer orderte einen Lkw, dessen Fahrer Schnee vor dem Chalet ablud. Voilà.
Kundschaft naht. Anlass zu einem Abstecher zum Geschenkestand in der anderen Ecke des Foyers. Hinter der Wand befindet sich das Restaurant Haerlin. Auf der Karte stehen heute zum Beispiel Kaisergranat mit Seeigelhollandaise oder Hirschkalbsrücken in Moosbeeren-Pfeffersauce mit grünem Wacholder. Das Menü kostet 185 Euro, mit Weinbegleitung 118 Euro mehr. Schluck.
Jemima Blunert und Kaja Wauer, zwei aufgeschlossene junge Frauen, erläutern den Hintergrund. Der Geschenkshop ist von jeher ein Projekt von Auszubildenden im dritten Lehrjahr. Wer keine Zeit oder keine Lust hat, sich in das Gewusel der umliegenden Einkaufsstraßen und Passagen zu stürzen, schätzt den Oasencharakter des Vier Jahreszeiten – und kauft backbords der Rezeption ein. Im Angebot befinden sich besondere Teelichter für 6,50 Euro, ein großer Schokoweihnachtsmann für zwölf Euro, aber auch eine Pelzdecke für 7500 Euro.
Die Zeit ist hier tatsächlich stehen geblieben
Ob sich meine Holde daheim freuen würde? Wohl eher nicht. Also betrachte ich lieber das Kommen und Gehen an der Rezeption. Die mehr als 250 kleinen Holzfächer im Rücken der Mitarbeiter dienen als Ablage für Zimmerschlüssel. Das war schon 1897 so. Die meisten Kästchen sind leer. Offensichtlich sind viele Gäste oben. Was mögen sie dort machen? Ein Nickerchen? Sehen sie fern, telefonieren sie mit ihren Lieben, so es diese gibt, sortieren sie ihre Geschenke? Hoffentlich langweilen sie sich nicht.
Die Aussicht auf eine weitere Tasse Darjeeling lenkt die Schritte zurück in die Wohnhalle. Ein guter Geist hat Kekse nachgelegt. Irgendwie, sagt die innere Stimme, ist an diesem Ort die Zeit stehen geblieben. Dabei ist 2017 doch im Sauseschritt vergangen. Ich glaube, dass Zeit mit zunehmendem Alter wirklich schneller vergeht.
Zwar wurde im Hintergrund mit viel Aufwand alles auf den technisch modernsten Stand gebracht, doch auf den ersten Blick sieht dieses Wohnzimmer so aus wie auf Fotos von früher. Das Mobiliar, die Leuchter, der Marmorboden mit den teuren Teppichen, die beiden Pokale auf dem Sims, die Fensterfront mit Blick direkt aufs Wasser – genau so beschreiben es alte Bücher und die vor gut einem halben Jahr erschienene Chronik.
Handschlag mit Herrn Winkels. Er muss am Heiligen Abend und den beiden Weihnachtstagen arbeiten. Normal für ihn. Zum Ausklang fällt mein Blick auf die uralte Standuhr. Die Zeiger stehen auf zwölf Uhr. High Noon, rund um die Uhr.
Denn kaum zu glauben, indes wahr: Die Zeit ist hier tatsächlich stehen geblieben. Ein Geschenk des Himmels.