Hamburg. Willkommen auf der Plaza heißt es für alle, die keine Konzertkarten ergattern. Für Joachim Mischke klingt es schon dort nach Musik.

Es begab sich aber zu der Zeit, bei diesem matten Dezembervormittagslicht, das mit seiner liebenswürdig verpennten Gräue aussieht, als hätte Petrus in einer Nachtschicht den Hafennebel ­püriert: dass es zur Begrüßung, zur ersten Einstimmung erstaunlich ruhig war auf der Elbphilharmonie-Plaza. Nicht still, dafür müsste sie unbelebt sein. Nur: ruhig.

Tagsüber ist dieser spezielle Ort, wenn man Glück hat, ja so gar nicht eindeutig laut, wie man es von einer frischen globalen Tourismusattraktion ­erwarten könnte, die jetzt schon jährlich so viele Besucher hat wie die Sixtinische Kapelle, und die ist 533 Jahre älter. Dröhnend dem Rest der Welt von sich und seiner Einmaligkeit zu erzählen ist ohnehin nicht ihre Art. Dieser Ort ist die Kunst der Fuge, das abenteuerlich ­geformte Dazwischen, das sich als Begegnungsort mit der DNA der Hansestadt inszeniert, herausgehoben auf rund 37 Metern über der Elbe. Es klingt dort höchstens sanft vor, was abends in den Konzertsälen passiert.

Über vier Millionen Menschen

Über vier Millionen Menschen sind hier seit Anfang November 2016 gewesen, haben bei Wind und jeder Art von Wetter gestaunt, geknipst, ihre Fotos in alle Welt gepostet, nach jenen Ecken und Kanten gesucht, denen man die vielen Preissteigerungen schon von Weitem ansehen könnte.

Überhaupt sind die rund 4000 Quadratmeter, in etwa so groß wie der Rathausmarkt, ein ganzjähriger Ort der Vorfreude auf hoffentlich Besonderes oder sogar Einzigartiges in den Etagen darüber. Mit einer Portion Künstlerglück, das nicht beim Ergattern von Eintrittskarten endet, ist an jedem einzelnen Spieltag Bescherung und nicht nur am 24. Dezember; Beschenkung mit dem Genuss und der Erlebnistiefe, die nur gute Musik bieten kann, total egal, aus welcher Geschmacksrichtung, Himmelsrichtung oder Epoche sie kommt.

Backsteingewordener Trostpreis

Man kann nach so einem Abend erschüttert und beglückt eine der Freitreppen herunterwanken und sich, mit noch rasendem Puls, fragen: Was bitte war das denn gerade? Man kann aber auch flott und frustriert nach Hause eilen und aufs große Mehr beim nächsten Mal hoffen.

Die Plaza ist also ein begehbarer Wunschzettel, ein backsteingewordener Trostpreis für alle, die – noch – kein Konzertticket haben. Allerdings: mein lieber Herr Gesangsverein, was für ein Trostpreis! Sie ist Durchgangsstation für Stammgäste in den Konzerten und Endstation für die vielen, sehr vielen Touristen, denen das Entscheidende in ihrer Andenkensammlung aus Hamburg fehlt. Die dennoch froh sind, hier zu sein, kurz vor der Ziellinie Kartenkontrolle ausgebremst.

Die vielen Sprachen der Besucher vermischen sich

Zu hören gibt es tagsüber auch hier ­genug. Einiges davon muss man sich denken, um die ausufernden Akkordfolgen zu einem Gesamtbild zu vervollständigen. Für jeden Abschnitt der Entstehungsgeschichte dieses einzig- und eigenartigen Gebäudes gäbe es auch, wie von Beethoven und Mozart immer mitgedacht und mitkomponiert, die zur Stimmung passende Tonart für das ­atmosphärische Grundrauschen, das sich in die realen Hafengeräusche mischt: unbeschwertes F-Dur für die fröhliche Euphorie der Anfangsphase vor mehr als anderthalb Jahrzehnten. Das grottenfinstere d-Moll für die lange Zeit, in der das Prestigeprojekt dramatisch auf der Kippe stand, mehr tot als lebendig war und schon längst keine Geige mehr im Himmel hing. Heldenhaftes Es-Dur, passend zum Happy End, das mit der Neuordnung der verhängnisvollen Verträge durch Bürgermeister Olaf Scholz und seine Kultursenatorin Barbara Kisseler eingeleitet wurde.

Dezente Weihnachts-Vorboten

Eindeutig Weihnachtliches muss man hier suchen, dann findet man es aber auch. Der Weihnachtsbaum in der Hotellobby des Westin, den Nicht-Gäste nur durch die Glasscheiben besichtigen können. Das Tannenzweigbüschel, verziert mit roten Kügelchen, auf den Stehtischen des Gastrobereichs. Standard-Deko, aber: Der Gedanke zählt. „Elphis“ getaufte Mutzenmandeln, 100 Gramm für 2,50 Euro, liegen neben dem Christstollen. Um die Ähnlichkeit der Teigklümpchen mit ihrer Namenscousine zu erkennen, braucht es allerdings viel ­guten Willen.

Wer möchte, kann schon in den eingemauerten Glaspailletten neben den Rolltreppen dezente Weihnachts-Vorboten sehen, und erst recht in den sanft schimmernden Kugellampen des cremeweißen Plaza-Himmels. Eindeutiger sind da schon die elbphilharmonischen Schneekugeln, die man neben Büchern, Bechern und Lippenbalsam im Elbphilharmonie-Shop kaufen kann, als elegantes Update der schlimm verunglückten Erstlinge aus den ersten Jahren des Projekts, damals mit banalem Motiv-Aufdruck auf noch banalerer Pappe.

Elphi-Schneekugel
Elphi-Schneekugel © HA | Jomi

Die andächtige Ruhe, mit der Besucher vor der echten Fototapete hinter der Fassadenlücke Richtung Landungsbrücken stehen bleiben, um sich das ­Hafenpanorama Richtung Nordsee zu Gemüte zu führen, hat etwas fast schon Meditatives. Spätestens hier vermischen sich die Sprachen der Besucher zu einem internationalen Durcheinander. Und spätestens auf der kurzen geraden Zweit-Rolltreppe zum Plaza-Entree ­zücken die ersten asiatischen Touristengrüppchen zum ersten Mal ihre Selfie-Stöcke.

Die ersten von vielen Erinnerungsfotos entstehen hier, dem Panorama ist das egal. Die Michel-Turmspitze ist ­malerisch umnebelt. Die Tanzenden Türme an der Reeperbahn leider nicht. Die U3 rattert beschaulich vor dem Baumwall durchs Bild, der alltägliche Schiffsverkehr verkehrt von da nach dort und zurück.

Von der Plaza aus sieht man so ziemlich alles

Auf dem Westfassaden-Balkon vom Restaurant „Störtebeker“, eine Etage unterhalb dieses Panoramafensters, steht ein Weihnachtsbaum und leuchtet routiniert vor sich hin, und aus den Lautsprechern trällert Mariah Carey ihr unkaputtbares „All I Want For Christmas Is You“ auf einen frühen Gast hinab, der ein geruhsames Vormittagsbier schon hinter sich hat.

Schön in diesem Moment die Vorstellung, dass einer der knapp vier Dutzend Luxuswohnungs-Besitzer in den Etagen oberhalb der Plaza sich für das viele Geld den leicht bekloppten Spaß gönnen würde, eine lebensgroße Weihnachtsmann-Puppe an seiner Stimm­gabel-Fensteröffnung baumeln zu lassen. Wenigstens so lang, bis ihn ein Bannfluch der Hausverwaltung ereilt, jetzt aber gaaanz flott diese Design-Verstörung abzumontieren, bevor es eine Abmahnung von den Architekten Herzog & de Meuron setzt.

Im Parkett dieser Show, an der Westspitze der Landzunge steht ein gut ­gefüllter Bauschutt-Container, Erinnerung daran, dass die eine oder andere Eigentumswohnung noch sensationeller gemacht wird, als sie ohnehin schon ist. Ob man sich in der 17,. 19. , 20. Etage kennt, sich halbwegs freundlich grüßt oder konsequent anschweigt? Haben die alle Postkästen, Zeitungs-Abos, Türmatten mit „Spacken müssen draußen bleiben!“-Aufdruck? Und wo bringt man als Elbphilharmonie-Bewohner den blöden Küchenabfall hin? Oder wird der vom Concierge abgeholt? Luxusprobleme.

Selbstspielende Flügel im Angebot

Beim Außenplaza-Rundgang lohnt sich ein Zwischenstopp in der Mitte der Ostseite, direkt oberhalb des Kaiserkais. Vor einigen Jahren war dort, wo jetzt das HafenCity-Leben inszeniert wird, nur planierte Brache, hochpreisige Leerfläche, staubige Stadtsteppe. Jetzt werden da unten selbstspielende Flügel angeboten, nicht gerade ein Mitnahmeartikel, ein Geigenbauer hat sich als Musiker-Notfallambulanz angesiedelt. Von der Plaza aus sieht man längst nicht jeden, aber so ziemlich alles. Präsentierteller eben, und ein bisschen wie Miniatur-Wunderland in größerem Maßstab.

Auf dem gemauerten Außenplaza-Vorsprung Richtung Binnenalster haben sich zwei Herren vom Aufsichtspersonal geparkt, beschaulich wie ein altes Ehepaar. Viel wird nicht geredet, man kennt sich. Von Südost galoppiert eine Schülergruppe lärmend ins Personal-Stilleben. Es ist eine gewisse Beruhigung, dass sich die blöden Sprüche aus der eigenen Jugend nicht geändert haben: Doof geboren, nichts dazugelernt, die Hälfte vergessen. So was. Fröhliche Weihnachten auch für euch, Jungs.

Avantgarde-Performance

Zurück auf der mit einem Hotel, zwei Konzertsälen und etlichen Foyers überdachten Plaza klöppelt es leise und rhythmisch. Eine Avantgarde-Performance mit philosophischem Unterbau, Schlagzeug-Studenten auf Wandertag? Besser: Zwei Landschaftsgärtner, Thorsten Kleier und Steffen Seifert, die, kein Spaß, die „taktilen Leitprofile“ überprüfen. Jene Markierungsbögen, die von den Wänden zu den Treppen führen. Das Leitsystem für Sehbehinderte, formschön in den Backsteinboden eingelassen, schwächelt rätselhafterweise.

Immer wieder schaffen es Besucher offenbar buchstäblich im Vorbeigehen, das eine oder andere Element aus seiner Zweikomponentenkleber-Verankerung loszutreten. Sobald es wieder mal soweit ist, dass Not im ­Boden ist, werden die Fachleute gerufen. Die Lücken werden von ihnen per Hand aufgefüllt, nachdem alle abgeklopft wurden; am besten geht das nachts, wenn die Plaza menschenleer ist. Von Touristen seien sie schon gefragt worden, ob die Dinger als Souvenirs zu kaufen ­wären, berichtet Kleier.

Dieser Ort weckt Sehnsucht nach Musik

Wenige Meter weiter, zwischen den Fahrstühlen ins Erdgeschoss und der Treppe zum Kleinen Saal schaufeln Mitarbeiterinnen veraltete Ausgaben der hauseigenen Magazine, von nun an umsonst, auf den Tresen der Behelfsgarderobe. Sie steht dort, bis das Foyer des Kleinen Saals nach der Wasserschaden-Sanierung wieder benutzbar sein wird. Mascha Krause studiert Pharmazie, wenn sie hier nicht arbeitet. Wer in diesem Team einen Job möchte, wird dafür auch mit Fotos trainiert, um ­bekannte Persönlichkeiten zu erkennen. Nicht, dass jemand versehentlich den NDR-Chefdirigenten Thomas Hengelbrock mit dem Generalintendanten Christoph Lieben-Seutter verwechselt.

Vor der Spiegelwand steht eine junge Asiatin mit Selfie-Halterung fürs Handy, regungslos und hochkonzentriert. Sie fotografiert aber nicht sich selbst, sondern filmt das Imagefilmchen des NDR Elbphilharmonie Orchesters ab, das hoch über ihrem Kopf auf einem ­Monitor stumm abläuft. Schon wieder einer dieser Vorboten von oben, ein tolles Bild für die Sehnsucht nach Musik, die dieser Teil der Stadt weckt wie kein anderer.

Der Rest des weiter gehenden Plaza-Lebens interessiert sie nicht, er betrifft sie noch nicht mal. Eine Gruppe Kinder, die mit großen Augen staunen und alle Eindrücke aufsaugen. Mascha Krause hinter dem Garderobentresen. Das leise Hämmern der Landschaftsgärtner auf die taktilen Leitprofile. Die Plaza-Sinfonie, ein Thema mit immer wieder neuen Variationen. Beim Fahrt mit der gebogenen Rolltreppe hinab in den Alltag kommen einem staunend neue nach oben ­gerichtete Gesichter entgegen. Schöne Bescherung da oben.