Hamburg. Beim G20-Gipfel waren Reporter des Abendblatts im Dauereinsatz: Wie einer von ihnen die Krawalle erlebte.

Dienstag, 4. Juli

Am Dienstagabend ist die Welt noch in Ordnung. Auf dem Alma-Wartenberg-Platz in meiner Heimat Ottensen haben sich Hunderte Menschen zu der Veranstaltung mit dem zwar sinnfreien, aber irgendwie putzigen Titel "Hedonistisches Massencornern gegen G20" zusammengefunden. Ein Lkw mit DJ-Pult beschallt die Menge, die Kiosks im Umkreis machen gute Geschäfte.

Ich schaue mir die Menschen an, die da "demonstrieren" und komme zu dem Schluss, dass es keine Staatsfeinde, Linksradikale, Autonome sind: Sondern zum ganz überwiegenden Teil ganz normale (Berufs-) Jugendliche. Mate- und Bierflaschen klötern über das Kopfsteinpflaster, die Bässe wabern durch die Gassen. Ein paar Meter weiter steht die Polizei – in Wartestellung, dafür aber in beeindruckender Menge.

In den Seitenstraßen rund um den kleinen Platz zähle ich innerhalb von 15 Minuten Spaziergang genauso viele Mannschaftswagen. Ein paar Kilometer weiter kommt es zu den ersten Zusammenstößen zwischen Demonstranten und Polizisten, die Beamten räumen die Kreuzung am Neuen Pferdemarkt. Rückblickend betrachtet eine Petitesse.

Mittwoch, 5. Juli

"Lieber tanz' ich als G20" lautet das Motto der ersten Großdemonstration, die durch die Stadt ziehen wird – laut, aber friedlich. Die Bilder ähneln denen vom Dienstag: Von der Prämisse "irgendwie gegen G20" zu sein abgesehen, lässt sich kaum eine ernsthafte politische Forderung feststellen. Dafür ist der Durst groß.

Der Autor ist Online-Redakteur beim Hamburger Abendblatt
Der Autor ist Online-Redakteur beim Hamburger Abendblatt © Roland Magunia | Roland Magunia

Und wäre da nicht die unsensible Lautsprecherdurchsage ganz zum Schluss, in der sich eine der Organisatorinnen über die Polizeiabsperrung am Valentinskamp echauffiert, der Tag wäre völlig ohne "Randale" zu Ende gegangen. So aber fühlt sich ein angetrunkener Demonstrant bemüßigt, zwei Flaschen zu werfen. Zweieinhalb Monate später wird der 29-Jährige zu einem Jahr Haft auf Bewährung verurteilt.

Die Reste des "Demo-Raves" vereinigen sich noch für eine kurze Runde um den Block mit den Teilnehmern von "Lesen ohne Atomstrom gegen G20", die aus der Laeiszhalle kommen. Wie viel des Engagements politischer Empörung geschuldet ist, und wie viel der Tatsache, dass die Beginner und Samy Deluxe von einem Lkw aus rappen – ich habe keine Ahnung.

Donnerstag, 6. Juli

Vor diesem Tag, vor dieser Demo haben sie alle gewarnt: "Welcome to Hell". Die Anmelder genauso wie die Polizisten. Die im Vorhinein beschworenen Weltuntergangs-Szenarien ("Die Polizei habe überhaupt nicht vor, die Demonstration laufen zu lassen und werde sie brutalstmöglich zerschlagen/Den Demonstranten gehe es samt und sonders nur darum, Randale zu machen, an politischem Protest hätten sie kein Interesse"), am Nachmittag will ich sie so gar nicht glauben.

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    Die Sonne scheint, der Fischmarkt füllt sich, die ersten Reden werden auf der Bühne geschwungen, Menschen sitzen in kleinen und größeren Gruppen zusammen, halten Klönschnack – und erste Transparente, auf denen die Rede von einer besseren Welt ohne Kapitalismus ist. Dass gerade die jüngeren Antikapitalisten gern in Markenklamotten im Gesamtwert von mehreren Hundert Euro herumlaufen – ein Lächeln darüber kann ich mir nur schwer verkneifen.

    Vor, hinter und um den Fischmarkt herum sammelt sich derweil die größte Ansammlung von Polizisten, die ich in meinem Leben gesehen habe. Auf der Palmaille steht das bayerische Unterstützungskommando USK, an der Kreuzung Fischmarkt/Große Elbstraße die versammelten Eingreiftruppen Norddeutschlands. Weiter hinten in beiden Richtungen, am S-Bahnhof Landungsbrücken und auf Höhe des Stilwerks, steht das schwere Gerät: Räumpanzer und Wasserwerfer.

    Irgendwann sind alle revolutionären Reden gehalten

    Ebenfalls irgendwo im Hintergrund hat sich derweil der Schwarze Block für seinen großen Auftritt bereit gemacht: Mehrere Hundert Menschen ziehen kurz vor Beginn der Demo über den Fischmarkt, sie skandieren Parolen, die ich aus meiner Jugendzeit kenne: Als ich 1992 nach dem Mordanschlag auf zwei türkische Familien in Mölln auf die Straße gegangen bin, haben wir auch "Hoch! Die! Internationale! Solidarität!" gerufen. Wir hatten keine Ahnung, was das denn nun genau heißt, aber es klang gut.

    Irgendwann sind alle revolutionären Reden gehalten, alle Gemeinschaftsgefühl stiftenden Songs ("You'll Never Walk Alone") angestimmt, die Demonstration soll beginnen. Ich stehe ein ganzes Stück weiter hinten, an der Hafenstraße. Denn selbst ohne Demozug und Tausende Polizisten finde ich die Straße bis zur Brücke am Golden Pudel Club beklemmend: rechts die Mauer, links die Gebäude. Es geht nur vor oder zurück. Rund um den Park Fiction und auf der Brücke ist es ebenfalls gesteckt voll. Wer ist Sympathisant, wer Schaulustiger? Ich habe keine Ahnung.

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    Ich weiß nur das: Erst passiert lange nichts, dann alles auf einmal. Ich höre Sirenen, das Hochlaufen der Aggregate in den Wasserwerfern, höre Schreie, Sprechchöre, Befehle, muss auf einmal laufen. Wenige Minuten nach der "Auflösung" der Demonstration ziehen die ersten Rauchschwaden über Hamburgs Himmel. Ich fahre ihnen hinterher, sehe den ersten brennenden Müllcontainer. Höre etwas von "Angriffen" auf Ikea und auf eine Bank in Altona, fahre weiter, sehe die gesplitterten Scheiben. Der Spur des Vandalismus zu folgen ist einfach. Sie führt über die Max-Brauer-Allee in Richtung Schanzenviertel.

    Am unteren Ende desselben: der pointierteste Gegensatz der Gipfelproteste. Während auf der Kreuzung Polizisten und Demonstranten (Randalierer? Chaoten?) Katz und Maus spielen, bleibt die kleine Grünfläche am Grünen Jäger eine Oase des Friedens. Der vom Recht auf Stadt ausgerufene Arrivati Park beeindruckt mich. Er ist Teil des Protests gegen den Gipfel, wird aber von allen Seiten respektiert. Autonome nutzen ihn nicht als Rückzugsort oder Aufmarschplatz, die Polizei lässt die Menschen dort gewähren.

    Irgendwann melde ich mich ab und fahre nach Hause. Vorbei an Idioten, die es für eine tolle Idee halten, unter der Sternbrücke ein Feuer anzuzünden.

    Freitag, 7. Juli

    Es ist etwa 8 Uhr morgens, ich sitze in meiner Küche und trinke Kaffee, als ich vom Mob höre, der wenige Hundert Meter von meiner Wohnung entfernt sein Unwesen treibt. Am Straßenrand stehen qualmende Wracks geparkter Autos, die Feuerwehr ist dabei zu löschen. An der Kreuzung Palmaille treffe ich die journalistisch gesehen falsche Entscheidung: Ich biege links ab, Richtung St. Pauli. Später erfahre ich, dass die Chaoten die Elbchaussee hinauf gezogen sind. Eine Freundin, die ein Geschäft am Fischmarkt hat, meldet sich bei mir und fragt, ob ich zufällig in der Nähe sei. Sie hat Angst, dass auch ihr Laden Opfer eines Angriffs geworden sein könnte. Nicht, weil sie sich für den G20-Gipfel ausgesprochen hätte oder sonstwie ins Visier selbst ernannter Revolutionäre geraten könnte. Sondern weil die Zerstörung augenscheinlich ziellos ist – keine politische "Meinungsäußerung", sondern reine Lust am Chaos. Ich kann sie beruhigen.

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    Bis zum Mittag ist es gespenstisch ruhig in der Stadt. Der Straßenverkehr ist zum Erliegen gekommen. Doch ab dem Nachmittag bestätigen sich die Befürchtungen, dass das noch längst nicht alles war. Ein Demonstrationszug versucht, in Richtung Elbphilharmonie durch die Linien der Polizei zu brechen, es kommt zu massiven Zusammenstößen.

    Die überwiegend jugendlichen Demonstranten flüchten den Hügel an der Helgoländer Allee hinauf. Von der Brücke aus werden nachrückende Polizeiautos mit Steinen beworfen. Dann treibt eine Sondereinheit sie auseinander. Vor dem Michel hat sich eine Gruppe Menschen verschanzt. Die Besatzung des Wasserwerfers kommt mit ihrem riesigen Fahrzeug nicht zwischen den Pollern an der Kirche hindurch und versucht, die Leute wenigstens aus der Entfernung nasszuspritzen.

    Nach einem Abstecher in die Redaktion (der sich aufgrund der diversen Sperrriegel der Polizei schwieriger gestaltet als angenommen), mache ich mich auf den Weg zurück in Richtung St. Pauli/Sternschanze. Dort wird die Lage stetig unübersichtlicher, auch schon weit vor Sonnenuntergang: Irgendwelche Leute haben die Findlinge vor dem Millerntor-Stadion auf die Budapester Straße gezerrt und sind augenscheinlich schwer zufrieden mit sich selbst. Zumindest so lange, bis Räumpanzer, Wasserwerfer und Hundertschaften kommen und sie verjagen.

    Hilflose Polizei am Neuen Pferdemarkt

    Geradezu hilflos wirken die Beamten am Neuen Pferdemarkt. Dieser ist von den Randalierern übernommen worden, und die Polizei ist augenscheinlich nicht imstande, etwas dagegen zu tun. Jedes Vorrücken wird mit einem Hagel von Wurfgeschossen quittiert, die Einheiten ziehen sich rasch wieder zurück. Die Chaoten hingegen sind bemerkenswert gut organisiert: Die verschlossenen Behälter der Müllcontainer in einer Seitenstraße werden aufgebrochen und ihr Inhalt weggekarrt. Der Müll dient als Futter für die brennende Barrikade, wo Schulterblatt und Schanzenstraße zusammenlaufen.

    Ich fahre von der anderen Seite aus ins Viertel, zunächst über die Lerchenstraße. Dummerweise fällt mein Ausflug mit einem vergeblichen Vorstoß der Polizei zusammen, weshalb mir auf einmal Hunderte Menschen entgegen kommen. Eine spanisch sprechende Gruppe von sieben oder acht jungen Leuten fällt mir auf: Sie bewegen sich mitnichten kopflos, geben sich Handzeichen und wirken insgesamt wie eine paramilitärische Einheit. Ich sehe zu, dass ich wegkomme. Diese Menschen machen mir Angst.

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    Über den Neuen Kamp und die Sternstraße nähere ich mich von wiederum einer anderen Seite (es ist ja nicht so, als ob man nur aus einer Richtung ins Schanzenviertel käme, das hätte man den auswärtigen Polizisten vielleicht erklären können). Geplünderte Geschäfte, Rauchschwaden, vermummte Gestalten, die Parolen an die Wände sprühen. Dazwischen: Flaneure, die das Treiben neugierig beobachten oder in den Bars sitzen. Es ist Freitagabend und den lässt man sich doch nicht von ein paar Hundert Randalierern verderben, die gerade das Viertel auf links ziehen.

    Als ich mitbekomme, dass das Spezialeinsatzkommando dabei ist, einzugreifen, beschließe ich, nach Hause zu fahren. Vor diesen Menschen habe ich Angst.

    Auf dem Heimweg komme ich an mehreren brennenden Barrikaden vorbei.

    Sonnabend, 8. Juli

    "G20 Not Welcome". So weit bin ich inzwischen ohne Abstriche bei den Demonstranten. Ich habe keinen Bock mehr, will keinen Steine schmeißenden Idioten oder mit Pfefferspray sprühenden Polizisten mehr begegnen, keinen Barrikaden oder Polizeisperren mehr ausweichen müssen, nicht mehr vor linksradikalen Paramilitärs oder machttrunkenen Bereitschaftspolizisten flüchten. Der Reiz des ungestörten Radfahrens auf Hauptverkehrsstraßen, er ist auch schon vor längerem verklungen.

    Die größte der Großdemonstrationen gegen den Gipfel, sie geht vergleichsweise geordnet über die Bühne. Ein Kollege beobachtet sogar eine Szene mit Symbolcharakter: Der skandierten Bitte "Helme ab" kommt eine Polizeieinheit unter lautem Applaus nach. So geht Deeskalation. Drumherum sehe ich dafür verschiedene kleinere Scharmützel, besonders - wer hätte das gedacht - in der Umgebung des Schanzenviertels.

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    Je näher der Sonnenuntergang rückt, desto voller wird es dort. Und mir wird klar, dass ich spätestens an diesem Abend keine Trennlinie zwischen pseudo-politischer Gewalt und purem Krawalltourismus ziehen kann. Als die Polizei kurz nach Einbruch der Dunkelheit vorrückt, ist der erste Sprechchor, den ich höre, nicht etwa das sonst allgegenwärtige "Haut ab!" oder "Anticapitalista!". Sondern: "Jetzt geht's los!"

    Das tut es allerdings. Innerhalb von Minuten haben die Beamten die Schanze aufgerollt: Am Schulterblatt sind sie bis zur Bahnbrücke hinter der Roten Flora vorgerückt, in der Schanzenstraße haben sie einige Querstraßen früher gestoppt, in der Hoffnung, dass die Partygänger dieses überdeutliche Zeichen zum Aufbruch nutzen. Vergeblich. Erst die entnervte Durchsage, dass man alle Schaulustigen nun genauso behandeln würde wie Steineschmeißer und Barrikadenbauer, zeigt etwas Wirkung.

    Auf dem Heimweg halte ich nicht einmal mehr an, als ich an brennendem Unrat auf den Straßen vorbeikomme. Ich will nur noch eines: nach Hause.

    Die Frage, die mich seither umtreibt und auf die es leider keine Antwort gibt: Wäre es genauso schlimm gekommen, wenn die Polizeiführung nicht auf die ganz harte Linie, sondern auf Deeskalation gesetzt hätte?