Hamburg. Das höchste Gericht hat der direkten Demokratie deutliche Grenzen aufgezeigt. Jetzt geht es darum, was Abgeordnete sagen dürfen.

Es mag auf den ersten Blick etwas kurios und unverhältnismäßig wirken, dass sich das höchste Gericht mit ein paar beleidigenden Äußerungen eines Bürgerschaftsabgeordneten beschäftigt. Das Hamburgische Verfassungsgericht muss entscheiden, ob das AfD-Mitglied Ludwig Flocken, fraktionslos, am 1. März dieses Jahres zu Recht von Bürgerschaftspräsidentin Carola Veit (SPD) vom weiteren Verlauf der Sitzung ausgeschlossen wurde.

Der Facharzt für Orthopädie hatte in einer Rede vor dem Parlament unter anderem Kanzlerin Angela Merkel (CDU) unterstellt, beim Anblick der deutschen Flagge „Ekel im Gesicht“ zu haben und dem CDU-Bürgerschaftsfraktionschef André Trepoll „Deutschenhass“ vorgeworfen. Das Urteil des Gerichts hat nur symbolische Bedeutung – Flockens Ausschluss von der Sitzung der Bürgerschaft kann schließlich nicht rückgängig gemacht werden.

„Gröbliche Verletzung der Ordnung des Hauses“

Gerichtspräsident Friedrich-Joachim Mehmel machte in der mündlichen Verhandlung am Donnerstag allerdings schnell deutlich, dass es den Richtern nicht nur um den Einzelfall, sondern um eine grundsätzliche Klärung geht. „Es ist die Aufgabe des Verfassungsgerichts, Leitlinien festzulegen, um Handlungssicherheit zu schaffen“, sagte Mehmel im ehrwürdigen Sitzungssaal des Hanseatischen Oberlandesgerichts am Sievekingplatz. Denn: Die „gröbliche Verletzung der Ordnung des Hauses“ – deren Feststellung war die Grundlage für Veits Saalverweis – ist laut Mehmel „ein unbestimmter Rechtsbegriff“. Es gebe einen „Beurteilungsspielraum“ bei den Sanktionen, die in der Bürgerschaft von einem Ordnungsruf (den Flocken auch erhielt) über den Entzug des Wortes bis hin zum Ausschluss von der laufenden Sitzung oder sogar maximal drei Sitzungen reichen.

Es spricht also einiges dafür, dass das Gericht in seinem für Mitte Februar erwarteten Urteil in der Causa Flocken konkrete Kriterien bestimmt, nach denen die Präsidentin Abgeordnete aus dem Saal werfen darf. Zumal sich, auch darauf wies Mehmel hin, das Hamburgische Verfassungsgericht noch nie mit diesem Thema beschäftigt hat. Die Entscheidung kann eventuell auch die Aufforderung enthalten, die Geschäftsordnung der Bürgerschaft zu präzisieren.

Nicht das erste Mal

Es wäre nicht das erste Mal in jüngerer Vergangenheit, dass das Gericht einen konkreten Fall zum Anlass nehmen würde, eine Grundsatzfrage zu beantworten. In einem viel beachteten und umstrittenen Urteil hatten die Richter im Oktober 2016 mit bemerkenswerter Deutlichkeit die parlamentarische Demokratie gestärkt und der Volksgesetzgebung klare Grenzen aufgezeigt. Damals ging es konkret um das Volksbegehren „Rettet den Volksentscheid“, mit dem die direkte Demokratie ausgeweitet und die Volksabstimmungen erleichtert werden sollten. Das Gericht erklärte das vom Verein „Mehr Demokratie“ geplante Volksbegehren einstimmig für verfassungswidrig.

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    Gerade in einer Zeit gestärkter Ränder in deutschen Parlamenten ist eine Klärung der Grenzen dessen, was gesagt werden darf und was nicht mehr, durchaus wünschenswert. Auch in der Bürgerschaft sitzen AfD und Linke, wenngleich die parlamentarische Debatte weitgehend von persönlichen Herabsetzungen und Schmähungen frei ist. Flocken ist der einzige Abgeordnete, der wegen seiner Äußerungen in dieser Legislaturperiode von der Sitzung ausgeschlossen wurde – allerdings schon zweimal. Vor einem Jahr mussten fast alle Linken-Abgeordneten den Saal verlassen, weil sie gelbe Schilder mit der Aufschrift „Stoppt Abschiebungen nach Afghanistan“ während der Haushaltsdebatte hochgehalten hatten. Auch das war laut Präsidentin Veit eine „gröbliche Verletzung der Ordnung des Hauses“ – Proteste sind dort, wo mit Worten gestritten werden soll , nicht erlaubt.

    Berühmte Invektive

    Die „gröbliche Verletzung der Ordnung“ spielte schon in einer der ersten Sitzungen des Bundestages eine Rolle. „Sie sind ein Kanzler der Alliierten“, schleuderte der aufgebrachte SPD-Fraktionschef Kurt Schumacher seinem Gegenspieler Konrad Adenauer (CDU) während der Marathonsitzung am 25. November 1949 entgegen. Die Brisanz des Satzes, der Politikgeschichte schrieb, wird heute nur vor dem Hintergrund der sich gegenüber den Alliierten emanzipierenden jungen Bundesrepu­blik verständlich. Schumacher kassierte einen Ordnungsruf und wurde „wegen der gröblichen Verletzung der Ordnung des Hauses“ für 20(!) Sitzungen ausgeschlossen. Aber die Strafe wurde nicht wirksam: Schumacher und Adenauer sprachen sich aus und verbreiteten eine Erklärung, in der der Sozialdemokrat seinen Zwischenruf zurücknahm.

    Eine der berühmtesten Invektiven in der Geschichte des Bundestages war allerdings nicht die Ursache für einen Rauswurf, sondern bereits eine Reaktion darauf. „Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch, mit Verlaub!“ Kein anderer als der spätere Außenminister Joschka Fischer (Grüne) titulierte 1984 den damaligen Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen (CSU) derart unfreundlich. Stücklen hatte Fischer vorher ausgeschlossen, weil dieser nach heftigen Tumulten die Sitzung mehrfach mit Zwischenrufen gestört hatte.

    Weiteres Grundsatzurteil

    Mit einiger Spannung darf also auf die Entscheidung der Verfassungsrichter in Sachen Ordnungsrufe und Sitzungsausschluss geblickt werden. Übrigens könnte das höchste Gericht 2018 oder 2019 vor einem weiteren Grundsatzurteil stehen. Das wäre der Fall, falls der Senat eine Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit der Volksinitiative „Mehr Hände für Hamburger Kitas“ beantragt. Rot-Grün hielt die Forderungen angesichts von zusätzlichen jährlichen Kosten von mehr als 300 Millionen Euro schon beim Start der Initiative Ende Oktober für nicht umsetzbar. Mit der Grundsatzfrage der finanziellen Folgen von Volksinitiativen hat sich das höchste Gericht auch noch nicht beschäftigt ..G