Hamburg. Die Straße galt als Modell, bevor sie verödete. Neues Buch zeigt den Wandel. Kluge Gliederung und faszinierende Fotos.
Über Architektur kann man herrlich streiten – selbst für Waschbetonbrutalismen finden sich Fürsprecher. So ist es eine gute Idee, dass sich die anerkannte Architekturhistorikerin Sylvia Necker und die Fotografin Johanna Klier der „Großen Bergstraße“ in Altona angenommen haben. Diese Straße steht für einen radikalen Wandel in der öffentlichen Wahrnehmung. Hochgelobt in den 60er-Jahren verkam sie bald zur Ödnis.
„Ich finde das Hässliche eben sehr schön“, beschreibt Necker einen Beweggrund, das Buch zu schreiben. „Ich beobachte die Straße schon lange.“ Die Große Bergstraße steht geradezu modellhaft für Moden in der Stadtplanung. Anfang 1965 wurden die ersten Pläne eingereicht, Ende des Jahres folgte die Baugenehmigung, und schon ein Jahr später war die Einkaufsstraße fertiggestellt. Die Begeisterung von einst klingt heute wie Comedy: „Altonas Frauen haben allen Grund zur Freude. Männer bauten ihnen ein Paradies. Sie schufen die Fußgänger-Einkaufsstraße Neue Große Bergstraße“, schrieb das Hamburger Abendblatt zur Eröffnung.
Buch besticht mit faszinierenden Fotos
„Neu-Altona“ war Teil des größten zusammenhängenden Wiederaufbaugebiets der Hansestadt. Schon 1954 hatte der Neue-Heimat-Stadtplaner Ernst May seine großen Pläne präsentiert. Die liebevoll ausgesuchten Fotos, die aus verschiedenen Archiven stammen, zeigen trostlose Trümmergebiete wie noch intakte Altbauten. Sanierung aber hieß damals vor allem Abriss – nur wenige Häuser überdauerten. In der Stadtplanung regierte das Ideal der autogerechten Stadt und die strikte Trennung von Einkaufen, Wohnen und Büros. May glaubte, dass „die unübersehbaren Häusermeere unserer Städte jegliches Heimatgefühl, aber auch jeglichen Gemeinschaftssinn abtöten würden“.
Fast revolutionär war die Idee der Fußgängerzone. Das Abendblatt feierte diese Premiere: „In ihnen kommt ein bißchen Ferienstimmung auf. Man erinnert sich an den letzten Urlaub im sonnigen Süden, wo man auch Zeit hatte, in aller Ruhe einzukaufen, wo der Einkauf ein bißchen Zeremonie und immer ein großes Vergnügen ist.“
Kluge Gliederung
1973 eröffnet dort das Frappant, eine Shoppingmall mit 30 Geschäften, Restaurants, Disco und Fitnessclub. „Damals war das Einkaufszentrum modern und zeitgemäß“, sagte Necker am Mittwochabend bei der Präsentation des Buches vor überfüllten Reihen in dem ehemaligen Stoffladengeschäft von Frau Tulpe an der Großen Bergstraße. Es blieb nicht lange modern, sondern kriselte schnell – mit der Sanierung von Ottensen und der Eröffnung des Mercado verfiel die Große Bergstraße noch schneller; 2000 verschwand Kaufhof, 2003 schloss Karstadt. Alle Versuche, die Straße zu beleben, scheiterten.
Das Buch besticht mit einer klugen Gliederung und faszinierenden Fotos, bildet die unterschiedlichen Weltsichten auf eine Straße nur schlaglichtartig ab – und verpasst damit eine Chance. Ein Ärgernis ist die gendergerechte Sprache, die Wortungetüme wie „Anwohner_innen, Stadtplaner_innen“ produziert und in der englischen Übersetzung fehlt. Scharf ist die Kritik am Ikea-Neubau. Necker meint, mit dem „Frappant“ habe „die Straße ein schlagendes Beispiel für eine funktionalistische, dem Fortschritt und der Utopie verpflichtete Architektur der späten 1960er-Jahre“ eingebüßt. Eine Stadt aber ist kein Museum für gescheiterte Utopien, sondern ein Lebensraum. Und 77 Prozent der Altonaer stimmten für Ikea statt des Frappants.
Johanna Klier, Sylvia Necker: „Die Große Bergstraße“, Dölling und Galitz, 29,90 Euro