Hamburg. Hamburgs Talkshow „Wahnsinn trifft Methode“ greift heikle Themen auf. Universitäts-Präsident moderierte eine Sendung über FKK.
Dennis, der Barkeeper mit Bachelor-Abschluss, steht hinter dem Tresen und schaut im schummrigen Licht der Glühlampen auf die Gäste. Nudisten gehören diesmal dazu. Im ausverkauften Raum des Thalia-Theaters sitzen Akademiker, die für viele Lebensthemen offen sind. Sie werden in dieser Nacht wohl lieber Rotwein statt Bier bestellen, vermutet Dennis.
Bis der Rebensaft in der fünften Etage des Thalia-Theaters, dem „Nachtasyl“, fließt, lauscht das Publikum dem ungewöhnlichsten Talkformat der Hansestadt „Wahnsinn trifft Methode“. Universitäts-Präsident Dieter Lenzen wird als Moderator gleich auf der Bühne Platz nehmen. Er trägt ein weißes Hemd, darüber einen dunklen Anzug, hochgeschlossen bis zum Hals. Zuvor hat er an diesem Tag Akten studiert, mit Desy-Wissenschaftlern gesprochen. Und nun schaut er zu Andrea Feddern, die entspannt und vollständig bekleidet neben ihm im Sessel lehnt.
Lenzen: "Ich sitze niemals nackt im Büro"
Frau Feddern läuft sonst gern nackt herum, am liebsten ehrenamtlich im FKK-Bad Volksdorf, und hat kein Problem damit. Warum auch. „Ich kann sogar nackt in meinem Büro sitzen, wer kann das sonst“, bekennt die Vertreterin des Hamburger Bundes für Freikörperkultur und Familiensport frank und frei. Erziehungswissenschaftler Dieter Lenzen, gerade 70 Jahre alt geworden, legt mit einem persönlichen Bekenntnis nach: „Ich erkläre öffentlich, dass ich niemals nackt in meinem Büro sitze.“
Das wollen die Zuhörer ihm gern glauben und quittieren den Einstieg in die Diskussionsrunde mit heiterem Applaus. Seit drei Jahren gibt es dieses Talkshow-Format, eine Kooperation zwischen Uni, Thalia-Theater und Tide-TV. Mal dreht sich alles um „Blut“, mal um „Arsch“, „Schweiß“ und „Wolllust“ – Menschliches, allzu Menschliches eben, das provoziert.
Diesmal geht es um das facettenreiche Thema „Frei“, das Co-Moderatorin Julia-Niharika Sen mit eigener Erfahrung aus ihrer Jugend präludiert. Sie sei praktisch auf einem Amrumer FKK-Platz groß geworden, gesteht sie und sei dort wirklich hartgesottenen männlichen Nudisten begegnet, die Stiefel und Wollmütze tragen. Aber dazwischen nichts. Das habe sie immer verwundert.
Immanuel Kants Freiheitsbegriff
Stargast im „Nachtasyl“ ist diesmal der Musiker, Sänger und Freigeist Stefan Gwildis, der zu Beginn seiner Karriere ausgerechnet in diesem fensterlosen Raum das Fechten gelernt hat. Für eine kleine Rolle bei den „Musketieren“. Nach den Niederungen natürlicher Nacktheit zitiert der ehemalige LKW-Fahrer und Lagerarbeiter einen seiner früheren Kollegen – passend zum Thema Freiheit: „Mach mal, wie du meinst. Aber geht den anderen nicht auf den Sack.“
Das klingt fast schon philosophisch. Und so hat zu dieser späten Stunde auf dem Podium die Philosophie-Professorin Birgit Recki von der Uni Hamburg ihren fulminanten Auftritt. Sie verfügt über die Gabe, weise wissenschaftliche Gedanken druckreif und verständlich zu artikulieren, sodass ihr Kollege Dieter Lenzen nach dem Ende der Talkshow sagen wird: „Glänzend waren die philosophischen Ausführungen der Philosophin Birgit Recki.“ Sie referiert kurz und knapp über den Freiheitsbegriff von Immanuel Kant.
Freiheit – aus eigenenGründen handeln
Der Königsberger Philosoph sei der erste gewesen, der über den Freiheitsbegriff methodisch wirklich umfassend nachgedacht habe. Wie Freiheit zu definieren sei, bringt die Philosophin und Herausgeberin der gesammelten Werke Ernst Cassirers so auf den Punkt: „Freiheit besteht darin, nach eigenen Gründen zu handeln.“
Das Publikum nickt zustimmend. In der letzten Reihe sitzt, ganz in Schwarz gekleidet, Isabella Vértes-Schütter. Die Intendantin des Ernst-Deutsch-Theaters gehört praktisch zu den Stammgästen der Talkrunde, mit der die Veranstalter eine Brücke zwischen Wissenschaft, Kunst, Kultur und Alltag schlagen wollen. Die Künstlerin genießt sichtlich den Schlagabtausch, der sich jetzt zwischen der Philosophin und dem kriminologischen Sozialforscher Nils Zurawski abzeichnet. „Ich liebe diesen Ort und seine intime Atmosphäre“, sagt Isabella Vértes-Schütter.
Der Kriminologe, der selbst kein Smartphone besitzt, entwirft ein gruseliges Szenario der entfesselten digitalen Überwachung. Großkonzerne und Krankenversicherungen sammelten Daten der Internetnutzer, um die Märkte der Zukunft zu steuern.
Technik als Zugewinn an Freiheit
Die Preisgabe persönlicher Daten schränke die individuelle Freiheit ein. Die Philosophin hält dagegen: „Technik ist ein Zugewinn an Freiheit. Aber für jede Freiheit müssen wir eben einen Preis zahlen.“
So changiert dieser späte Abend im Nachtasyl zwischen absoluter und relativer Freiheit. Es scheint, als bestimme unter dem Theaterdach tatsächlich das Sein das Bewusstsein: Es wird offener, freundlicher und ja – intimer miteinander gesprochen.
Diese Erfahrung macht auch der Künstler Michel Abdollahi mit seiner neuen Talkshow in einem U-Boot. Gerade die räumliche Enge sei ein Zugewinn an Freiheit im Gedankenaustausch, sagt er auf dem Podium.
Am Ende singt noch einmal Stefan Gwildis: „Schön, schön, aber nu’s auch gut.“ Zum Glück geht’s weiter mit einer neuen Talkrunde im Nachtasyl: Am 15. Februar mit dem Thema „Körper“.