Hamburg. Die A-Jugend des NTSV misst sich in der U-19-Bundesliga mit Werder Bremen, Hertha BSC und RB Leipzig. Sonnabend kommt der HSV.
Nennst du das sprinten?“ Die Stimme des Trainers lässt an Deutlichkeit wenig Wünsche offen. Und der Gescholtene legt jetzt einen Lauf hin, den auch Coach Andreas Prohn als Sprint gelten lässt. Es ist Dienstagabend, so ein klischeehaft nasskalter, wie ihn nur Hamburg so gut hinbekommt. Und auf der einen Hälfte des Fußballplatzes am Niendorfer Sachsenweg arbeiten 20 junge Männer – gegen das Wetter, den Frust vom Wochenende und um den strengen Trainer zu überzeugen. Die 17- und 18-Jährigen sind voll bei der Sache. Schließlich sind sie alle Bundesliga-Spieler.
Richtig, Bundesliga. Denn wenn man sagt, dass der Niendorfer TSV in einer Liga mit RB Leipzig, Werder Bremen, dem HSV oder Hertha BSC spielt, dann darf man das gern wörtlich nehmen. Der Nachwuchs des NTSV hat es in die U-19-Fußball-Bundesliga geschafft und hält sich dort nach Ende der Hinrunde auf Platz zehn – mit sieben Punkten Vorsprung auf den ersten Abstiegsplatz.
Im übertragenen Sinn aber spielt der NTSV mit seinen Konkurrenten natürlich ganz und gar nicht in einer Liga. Denn 13 der 14 Mannschaften in der Staffel Nord/Nordost entstammen Proficlubs, die alle Nachwuchsleistungszentren betreiben – mit jährlichen Etats in Millionenhöhe.
RB Leipzig gibt zwei Millionen Euro aus
Der krasseste Gegensatz ist sicherlich der zu RB Leipzig. Der Club des Red-Bull-Erfinders Dietrich Mateschitz hat für rund 35 Millionen Euro eines der weltweit modernsten Trainingszentren für seinen Nachwuchs gebaut, zahlt sechsstellige Ablösesummen für Jugendliche und erhebt den Anspruch, „die besten 14- und 15-Jährigen Europas“ nach Leipzig zu holen. Allein für die A-Jugend beträgt der Jahresetat geschätzt rund zwei Millionen Euro. In Niendorf dagegen müssen sich 43 Jugendmannschaften fünf Trainingsplätze teilen – und nur zwei haben wetterfesten Kunstrasenbelag. Im Ergebnis liegt RB bescheidene sechs Punkte vor Niendorf. Beim Spiel in Leipzig gab es ein 4:4 – ein aus Niendorfer Sicht fast schon ärgerliches Ergebnis, denn sie hatten 3:0 geführt.
Andreas Prohn menschlich gesehen
Aktuell sitzt der Frust bei den Niendorfern wegen des Spiels am vergangenen Wochenende in Berlin noch tief – 3:1 hatte der Außenseiter bei Hertha BSC schon geführt. „Und dann hatten wir noch zwei Riesenchancen!“, ärgert sich Trainer Andreas Prohn. Die wurden vergeben – und Berlin gewann noch mit 4:3. Da kann das viele Lob für die couragierte Leistung gegen den Tabellenzweiten kaum trösten.
Niendorfer sind stolz
Mit etwas Abstand sind sie in Niendorf aber doch vor allem eines: stolz. Und wenn der Trainer sagt, dass der Klassenerhalt „ein Wunder wäre“, dann ist das höchstens eine kleine Übertreibung. Die Proficlubs betreiben ihre Nachwuchsarbeit seit vielen Jahren mit extremem Aufwand und sehr viel Geld: für professionelle Strukturen in den Leistungszentren mit Dutzenden hauptamtlichen Mitarbeitern und für die Bezahlung der Nachwuchsspieler. „Im Gegensatz dazu zahlen wir unseren Jugendspielern kein Geld“, sagt Michael Imme, der Jugendleiter des NTSV. Nur bei einem U-19-Spieler ist das anders, weil er auch zum Kader der Oberliga-Mannschaft gehört. „Genau genommen bringe ich noch Geld mit“, sagt Lennart Merkle, der Kapitän der U-19-Mannschaft, und schmunzelt. „Schließlich zahle ich Vereinsbeitrag.“
Hauptamtliche Trainer, Physiotherapeuten oder Betreuer gibt es in Niendorf ebenfalls nicht – alle arbeiten ehrenamtlich oder im Nebenjob. Über die Höhe des Etats spricht man auch in Niendorf nicht so gern. Dass es der mit weitem Abstand kleinste der Liga ist, versteht sich aber von selbst. Wie aber schaffen sie es dann, im Konzert der Großen mitzuhalten?
Trainer setzt auf Disziplin und Teambuilding
Es ist jedenfalls keineswegs so, dass Glück und Zufall dem Club eine „goldene Generation“ beschert hätten. Das „Ergebnis langjähriger Aufbauarbeit“, nennt Imme den Erfolg, „der nur dank des großen Engagements aller im Verein möglich wurde“.
Einer davon ist Andreas Prohn. „Ein 40-Stunden-Job ist das“, sagt der 50-Jährige. Davon hat er noch einen: Versandleiter bei Barthel-Armaturen. Der Firmenchef Dirk Barthel ist Präsident von Altona 93 – und hat also Verständnis für den zeitaufwendigen Nebenjob seines Angestellten.
Einige seiner Spieler betreut Prohn schon seit der C-Jugend, man darf die Mannschaft also getrost „sein Baby“ nennen. „Wir haben nicht den einen Überflieger, der ein Spiel im Alleingang entscheiden könnte“, sagt er. „Wir brauchen großen Einsatz, taktische Disziplin und eine hundertprozentige Einstellung, um bestehen zu können.“ Und Spaß? „Den haben wir auch, vor allem wenn wir erfolgreich sind.“ Er legt großen Wert auf Teambuilding: im Training, bei Ausfahrten nach der Saison an die Ostsee und in den Trainingslagern. Im Winter geht es wieder nach Malente.
Positive Zwischenbilanz
Mit der Zwischenbilanz seines Teams ist Prohn natürlich zufrieden, „auch wenn wir ein paar Punkte liegen gelassen haben“. Sie waren fulminant in die Saison gestartet, in den ersten fünf Spielen gab es drei Siege. „Manche haben uns sicher ein bisschen unterschätzt“, sagt der Coach. Das passiert jetzt nicht mehr. Auch nicht dem HSV, der am morgigen Sonnabend (Anpfiff 13 Uhr am Sachsenweg) in Niendorf zu Gast ist. „Schon im Hinspiel hat Niendorf uns alles abverlangt“, sagt Daniel Petrowsky, Trainer des Tabellenführers HSV, der damals 3:1 gewonnen hat. „Dort wird sehr gute Arbeit geleistet, die Mannschaft tritt beeindruckend auf.“ Als ärgerliche Konkurrenz sieht Petrowsky den NTSV nicht: „Wir freuen uns über die hohe Leistungsdichte in Hamburg. Je mehr Vereine auf hohem Niveau ausbilden, desto besser für alle.“
Auch der HSV hat seine Anstrengungen in den Nachwuchs in den vergangenen Jahren deutlich erhöht, etwa durch den Bau des Campus, des neuen Nachwuchs-Leistungszentrums. Und erntet erste Früchte: Die U 19 könnte erstmals in die Endrunde der Meisterschaft einziehen. „Das ist nicht unser erklärtes Saisonziel, aber natürlich wollen wir es versuchen“, sagt Petrowsky.
Dagegen ist und bleibt der NTSV zwar ein Zwerg – aber der Club ist auch ein Riese unter den Kleinen. Die Jugendarbeit hat schon länger über Hamburg hinaus einen exzellenten Ruf. „Das haben wir über viele Jahre aufgebaut und immer bessere Strukturen geschaffen“, sagt Jugendleiter Imme.
Dieser Weg ist ein Spagat. Denn der Club sieht sich dem Breitensport verpflichtet, muss und will auch denjenigen die Möglichkeit geben, Fußball zu spielen, die es einfach aus Spaß tun. Deshalb gibt es zwei Bereiche: den leistungsorientierten (das beginnt mit den Elfjährigen) und den Freizeitbereich. Dabei bietet der NTSV mittlerweile ein Umfeld, das professionellere Züge annimmt. Imme: „Unsere Trainer haben die A-Lizenz, es gibt Koordinatoren für alle Altersklassen, Physiotherapeuten und jetzt auch Videoanalysen.“ Das ist auch notwendig, denn mit dem Eimsbütteler Turnverband (ETV), dem SC Victoria, Altona 93 oder Eintracht Norderstedt gibt es in der Nachbarschaft ebenso ambitionierte Vereine. Der ETV etwa ist mit seiner B-Jugend in die Bundesliga aufgestiegen, steht dort als Drittletzter allerdings auf einem Abstiegsplatz.
Konzept ist erfolgreich
Das Niendorfer Konzept ist jedenfalls so erfolgreich, dass der Club im Leistungsbereich fast immer in den höchsten Spielklassen vertreten ist: Die C-Jugend spielt Regionalliga (in diesem Altersbereich die höchste Liga), die B-Jugend ist ebenfalls in der Regionalliga, die A-Jugend in der Bundesliga.
Vertragsregelungen in der A-Jugend
Durch diesen Erfolg entsteht eine Sogwirkung – in zwei Richtungen. Zum einen kommen viele ambitionierte Spieler von anderen Clubs nach Niendorf, weil sie dort auf hohem Niveau trainieren und spielen können. „Umgekehrt gehen natürlich auch viele von uns zu den Großen, also oft zu St. Pauli und dem HSV“, sagt Imme. Ärgert ihn das? „Nein, wirklich nicht“, beteuert er. „Vor allem, weil es offen und fair zugeht, da passiert nichts Unanständiges.“ Bei Interesse gebe es immer direkte Anfragen an den Club, nie hinter dem Rücken. Und wenn ein Talent wechselt, bekommt der NTSV immerhin eine Ausbildungsentschädigung (und muss sie im umgekehrten Fall natürlich auch selber bezahlen). Die Höhe hängt von mehreren Faktoren ab, ist in der Regel aber vierstellig.
Auch Trainer Prohn hat kein Problem im Umgang mit dem HSV und St. Pauli, „das ist ein gutes Miteinander“. Das sei aber nicht mit allen so. „Holstein Kiel zum Beispiel geht da deutlich aggressiver vor.“
Einige sind geblieben – trotz lukrativer Angebote
Dass Spieler versuchen, bei einem großen Club ihren Traum zu leben, das sei normal und auch richtig so: „Wenn einer von uns in das Fußball-Internat eines Bundesligisten wechselt, wo er gut betreut und ausgebildet wird, dann freue ich mich für ihn.“ Das sei ja auch Bestätigung für die Arbeit in Niendorf. „Wenn aber jemand irgendwohin wechselt, nur weil er da ein paar Hundert Euro im Monat bekommt, dann ist das ein Fehler.“
Doch viele gehen den harten Niendorfer Weg mit – 26 Spieler umfasst der Kader. Manche gehen noch zur Schule, andere machen eine Ausbildung oder ein soziales Jahr. Der Konkurrenzkampf ist groß. Einer von ihnen ist Kilian Utcke. Der 18-Jährige hatte vor der Saison lukrative Angebote – entschied sich aber, zu bleiben. Weil er eine Ausbildung zum Erzieher begonnen hat und weil er auch im Herrenbereich in der Oberliga mitmischen darf.
Geblieben ist auch Kapitän Lennart Merkle. „Es gab schon ein paar Anfragen“, sagt der 18-Jährige, der vor vier Jahren vom USC Paloma nach Niendorf wechselte. „Aber ich habe mich dagegen entschieden, denn hier fühle ich mich sehr wertgeschätzt – und kann auch in der Bundesliga spielen.“ Den Teamgeist und das Gefühl, etwas Besonderes mit aufgebaut zu haben, das mache schon einen besonderen Reiz aus. „Und wenn man gegen Mannschaften gewinnen kann, die eigentlich viel bessere Voraussetzungen haben, ist das ein besonderer Ansporn.“ Damit meint er gar nicht das Geld, sondern die Trainingsbedingungen. Dass sich die U 19 den Trainingsplatz mit einer anderen Mannschaft teilen muss, wie an diesem Dienstag, kommt bei der Konkurrenz nicht vor.
Merkle hat seit dieser Saison einen Berater – wie fast alle Spieler in der A-Junioren-Bundesliga. Und sie alle träumen von einer Profi-Karriere. Dabei hat der Niendorfer Kapitän einen realistischen Blick. „Mein Ziel ist es, Regionalliga zu spielen“, sagt er. Das wäre die vierte Liga. „Aber träumen darf ich auch von mehr.“
Ausdauer-Daten werden per App kontrolliert
Dafür trainieren er und seine Mitspieler viermal wöchentlich, dazu müssen sie individuell im Kraftraum und in ihrer Freizeit ohne Aufsicht der Trainer an der Ausdauer arbeiten. Das wird alles per App kontrolliert und ausgewertet. Schöne neue Fußballwelt.
Dass da nicht nachgelassen wird, dafür steht Trainer Prohn. „Ohne Disziplin und Ordnung geht es nicht“, betont der frühere Stürmer von Hansa Rostock und Altona 93, der dort auch lange als Trainer in der Regionalliga gearbeitet hat. Später gelang ihm mit Eintracht Norderstedt der Aufstieg in die vierte Liga, bevor er in Niendorf anheuerte. Der Klassenerhalt mit dem NTSV wäre sein wohl größter Erfolg. Den nächsten Schritt dahin könnten er und sein Team am Sonnabend gegen den HSV machen. Das wäre keine Überraschung. Eher ein Wunder.