Kristina Erichsen-Kruse, Vize-Landeschefin des Weißen Rings, arbeitete einst in Ochsenzoll mit Schwerverbrechern.
Es ist ein kalter Novembertag im Jahr 1947, als eine verzweifelte junge Mutter mit ihrer sterbenden fünfjährigen Tochter im Arm in das schleswig-holsteinische Hilfskrankenhaus Lütjensee eilt. Das kleine Mädchen bekommt keine Luft mehr, seine Atemwege sind durch eine nicht erkannte Diphtherie fast vollständig verschlossen. Der Notarzt erkennt sofort die dramatische Situation, greift zum Skalpell und rettet dem Kind durch einen Luftröhrenschnitt das Leben.
70 Jahre später sitzt Kristina Erichsen-Kruse im Konferenzraum eines unscheinbaren Bürogebäudes am Winterhuder Weg. Sie deutet auf eine kleine Narbe an ihrem Hals, die optische Reminiszenz an das Drama von Lütjensee. An die Notoperation selbst hat sie keine Erinnerungen, nur dass damals Schnee gelegen hat, weiß sie noch genau.
Leben. Oder Sterben. Kristina Erichsen-Kruse hat sich im Laufe ihrer ganzen Karriere in diesen Grenzbereichen bewegt. Als Krankenschwester. Als Kriminalistin. Als Leiterin des Hauses 18 in Ochsenzoll, Seite an Seite mit sadistischen Sexualmördern. Und nun als stellvertretende Vorsitzende des Weißen Rings Hamburg, der Organisation, die sich für Opfer von Verbrechen einsetzt.
Sie erbte eine Sehbehinderung auf dem rechten Auge
Womöglich wäre ihr Leben ganz anders verlaufen, hätte sie nicht eine Sehbehinderung auf dem rechten Auge geerbt. Denn als Schülerin wollte Kristina Erichsen-Kruse unbedingt zur Polizei: „Aber das war leider unmöglich, als Rechtshänderin hätte ich niemals schießen können.“
Also tritt sie 1962 nach der mittleren Reife eine Ausbildung am UKE zur Krankenschwester an, schließlich der Wechsel nach Ochsenzoll. Haus 18, Forensische Psychiatrie. Schusssicheres Glas, Stahltüren, Gitterstäbe. Heimat für Totschläger und Vergewaltiger, etwa für den inzwischen verstorbenen vierfachen Frauenmörder Fritz Honka.
Und mittendrin: Kristina Erichsen-Kruse, eine zarte Frau. „Für mich war das dennoch nie eine fremde Welt“, sagt sie. Ein Verdienst ihrer Mutter, die sich als Sozialarbeiterin um entlassene Strafgefangene kümmerte: „Sie hat meiner Schwester und mir beigebracht, dass kein Mensch nur böse oder nur gut ist. Jeder Mensch hat viele Facetten. Dies gilt auch für Mörder, die entsetzliche Straftaten begangen haben. Sie sind keine Monster.“
Erichsen-Kruse nennt als Beispiel Klaus-Dieter H., der in ihrer Zeit als Leiterin des Hauses 18 in Ochsenzoll wegen dreifachen Mordes untergebracht war und noch immer ist. Jüngst ermittelte die Polizei, dass Klaus-Dieter H. 1981 auch die Friseurin Beate Sienknecht umgebracht hat. „Ein entsetzliches Verbrechen“, sagt Erichsen-Kruse.
Damals gab es in Haus 18 kaum weibliche Mitarbeiter
Aber sie habe in Haus 18 eben auch die andere Seite von Klaus-Dieter H. kennengelernt: „Er hat sich immer um seine Schwester gekümmert, für sie war und ist er eine große Stütze, ein liebender Bruder.“ Viele der Ochsenzoll-Insassen hätten „selbst schreckliche Schicksale erlitten, bevor sie irgendwann zu Tätern wurden“. Angst, sagt sie, habe sie in Haus 18 nie gehabt: „Ich habe mich nie in meinem Leben sicherer gefühlt als dort. Ich wusste immer, mit wem ich es zu tun hatte.“ Beim Einkaufsbummel auf der Mönckebergstraße sei das ganz anders.
Anstrengender sei der Umgang mit manchen Kollegen gewesen. Eine Frau in einer Einrichtung wie Haus 18 war in den 1980er-Jahren in etwa so selten wie eine Flugkapitänin bei der Lufthansa. Über Jahre blieb Kristina Erichsen-Kruse in der Belegschaft allein unter Männern – und wurde dann auch noch Chefin, was manchen Mitarbeiter sehr irritierte. Dennoch sei das Haus 18 immer besser gewesen als sein Ruf. Viel besser.
Und doch verbindet sie mit genau diesem Haus die schlimmste Zeit ihrer Karriere. Der Albtraum beginnt für Kristina Erichsen-Kruse am späten Abend des 27. September 1995, als bei ihr das Telefon schellt. „Wir haben einen Ausbruch“, sagt einer ihrer Mitarbeiter. Geflohen war ausgerechnet Thomas H., bundesweit bekannt und gefürchtet. Zwischen 1987 und 1989 hatte er drei Frauen vergewaltigt, gequält und zerstückelt, sein letztes Opfer, eine 22-jährige Kosmetikschülerin, ermordete er in Buchholz in der Nordheide. Die Medien nannten ihn fortan den „Heidemörder“. Schnell stellt sich heraus, dass er nur mit der Hilfe einer Anstalts-Therapeutin fliehen konnte.
Eine Mitarbeiterin verliebt sich in einen Serienmörder, unterstützt ihn bei dessen Flucht, stattet ihn sogar mit 150.000 Euro aus ihrem Privatvermögen aus – kein Wunder, dass das Klinikum Ochsenzoll im Fokus stand wie noch nie. „Seitdem habe ich keine Scheu mehr vor Kameras“, sagt Kristina Erichsen-Kruse. An Schlaf sei in jener Zeit kaum zu denken gewesen: „Ich hatte fürchterlich Angst, dass er wieder töten würde.“ Schließlich hatte Thomas H. gegenüber anderen Patienten seine Pläne angekündigt: „Ich breche hier aus, und dann bringe ich meine Ex-Freundin in München um.“ Die Fahndung nach ihm endet am 30. Dezember. Kurz vor 21 Uhr betritt Thomas H. die Polizeiwache auf der Uhlenhorst und sagt: „Guten Abend, ich möchte mich stellen.“
Auszeichnung durch den Innensenator Andy Grote
Diese drei Monate haben Kristina Erichsen-Kruse geprägt. Zum einen spürte sie, dass sie stark genug ist, um solche Extremsituationen durchzustehen: „Ich konnte die Dinge für mich sortieren.“ Zum anderen entstand genau in dieser Zeit der Impuls, sich irgendwann für den Weißen Ring zu engagieren: „Ich stand nach dem Ausbruch den Angehörigen der ermordeten Frauen Auge in Auge gegenüber. In diesen Tagen reifte in mir der Entschluss, dass ich mich nach meiner Zeit im Haus 18 um Opfer von Verbrechen kümmern möchte.“
„Auge in Auge“ beschreibt die Treffen indes unzureichend. Denn Kristina Erichsen-Kruse begegnete den Müttern der getöteten Frauen im Scheinwerferlicht. Bei der Pressekonferenz am Tag nach dem Ausbruch hatte sich die Mutter von Laura H., dem letzten Opfer des Frauenmörders, unter die Reporter gemischt. Sie fragte unter Tränen: „Wissen Sie eigentlich, dass Sie die Frauen der Umgebung in Lebensgefahr gebracht haben?“ Bei der NDR-Livesendung am nächsten Abend saß Kristina Erichsen-Kruse in einer Runde mit der Mutter von Petra M., die Thomas H. 19 Monate zuvor in Rahlstedt umgebracht hatte. Vehement forderte sie die Todesstrafe für solche Gewalttäter, die Leiterin von Haus 18 widersprach ihr energisch.
Mehr als 20 Jahre danach zeigt Kristina Erichsen-Kruse ein Plakat im Konferenzraum des Weißen Rings. Gestaltet hat es die Mutter einer jungen Frau, die von ihrem extrem eifersüchtigen Freund in Hamburg getötet wurde. Auf der rechten Seite stehen in schwarz-weißer Schrift Begriffe wie Ohnmacht, Pein und Einsamkeit, in der linken Spalte Wörter in Farbe wie Optimismus, Engagement, Freunde. Dieses Plakat, sagt Kristina Erichsen-Kruse, bringe die Arbeit mit den Opfern und ihren Angehörigen auf den Punkt: „Opfer haben lebenslänglich, das gilt auch für die Angehörigen. Sie alle bekommen ihr altes Leben nicht zurück. Aber sie können mit der Zeit und unserer Hilfe versuchen, ein anderes, ein neues, durchaus erfüllendes Leben zu führen. “
Ein neues Leben. Aber der Weg dorthin ist hart, mitunter schrecklich. Kaum jemand weiß das besser als Kristina Erichsen-Kruse nach ihrem Wechsel von der Täter- auf die Opferseite. „Zuhören können“ sagt sie, darum gehe es vor allem. „Dafür sind wir da. Das ist für die Opfer extrem wichtig. Denn vielen Freunden und Bekannten geht irgendwann die Luft aus, sie wollen, dass ein Schlussstrich gezogen wird. Aber das geht nicht.“ Ganz schlimm seien die unterschwelligen Vorwürfe wie: „Warum bist du auch mitten in der Nacht aus der Disco allein nach Hause gegangen?“ Ein Betreuer des Weißen Rings würde so etwas niemals sagen.
Kristina Erichsen-Kruse ist stolz auf ihre Leute, die sich notfalls rund um die Uhr ehrenamtlich kümmern. Als sie von Innensenator Andy Grote an ihrem 75. Geburtstag mit der „Medaille für treue Arbeit im Dienste des Volkes“ ausgezeichnet wurde, nutzte sie ihre Ansprache für einen Dank an das Team: „Das ist die gemeinsame Auszeichnung für unser Bestreben, das Leid von Kriminalitätsopfern zu lindern und für ihre Rechte einzustehen.“
Sie ist froh, wenn sie etwas erreichen kann
Dieser Kampf bleibt mühsam. Und zeitraubend. Kristina Erichsen-Kruse ist froh, dass ihr Mann, ein pensionierter Polizist, so viel Verständnis hat. Aber ihr Ehrenamt gebe ihr auch viel. „Ich mag das sehr, wenn ich etwas erreichen kann.“ Etwa für die Angehörigen des Ingenieurs, der im Juli von einem Messer-Attentäter in Barmbek getötet wurde. Der Weiße Ring kümmerte sich um die Wohnungsräumung, sorgte dafür, dass der Nachlass sozialen Einrichtungen gespendet wurde. „Es gibt einem oft ein deutlich besseres Gefühl, wenn man weiß, dass auch bei einem so sinnlosen Tod die hinterlassenen Dinge jemandem zugutekommen“, sagt sie. Zudem kam die Saga den Angehörigen bei den Mietzahlungen entgegen. „Wir konnten helfen“, sagt Kristina Erichsen-Kruse.
Nächste Woche: Uwe Frommhold, Vizepräsident und Leiter des operativen Geschäfts der Anschutz Entertainment Group Germany, zu der auch die Barclaycard Arena Hamburg gehört