Hamburg. Der finnische Trend „Hobbyhorsing“ ist in Hamburg angekommen. Besuch beim Reittraining in einer Turnhalle in Eimsbüttel.

Auch im Mädchenparadies gibt es mal Probleme. Gleich zu Beginn fehlt ein Pferd. Fünf Kinder stehen um die Steckenpferdausgabe, es liegen aber nur vier Reitgelegenheiten an Besenstielen bereit – ein ergrauter Schimmel, eine braune Stute und zwei Einhörner, eins in Pink, eins in Weiß. Letzte Woche war auch ein Rentier dabei. Egal. Pferdemangel kommt in den besten Reiterkreisen vor, tröstet Trainerin Karola Kalski. „Das kann auch im echten Reitstall passieren.“

Donnerstagnachmittag in einer Turnhalle in Eimsbüttel. Vom Ballettkursus nebenan wabert klassische Musik übers Parkett. Passenderweise soll hier gleich Dressur geritten werden. Nur ohne Pferd, stattdessen mit eigener Muskel- und Vorstellungskraft. Denn auf dem Sporthallenboden macht sich der erste Hobbyhorse-Reitkursus Hamburgs bereit – fünf Mädchen, vier Steckenpferde und eine Reitlehrerin, die eigentlich Fitnesstrainerin ist. Sie werden mit Pferdekopf am Stiel über einen Springreitparcours galoppieren, Dressurfiguren üben, die Gangarten temperieren, Theorie pauken und immer wieder ihre Spielzeugtiere loben. Wie im echten Reitstall.

Im Ursprungsland ist es eine Massenbewegung

Steckenpferde gibt es seit dem antiken Griechenland. Das organisierte Hobbyhorsing dagegen ist neu, ein noch junger Trendsport aus Finnland. In Skandinavien finden vor allem Mädchen zwischen zehn und 18 Jahren Gefallen daran, mit sportlichem Ehrgeiz per Steckenpferd echte Dressurübungen zu reiten oder über Hindernisse zu springen. Denn dabei sind sie weitgehend unter sich. „Hier nerven die Jungs nicht“, sagt eine junge Finnin etwa in einem YouTube-Video. Nun bietet der Eimsbütteler Turnverband (ETV) als erster Verein Hamburgs, vielleicht sogar Deutschlands, auch hier Steckenpferdreiten an.

Was bizarr klingt, sieht erst mal auch bizarr aus. Carolina, elf Jahre, galoppiert durch die Halle und zieht immer wieder an den Zügeln ihrer Spielzeugstute, wenn ihr auf dem Sprungreitparcours der Dreier-Ochser (drei Stepper), der Wassergraben (eine Turnmatte) oder die blaue Wand als Mächtigkeitssprung (vier Sitzkissen, hochkant) in den Weg kommen. Wie beim echten Springreiten muss eine genaue Abfolge eingehalten werden, Tempo schadet nichts. Deshalb schnauft Carolina nach der Runde fast so sehr wie ihre Stute. „In der Schule spielen wir auch Pferdchen“, sagt sie. „Witzig“ und „gut“ findet sie den angeleiteten Kursus beim ETV. Ob sie wisse, was Hobbyhorse bedeute? „Ich hab’s gegoogelt.“

Sportart mit Gymnastikelementen

Hobbyhorse heißt Steckenpferd auf Englisch. Zu einer populären Sportart mit Gymnastikelementen machte es aber erst die junge, finnische Frauenbewegung. Dort reiten inzwischen Tausende Jugendliche begeistert auf Besenstielen, basteln sich ihre Sportgeräte selbst und stellen ganze Pferdeshows nach. Unter anderem gibt es eine mit Steckenpferd nachgestellte Dressurprüfung des Erfolgspferds Totilas. Die Videos sind Hits bei YouTube, die finnische, oscarnominierte Regisseurin Selma Vilhunen drehte sogar einen Dokumentarfilm über das Phänomen. Im Ursprungsland ist Hobbyhorsing eine Massenbewegung mit regionalen und nationalen Meisterschaften.

Etwas bescheidener schwappt der Trend nun nach Hamburg. Von den 4000 beim ETV angemeldeten Kindern wissen noch nicht alle vom neuen Angebot. Der Sitzkreis am Anfang ist jedenfalls überschaubar. Studieren geht hier vor probieren. Drauflosreiten kann ja jeder. Wer denn schon mal auf einem Pferd gesessen hat, fragt Steckenpferd-Reitlehrerin Kalski. Die jüngste Teilnehmerin ist vier und kann kaum reden, Olivia dagegen reitet einmal in der Woche, und kennt sich mit vorlauten Steckenpferden aus. Ein Pferd schnaubt nämlich dauernd dazwischen.

Jungs sind auch willkommen

Zwei Kurse gibt es beim ETV, einen für bis zu Neunjährige, der andere für ältere Kinder und Jugendliche. In Eimsbüttel hoffen sie auf einen ähnlichen Boom wie in Skandinavien, Jungs sind auch willkommen. Aber, Steckenpferd­reiten? Ernsthaft? „Unsere Sportkoordinatoren überlegen immer, welche neuen Trends ins Kursprogramm passen“, sagt ETV-Sprecherin Friederike van der Laan. Dabei seien sie über Hobbyhorsing gestolpert. Auch Kinder-Pilates und Skateboarding sind neu beim ETV.

Karola Kalski (31,
2. v. r.) ist eigentlich
Fitnesstrainerin –
beim Eimsbütteler
Turnverband (ETV)
wird sie zur Reitlehrerin
Karola Kalski (31, 2. v. r.) ist eigentlich Fitnesstrainerin – beim Eimsbütteler Turnverband (ETV) wird sie zur Reitlehrerin © HA | Mark Sandten

In der Turnhalle wiehert schon wieder ein Steckenpferd, ein anderes wird ausgiebig am Hals getätschelt, mal steigt oder bockt der Gaul, dann grast er wieder ganz friedlich. Abschwitzdecke? Na, klar. Auf seltsam spielerische und gleichzeitig ernsthafte Weise lassen sich alle auf das Experiment ein. Sogar das Vokabular erinnert an Reiterhof: Es wird in einer „Abteilung“ geritten, mal „linker“, mal „rechter“ Hand, „auf Hufschlag“ oder „im Zirkel“. Wie in einer echten Reitstunde. „Neben Spaß und Bewegung geht es darum, Kindern ein Gefühl für den Reitsport zu geben“, sagt Trainerin Karola Kalski. „Wir vermitteln auch Basiswissen.“

Kindlicher Zeitvertreib als sinnvolle Rekrutierung des Reiternachwuchses? Fred Sundwall, Generalsekretär des echten finnischen Reiterverbandes, findet es „einfach wunderbar, dass Hobbyhorsing ein Phänomen und so populär geworden ist“. Es gebe Kindern, die keine Pferde haben, die Chance, auch außerhalb von Ställen und Reitschulen zu trainieren. Eine der Mitbegründerinnen der Bewegung, die 19 Jahre alte Alisa Aarniomäki, hat wiederum mit dem Steckenpferdreiten einen echten Reitunfall verdaut.

Theorie wird in den Ruhepausen abgefragt

Schritt, Trab, Galopp – „ich finde das Springreiten immer am besten“, sagt Martha. Mit wehenden Haaren (und null Fehlern) hat sie gerade in Höchstgeschwindigkeit den Parkour hinter sich (und ihr Pferd) gebracht. Nach der Stunde sei sie „ganz schön kaputt“, man lerne aber „immer wieder etwas dazu“. In den Ruhepausen, die im Schritt zurückgelegt werden, wird Theorie abgefragt. Die hart hineingerufenen Kommandos „Durchparieren!“, „Angaloppieren! und „Jetzt auch mal das Pferd loben!“ werden schicksalsergeben befolgt.

Und, wie war’s? „Es macht super viel Spaß!“, sagt Carolina. Was anfangs belächelt werden will, ist bei genauerer Betrachtung eine hübsche neue Kreuzung aus Spiel, Gymnastik und Hindernislauf mit Wissensgewinn. Carolina und Martha wollen jedenfalls nächstes Mal wiederkommen. Dann aber mit eigenem Pferd. Damit kein Schatten mehr über dem Mädchenparadies liegt.