Hamburg. Mit der TV-Serie „Traumschiff“ hat sein Leben nichts zu tun. Bordmediziner Horst Schramm über seine spektakulärsten Einsätze.

Mehr als fünf Jahre arbeite ich intensiv als Schiffsarzt. Eines ist mir wichtig: Es handelt sich dabei nicht um die großen, schwimmenden Bettenburgen, sondern um kleinere, luxuriöse Schiffe unter mehreren Sternen. Mit einem eher betagten Publikum, das nicht von einem Hafen zum nächsten fährt, sondern oft auf Weltreise ist und viele Monate an Bord verbringt. Was die ex­tremen Krankheitsfälle erklärt, mit denen ich es zu tun habe.

Angst spüre ich in keinem Moment an Bord, egal wie kompliziert die medizinische Situation und vielleicht auch die Lage auf dem Schiff erscheint. Blinddarm bei Windstärke zehn? Darmverschluss weit draußen auf See? Ich bin als Mediziner auf mich allein gestellt. In meiner Praxis auf dem Land wählte ich dann die 112. Nach meiner Erstbehandlung wurde der Patient in eine Klinik transportiert. Auf dem Schiff stehe ich weiter in der vollen Verantwortung – Unterstützung gibt es, sofern die Verbindung steht, nur via Internet oder Telefon. Damit habe ich kein Problem. Durch meine Erfahrung auf vielen medizinischen Gebieten – mit Ausnahme der Frauenheilkunde und Geburtshilfe – fühle ich mich den Aufgaben gewachsen.

Notfall bei der Begrüßungsgala in der stürmischen Biskaya

Der Gruß aus der Küche – Kaviar auf Eis und ein Cremesüppchen – wird gerade serviert, als ich im Augenwinkel sehe, wie ein Mann vom Tisch des Kapitäns aufsteht. Er geht schnellen Schrittes Richtung Ausgang. Das ist ungewöhnlich, denn niemand sollte nun aufstehen. Ich wundere mich nicht, als Momente später eine Durchsage zu hören ist: „Mike Mike, Medical Team proceed to cabin 684“.

Die MS
Die MS "Hamburg" ist eines der Schiffe, auf denen Horst Schramm praktiziert hat © picture alliance / Hinrich Bäsem | dpa Picture-Alliance / Hinrich Bäsemann

Im großen Salon läuft die Begrüßungsgala, der erste Höhepunkt auf dieser Weltreise. „Leinen los“ für 180 Tage um den Globus, gestartet von ­Southampton im Süden Englands. Nun fließt der Champagner, rascheln Abendkleider, Small Talk der Stammgäste aus der ersten Klasse. Man kennt sich von früheren Reisen. Wir befinden uns nach Stunden auf den Wellen bereits mitten in der Biskaya, und die See ist so rau, wie es für dieses Gebiet typisch ist.

Doch nun gibt es den „Mike“-Ruf, und mir ist klar, dass ein Notfall ansteht. Ich entschuldige mich bei den Gästen am Tisch und eile aus dem Restaurant. Auf dem Flur treffe ich auf die Krankenschwester in Sportkleidung, den Schiffszimmermann, dessen Overall noch voller Sägespäne ist, und einen Koch, der einen Defibrillator trägt. Ich will nicht auf den Aufzug warten und nehme die Treppe. Zwei Decks höher kommt uns Kapitän van de-Mache entgegen, der als Erster gerufen wurde. Er sagt „Fehlalarm“ und bedankt sich für das schnelle Kommen. Ich bin froh, dass ich wieder zurück an den Tisch kann. Ich habe Hunger. Aber es kommt anders. Nach ein paar Schritten höre ich wieder die vertraute Stimme durch den Lautsprecher: „Mike Mike, Medical Team proceed to the front of First Class Restaurant.“ Als ich dort eintreffe, deuten einige Servicekräfte auf die Toilette.

Sie sehen erschrocken aus, sie sind bleich. Ich gehe hinein und sehe, warum: Ein Mann kniet vor dem Waschbecken und erbricht hellrotes Blut im Schwall. Die Differenzialdiagnosen rasen mir durch den Kopf: Vielleicht ist es eine Ösophagusvarizenblutung, also eine geplatzte Krampfader der Speiseröhre? Selbst bei sofortiger Behandlung handelt es sich dabei um eine lebensbedrohliche Komplikation. Beim Näherkommen nehme ich ein rasselndes Atemgeräusch wahr. Lungenödem.

Blick in das Bordhospital der MS
Blick in das Bordhospital der MS "Hamburg" © Oliver Asmussen | Oliver Asmussen

Ich verabreiche sofort Sauerstoff und Nitro, sorge dafür, dass der Patient mit weißen Tüchern abgeschirmt wird, und lasse ihn ins Bordhospital transportieren. Er kommt auf das Herzbett der Intensivstation, ich lege einen großkali­brigen, venösen Zugang, gebe Furosemid und Morphiumhydrochloricum. Ich lege die EKG-Elektroden an und erkenne Extrasystolen, Couplets und kurze Kammertachykardien. Die Lage ist ernst, mehr als ernst.

Der Mann – der nach Angaben seiner Frau schon einmal reanimiert werden musste – schwebt in akuter Lebensgefahr.

Ich informiere den Kapitän über die geringen Überlebenschancen des Passagiers. Ich weiß, dass er dennoch um den Mann kämpfen wird. Ich weiß, dass Chief Ingenieur David seinen Tisch mit den allein reisenden Damen verlassen muss, um in den Maschinenraum zu eilen. Ich spüre, wie wenig später die dritte Maschine angelassen wird und dass unser Schiff den Kurs ändert. Die Nacht ist dunkel, der Sturm nimmt zu, und regulär würden wir erst in zwei Tagen wieder einen Hafen anlaufen.

Ein Rettungshubschrauber birgt den Patienten vom Schiff

Kapitän van de-Mache ruft mich zu sich auf die Brücke. Er telefoniert mit der französischen Rettungsleitstelle, aber wie zu erwarten war, sprechen sie nur Französisch. Eine Kommunikation über medizinische Details ist kaum möglich. Neben dem Kapitän hockt unsere Bordschneiderin mit nassen Haaren, in denen Lockenwickler stecken. Sie übernimmt den Part der Dolmetscherin. Ich versuche, das Krankheitsbild des Patienten auf Englisch und Latein zu erklären.

„Fürosemide, Fürosemide“, sagen die Männer der französischen Rettungsleitstelle immer wieder. Offensichtlich glauben sie, dass wir ein Frachtschiff sind, denn das Medikament, mit dem man Wasser aus dem Körper bringt, habe ich schon zu Anfang der Behandlung verabreicht. Der Kapitän erklärt, dass ein Hubschrauber der französischen Marine in einer halben Stunde eintrifft. Doch das Schiff hat kein Hubschrauberdeck, was bedeutet, dass der Patient vom Vorschiff abgeborgen werden muss. Er sagt zu mir: „Geh auf die Brücke, wir müssen langsamer werden!“

Wenn alle Stricke reißen, muss der Hubschrauber kommen: Abbergung einer erkrankten Person von einem Kreuzfahrtschiff
Wenn alle Stricke reißen, muss der Hubschrauber kommen: Abbergung einer erkrankten Person von einem Kreuzfahrtschiff © Oliver Asmussen | Oliver Asmussen

Es ist ungewöhnlich, wenn der Schiffsarzt auf der Brücke erscheint und ruft: „Zurück auf zwei Maschinen und Kurs Steuerbord 2-0-4.“ Um 22.35 Uhr gibt es Kontakt zur Seenotleitung MRCC Bremen und unserer Reederei. Der Zustand des Patienten hat sich nur wenig gebessert; das Lungenödem lässt sich nicht beseitigen, und er ist weiterhin bewusstlos. Eine Abbergung durch den Helikopter bedeutet ein großes Risiko für den Patienten, das ist keine Frage. Doch in diesem Moment ist es seine einzige Chance.

13 Minuten vor Mitternacht sind die Lichter des Helikopters zu sehen, aber nur die Lichter. Ich höre die Rotorblätter, eine gespenstische Situation. Einige Passagiere melden sich besorgt bei der Rezeption und fragen, ob das Schiff überfallen wird. Auf Position 46° 19,3’ Nord – 001° 54,4’ West winschen sich ein französischer Militärarzt und ein Sanitäter ab. Ich informiere den Kollegen über die Vorgeschichte, das Krankheitsbild und die bisherige Therapie. Doch so richtig interessiert es ihn nicht, scheint mir, für ihn ist allein der Transport wichtig. Der Patient wird mitsamt Infusion und Monitor auf einer speziellen Trage platziert. Ich wundere mich über die langen Messer an den Gürteln der Männer vom Helikopter. Durch die Katakomben des Schiffes erreichen wir den Bug, der nun hell erleuchtet ist.

Ich kann den Hubschrauber trotz des Sturms hören, aber nicht sehen. Er schwebt ein Stück querab vom Bug, um nicht mit den Rotorblättern gegen die Schiffsaufbauten zu kommen. Zwei Männer spähen durch den gläsernen Fußboden des Helikopters, ein weiterer steht in der geöffneten Tür und lässt ein Seil herunter. Zuerst wird der Patient gewinscht, nach meinen Anweisungen in Herzbettlagerung: Oberkörper hoch, Beine tief. Dann folgt der Arzt, zum Schluss der Sanitäter. Damit die Personen durch den starken Wind und die Bewegungen von Schiff und Hubschrauber nicht schaukeln, hält ein weiterer Matrose die Last mit einer weiteren Leine von unten stabil. Um 00.38 Uhr ist die Operation beendet. „Helikopter auf dem Weg“, wird im Schiffstagebuch vermerkt.

Viele glauben, an Bord gebe es ärztliche Maximalversorgung

In den meisten Fällen erkundige ich mich später, wie es meinen Patienten ergangen ist, es interessiert mich einfach. In diesem Fall läuft es für den Schwerstkranken zunächst nicht gut: Die Ärzte kommen nicht klar und verlegen ihn in die Hauptstadt des Départements. Auch hier gelingt es den Ärzten nicht, das Lungenödem in den Griff zu bekommen. Daraufhin entscheidet man sich, den Patienten nach Deutschland zu fliegen, um ihn in der Uniklinik der Kardiochirurgie – wo man ihn bereits mehrfach behandelt hat – zu operieren. Die präoperativ durchgeführte Computertomografie zeigt ein Leck in der thorakalen Aorten-Prothese, aus dem es blutet, und es kommt zu einem Hämatothorax. Die Operation dauert zehn Stunden und ist ein Erfolg: Der Patient lebt heute noch.

Ich will nicht sagen, dass mir Situationen wie eine geplatzte Aorta in der Biskaya vertraut sind, doch es kommt immer wieder dazu. Wegen der Größe des Schiffs und wegen des hohen Alters der mitreisenden Passagiere. Nur Leute im Ruhestand oder sehr Wohlhabende können sich ausgedehnte Seereisen auf diesem Schiff leisten. Viele glauben, dass sie im Ernstfall nur 112 wählen müssen, und an Bord stehe ein Krankenhaus mit Maximalversorgung zur Verfügung.

Selbst erfahrene Reisende äußerten im Gespräch den festen Glauben, dass im Ernstfall sofort ein Rettungshubschrauber kommt, der sie in eine Spezialklinik bringt.

Schiffsarzt Dr. Horst Schramm
Schiffsarzt Dr. Horst Schramm © Axel Martens | Axel Martens

Auf einigen Schiffen dürfen die Schiffsärzte mit den Gästen essen, auf den meisten nicht. Die Kabinen befinden sich im Crewbereich und unweit des Hospitals, winzig klein, ein Bullauge. Auf meiner ersten Reise verbrachte ich drei Monate auf dem Fußboden. Zwar hatten meine Frau und ich eine Kammer mit Etagenbett. Wegen meiner Körperfülle kam ich nur mit Mühe ins obere Bett, aber nicht mehr runter, was ein Problem war, wenn das Telefon klingelte und Eile geboten war. Die Ehefrau eines Kollegen fiel einmal aus dem oberen Stock und brach sich den Oberschenkel, was zu großer Empörung führte. Die Ärzte protestierten und drohten damit, dieses Schiff zu bestreiken. Daraufhin wurde eine „Lektoren-Kabine“ auf dem Crewdeck zur Verfügung gestellt, eine Innenkabine ohne Bullauge. Die besten Kabinen hatten natürlich der Kapitän und der Chief, im Bereich der Passagiere wohnen der Hotelmanager und der Kreuzfahrtdirektor.

Als Arzt bin ich an 24 Stunden täglich und an sieben Tagen der Woche im Dienst. Ich bin immer im Dienst, bei jedem Drill dabei, und biete nebenher Kurse in Erster Hilfe an. Wer glaubt, dass ein Schiffsarzt ein glamouröses Leben wie auf dem ZDF-„Traumschiff“ führt, der liegt gewaltig daneben.

Cookinseln, Pazifik: Ingenieur schwer an der Hand verletzt

Ich mache mich gerade fertig, ins Bett zu gehen, als ein Ruf durch die Lautsprecher fährt: „Mike Mike, Medical Team proceed to the passageway near forward passenger staircase.“ Im Gang vor dem Hospital windet sich der Zweite Ingenieur schreiend auf dem Boden. Er hatte sich in meine Richtung geschleppt, denn Maschine und Kontrollraum sind nicht weit vom Hospital entfernt. Um seine linke Hand ist ein Kleidungsstück gewickelt. Es ist dunkelrot, von Blut durchtränkt. Wir bringen ihn ins Zimmer der Chirurgie.

Seine linke Hand ist durch ein herunterfallendes Motorteil zerquetscht worden und ein Klumpen Knochen und Fleisch. Er wird sie sicher nie mehr gebrauchen können, denke ich. Die Blutung lässt nach, ich kann die Hand in sterile OP-Tücher einwickeln. Ich lege einen großvolumigen venösen Zugang, infundiere Ringer-Lösung und leite eine Narkose ein. Sofort wird der Patient ruhiger und schreit nicht mehr, bleibt aber motorisch unruhig. Wegen der intravenösen Narkose lege ich alles zur Intubation bereit; Sauerstoff gebe ich über eine Nasensonde, die Sauerstoffsättigung wird permanent überwacht und das EKG auf dem Monitor angezeigt.

Kapitän van de-Mache kommt ins Hospital, und ich wickele aus, was von der Hand übrig blieb. So blass habe ich den Kapitän noch nie gesehen. „Doc, ich kümmere mich drum“, murmelt er und geht zurück auf die Brücke. Wie ich später erfahre, sind nun alle Offiziere auf der Brücke versammelt, um nach einer Lösung zu suchen. Nach einer halben Stunde ruft mich der Kapitän an: „Wir brauchen 16 Stunden zur nächsten Insel mit Flughafen.“ „Das ist entschieden zu lang“, antworte ich. „Ich bin Internist, kein Narkosearzt.“

Ich bitte den Chief um einige Männer, die mir im Hospital helfen, denn ich kann den Patienten alleine nicht versorgen. Ich setze die Männer rechts und links vom OP-Tisch. Sie halten Arme und Beine, während eine Kollegin vom Service den Kopf des Schwerverletzten hält und beruhigend auf ihn einspricht. Jedes Mal, wenn ich die Dosis des Narkosemittels reduziere, wird der Patient wach und schreit, dass man es noch zwei Decks weiter oben hört.

Ich besorge mir einen familiären Rat über das Telefon. Mein Sohn ist Oberarzt der Anästhesie einer Uniklinik; er hat in seinem Dienst gerade mit einer Herzklappen-OP und zwei Organverpflanzungen zu tun. Er erklärt mir, wie ich das Narkosemittel fein einstelle, und empfehlt Morphinum hydrochloricum gegen die Schmerzen. Außerdem rät er, später noch ein anderes Narkotikum zu geben, weil es sonst zu grässlichen Halluzinationen kommt. In den folgenden Stunden kontakte ich ihn zwei weitere Male. Kapitän van de-Mache ruft im Abstand von 20 Minuten an, um sich nach dem Befinden des Zweiten Ingenieurs zu erkundigen.

Nach einigen Stunden bemerke ich, dass das Schiff den Kurs ändert und schneller fährt. Wir laufen mit Höchstgeschwindigkeit nach Aitutaki, einem Atoll im Archipel der Cookinseln. Es gibt zwar keinen Flugplatz, wohl aber ein Propellerflugzeug, das auf einer Wiese starten kann.

Obwohl es sehr früh am Morgen ist, stehen schon viele Passagiere aller Klassen an der Reling und beobachten unsere Arbeit an der Plattform. Wir haben raue See und der Staff-Kapitän einige Probleme, mit dem Tender anzulegen. Der Patient ist auf der Hubschraubertrage platziert und wird regelrecht auf das Rettungsboot balanciert. Wir können ablegen. Der Staff-Kapitän fährt äußerst vorsichtig, weil wir uns ständig über Untiefen bewegen. Ich kann die spitzen Felsen mit der Hand greifen und rechne innerlich jeden Augenblick mit einer Kollision. Das wäre fatal. Es soll viele Haie geben, und den noch halb narkotisierten Patienten aus dem Wasser zu ziehen wäre sicher schwer möglich.

Alle an Bord atmen durch, als wir an einem kleinen Steg anlegen, wo uns der Agent der Insel Aitutaki empfängt. Nach einiger Zeit fährt ein uralter Kranken­wagen heran. Wir drücken dem Patienten noch einmal die Hand und fahren zurück zum Schiff. Als wir an Bord übersteigen, sehen wir, wie der Flieger startet.

Lebensbedrohliche Herzprobleme in der Ostsee

Auf einer Passage nach Kiel alarmiert mich eine Frau. Ihr Mann fällt immer wieder hin, in einer Luxuskabine auf dem obersten Deck. Ich messe seinen Puls, stutze, messe nochmals, kein Irrtum: Puls 30 pro Minute. Sofort lasse ich ihn ins Hospital bringen. Das EKG zeigt einen totalen AV-Block, eine schwere Herzrhythmusstörung. Wegen einer Lungenstauung mit mittelblasigen Rasselgeräuschen gebe ich Furosemid und dazu mehrfach Atropin, doch die Herzfrequenz erhöht sich nicht.

Ich unterbreche den Kapitän während einer Führung auf der Brücke, und er reagiert ungehalten. „Hat das nicht Zeit bis Kiel?“, raunzt er mich an. Ich erkläre ihm, dass ein totaler AV-Block mit dem Leben nicht vereinbar ist. Der Patient ist ansprechbar, doch ich musste ihn immer wieder wach halten. Schläft er jetzt ein, dann stirbt er. Ich verdünne Adrenalin und lege eine Spritze sowie einen externen Schrittmacher bereit. Stunden vergehen, ich habe keine Antwort des Kapitäns erhalten. Schließlich klingelt mein Telefon. „Was ist mit einem Hubschrauber?“, fragt er.

Es gibt an Bord keinen Landeplatz, ich fürchte, dass der Passagier die Rettungsaktion nicht überlebt. Auch ist der Einsatz des Schrittmachers dabei nicht möglich. Eine weitere Stunde vergeht, bis das Telefon wieder klingelt. „Ein Krankenwagen von Rügen nach Rostock, was ist damit?“ Als sich herausstellt, wie lange der Wagen unterwegs sein würde, ist auch diese Option dahin. Fünfeinhalb Stunden Fahrtstrecke sind angesichts des starken Verkehrs an diesem Feriensonntag zu erwarten. „Lassen Sie uns einen Seenotrettungskreuzer rufen“, schlage ich vor. „Der hat sowohl einen Notarzt als auch einen externen Schrittmacher an Bord.“

Ich verwickle den Patienten in Gespräche, damit er wach bleibt. Er lässt alles mit bewundernswerter Haltung über sich ergehen. „Ich habe an dieser Stelle schon einmal durch einen Zufall überlebt“, sagt er. Seine Mutter und er hatten eine Fahrkarte für die „Wilhelm Gustloff“, um im Januar 1945 vor der heranrückenden Roten Armee zu fliehen. Mehr als 10.000 Passagiere befanden sich an Bord des völlig überfüllten ehemaligen KdF-Dampfers. Bei der Einschiffung aber wurde ihnen der Zutritt verwehrt. Das vermeintliche Unglück erwies sich als großes Glück: Ein russisches U-Boot torpedierte die „Wilhelm Gustloff“. Mehr als 9000 Menschen starben am 30. Januar 1945. Es war das schlimmste Schiffsunglück der Geschichte.

Zehn Stunden rede ich mit dem Patienten, immer die Adrenalinspritze in der Hand und den Schrittmacher in Reichweite. „Schlafen Sie nicht ein“, beschwöre ich ihn. Der Seenotretter kommt längsseits und übernimmt den Patienten über die Lotsenpforte. Ein Mediziner an Bord des Kreuzers übernimmt, und die Fahrt nach Rostock ist problemlos. Man implantiert ihm in der Universitätsklinik einen Schrittmacher und setzt nach einer Koronarangiografie mehrere Stents. Dem Mann geht es noch heute gut.

Eine Mund-Explosion imHafen von Antwerpen

In Antwerpen kommt es zu einem der skurrilsten Einsätze meiner Zeit auf See. Es gab einige, aber dieser ist unter den besten fünf. Während des Essens hören wir lautes Geschrei aus einer Ecke des Restaurants. Eine Passagierin schreit und reißt den Mund vor Schmerzen auf. Eine Explosion! In ihrem Mund.

Mir ist das Phänomen bekannt, doch ich behalte die Ursache lieber für mich. Kaviar bildet Gase, wenn er nicht ganz frisch ist. Durch schnelles Kauen können durch verschiedene Zahnmetalle Funken entstehen. So auch in diesem Fall. Im Restaurant steht eine Skulptur aus Eis. Ich breche ein Stück ab, damit die Frau den Mund kühlen kann. Das hilft. (...)

Immer mehr reiche Leute buchen die Luxussuiten und nehmen ihre Hunde mit, weshalb einige Kabinen hundegerecht umgebaut wurden, sogar mit einem kleinen Stück Rasen vor der Kabine. Die Hundebesitzer sind allein reisende Damen, die den Tieren fellbesetzte Daunenjacken überziehen und sie mit glutenfreien Leckerli und Biofutter versorgen. Sind mehr als drei Hunde an Bord, fährt ein Hundekoch mit. Ich frage mich, wann neben dem Schiffsarzt auch noch ein Tierarzt mit von der Partie ist.

Einige Damen, die Bandscheibenvorfälle haben, fahren die Hunde mit dem Rollator spazieren. Sie reden gerne von ihrem Hundehomöopathen, Hundeheilpraktiker, dem Hundephysiotherapeuten wegen Krankengymnastik, über die Ergotherapie und Lymphdrainage für den Begleiter mit Fell. Mittlerweile kennt man „Heilende Hunde“; Labradore riechen Darmkrebs, Schäferhunde den Prostatakrebs, der Pitbull ist Spezialist für Knochenbrüche. Es soll sogar Möpse geben, die zwischen Kassen- und Privatpatienten unterscheiden können.

Aufschrei der Reederei: Eine Patientin hat sich beschwert ...

Unfall im Gymnastikraum! Durch eine leichte Bewegung des Schiffes fällt eine ältere Dame zu Boden und schreit fürchterlich. Sie liegt völlig verdreht und lässt sich nicht anfassen. Die Fraktur des Oberschenkelhalses ist von außen zu sehen; mit vereinten Kräften gelingt es, sie von Deck zehn ins Hospital zu tragen. Die Röntgenaufnahme zeigt eine pertrochantäre Schenkelhalsfraktur, also relativ knapp unterhalb des Oberschenkelknochenkopfs. Hinzu kommt eine ausgeprägte Osteoporose, Folge der Dauermedikation von Cortison wegen Asthma bronchiale.

Sie ist in den nächsten Tagen eine äußerst anstrengende Patientin, die ununterbrochen Forderungen stellt und unzufrieden ist. Ich habe Verständnis. Es ist eine sehr schmerzhafte Fraktur, weit weg von zu Hause. Die Aussicht auf einen längeren Aufenthalt in einem hiesigen Krankenhaus, ohne vertraute Begleitung, gefällt wohl niemandem. Ich kann die Patientin beruhigen, denn ich kenne die Klinik in Salala im Oman von mehreren Einweisungen. Ärzte und Pflegepersonal verstehen ihren Job.

Kaum haben wir angelegt, halten schon zwei Krankenwagen an der Gangway. Mein Freund Ali begrüßt mich überschwänglich, wie es hier Sitte ist. „Ich habe alles organisiert“, sagt er. Äußerlich ist die Klinik eher bescheiden, doch in der großen Aufnahme herrscht rege Betriebsamkeit. Doch Agent Ali öffnet uns alle Türen; ich begleite meine Patientin zur Röntgenabteilung.

Die Schwestern sind sehr gepflegt, das Personal freundlich. Trinkgeld ist strengstens verboten. Es dauert den halben Tag, bis alles erledigt ist, und ich mache Aufnahmen für Kapitän und Reederei. Auch führe ich ein längeres Telefonat mit dem deutschen Botschafter in Oman, mit der Bitte, sich um seine Landsfrau zu kümmern.

Unser Schiff fährt weiter. Wenige Tage später kommt ein Aufschrei unserer Reederei: Die Dame mit der Oberschenkelfraktur werde miserabel versorgt, und ihr Zimmer sei eine schlechte Besenkammer. Als hätte ich es geahnt, kann ich nun meine Bilder zur Reederei und an den Kapitän mailen. Es ist eine Suite mit zwei Räumen, Wohn- und Schlafzimmer, Klimaanlage, Fernseher und einer kleinen Küche. Das Badezimmer ist geräumig. Es ist mir unverständlich, was das Problem sein soll, und ich kontaktiere unseren Agenten Ali. Ergebnis: Die – nennen wir sie: sehr anspruchsvolle – Patientin klingelt im Minutentakt nach der Schwester, sie benötigt andauernd Schmerzmittel. Als es Probleme mit Herz und Lunge gibt, wird sie in ihrem Bett hinter einen Vorhang in die Ambulanz geschoben. Natürlich ist es dort Tag und Nacht unruhig, in jedem Krankenhaus auf diesem Planeten ist das so.

Das Buch

„Wir glauben an die Kraft einer starken Geschichte. Kapitäne im Sturm, Bergleute im Ruhrgebiet, Fotografen im Krieg. Wir erzählen von Helden des Alltags.“ Das ist das Motto des Ankerherz Verlags in Hollenstedt, der in dieser Woche das Buch „Dr. Kreuzfahrt: Blinddarm im Atlantiksturm – ein Schiffsarzt über seine spektakulärsten Fälle auf See“ (206 Seiten, zahlreiche Fotos und Illustrationen, ISBN: 978-3-945877-23-4; 29,90 Euro) herausgebracht hat. Infos unter www.ankerherz.de