Hamburg. Manuskriptforscher der Universität Hamburg sind im Finale des Wettbewerbs um Fördermittel in der Exzellenzstrategie
Margit Kern folgt leidenschaftlich gern Fußspuren – aber nicht etwa im Wald, sondern auf Papier. „Viele davon sind einfach auch sehr schön“, sagt die 49-Jährige und blickt lächelnd auf die Abbildung eines weiß-bräunlichen Manuskripts, das eine Mischung aus Gemälde, Landkarte und Chronik ist: mit Häusern und stilisierten Bewohnern darin, verbunden durch ein Wegenetz, auf dem kleine Fußstapfen eingezeichnet sind, die durch ihre geschwungene
Form an Noten erinnern.
Lienzos heißen solche Bilderhandschriften; sie entstanden überwiegend im 16. und 17. Jahrhundert in Mexiko, das damals unter spanischer Herrschaft stand. Mit den Aufzeichnungen hielten Gemeinden unter anderem fest, welche Ländereien ihnen gehörten, um Gebietsansprüche nachweisen zu können – es war eine Dokumentation von Raum und Zeit. „Diese Erinnerungen waren politisch und ökonomisch wichtig“, erläutert Kern. „Zugleich wirkten die Lienzos identitätsstiftend, weil sie unter anderem Wanderungsbewegungen von Gruppen festhielten, symbolisiert durch Fußabdrücke.“
Bei einem Erfolg erhalten sie 40 Millionen Euro
Die Kunsthistorikerin beschäftigt sich derzeit eingehender mit den noch wenig erforschten Quellen. Bis 2012 arbeitete sie an der Freien Universität Berlin, dann wechselte sie an die Universität Hamburg in einen Sonderforschungsbereich, in dem es um Manuskriptkulturen in Europa, Asien, Afrika und Amerika geht. Seit 2011 hat die Einrichtung mehr als 20 Millionen Euro Fördergeld von der Deutschen Forschungsgemeinschaft erhalten. Hinzu kommen zehn Millionen Euro an weiteren Drittmitteln. Und vor Kurzem waren die Manuskriptforscher mit einem Antrag in der Zwischenrunde des Wettbewerbs um die Förderung durch die Exzellenzstrategie des Bundes und der Länder erfolgreich.
Drei weitere Forschergruppen der Universität können ebenfalls darauf hoffen, dass sie als Exzellenzcluster gefördert werden. Die endgültige Entscheidung, welche Projekte ab dem 1. Januar 2019 unterstützt werden, fällt im September 2018. Bei einem Erfolg erhielten die Hamburger Manuskriptforscher zusätzliche 40 Millionen Euro, verteilt über sieben Jahre.
Davon würden die Wissenschaftler erheblich profitieren, denn ihr eigener Erfolg wächst ihnen inzwischen fast über den Kopf. „Wir können unsere 39 Forschungsprojekte kaum noch verwalten“, sagt Sprecher Michael Friedrich, Professor für Sinologie. Derzeit arbeiten 130 Wissenschaftler aus 31 Nationen in der Einrichtung – 2012 hatte das Team 58 wissenschaftliche Mitarbeiter.
Manuskripte digitalisieren
Die Hamburger Forscher möchten erreichen, dass das Medium Manuskript künftig in einem globalen Zusammenhang gesehen wird. Lange habe sich die Forschung auf Handschriften aus Westeuropa konzentriert, sagt Michael Friedrich. Mit zusätzlichem Fördergeld würden sie neue Stellen schaffen und ihre Projekte ausbauen.
Nach Schätzungen seien etwa im arabisch-islamischen Raum noch mehrere Millionen Manuskripte unerschlossen. In Indien sollen es sogar zehn bis 30 Millionen sein. Zwar gelten Manuskripte als das Medium der Schriftlichkeit schlechthin; sie prägten Kulturen auf dem ganzen Globus maßgeblich. Und in Japan etwa wird die Kunst der Kalligraphie bis zum heutigen Tag gepflegt.
In etlichen anderen Ländern hingegen standen Manuskripte lange für eine überwundene Rückständigkeit. Zwar ändere sich diese Einstellung vielerorts und die Forschung zu Manuskripten wachse, sagt Michael Friedrich. „Das kulturelle Erbe, für das Manuskripte stehen, ist aber in Gefahr, etwa durch Extremisten, die alte Dokumente zerstören, aber auch durch ungünstige klimatische Bedingungen, Feuersbrünste und Erdbeben.“ Deshalb wollen der Forscher und seine Kollegen helfen, Manuskripte zu digitalisieren.
Aus Tierhaut hergestellt
Untergebracht in einem unscheinbaren weißen 70er-Jahre Bau in Rotherbaum, verfügt das Zentrum über modernste Technik, mit der die Forscher Objekte nicht nur archivieren, sondern vor allem sezieren – und so verborgene Schrift wieder sichtbar machen. Philologen, Historiker und Musikwissenschaftler arbeiten dabei Hand in Hand mit Naturwissenschaftlern und Informatikern.
Einen in Forscherkreisen viel beachteten Beleg für die Vorteile einer solchen Zusammenarbeit lieferte jüngst der Musikwissenschaftler Andreas Janke. Fünf Jahre lang erforschte er für seine Doktorarbeit das sogenannte San Lorenzo Palimpsest, ein aus 111 Pergamentblättern bestehendes Musik-manuskript, entstanden zu Beginn des 15. Jahrhunderts in Florenz. Die beschriebene Oberfläche der Blätter war Ende des 15. Jahrhunderts abgeschabt und neu beschrieben worden, weil die Kirche San Lorenzo ihre Besitztümer auflisten wollte und dafür Pergament brauchte, ein kostbares, aufwendig aus Tierhaut hergestelltes Gut.
Spektralkamera macht verborgene Schrift sichtbar
Seit der Wiederentdeckung des San Lorenzo Palimpsests vor 30 Jahren versuchten sich viele Forscher daran, die schemenhaften Zeichen deutlich zu machen, die zwischen der Schrift zu sehen sind – doch etliche Versuche etwa mit digitaler Bildbearbeitung schlugen fehl.
Andreas Janke und seine Kollegen vom Zentrum für Manuskriptkulturen machten mit einer Multispektralkamera von jedem Pergamentblatt 20 Aufnahmen, wobei sie Licht unterschiedlicher Wellenlängen einsetzten. Dabei reflektierte die Tinte je nach eingesetzter Wellenlänge das Licht unterschiedlich. Ein Computerprogramm machte durch eine Kombination der Aufnahmen die verborgenen Noten sichtbar. Zu den Erkenntnissen gehört etwa, dass in dem Manuskript bisher unbekannte Werke von Giovanni Mazzuoli verewigt sind, der als Organist in der Kathedrale von Florenz arbeitete.
Forscher Andreas Janke und seine Kollegen kamen noch in einen besonderen Genuss: Ein Musiker-Ensemble aus Basel, spezialisiert auf mittelalterliche Musik, sang und spielte den Wissenschaftlern die sichtbar gemachte Musik vor – ganz ohne moderne Technik.