Hamburg. Es ist das Jahr 1517: Ein junger Mönch findet, dass mit dem Glauben etwas aus dem Ruder läuft – und so protestiert er in Wittenberg.
Es ist bitterkalt im Januar Anno Domini 1517, und es wird Stürme, Dürre und Dauerregen geben in diesem Jahr. Wer in den Himmel über Wittenberg an der Elbe schaut, wo gerade der Strom zufriert, ahnt die Zeichen. Es liegt etwas in der Luft. Hinter dem Horizont, noch in Ferne, braut sich ein Sturm zusammen, der alles durcheinanderwirbeln wird.
Doch zunächst hält der eisige Winter Stadt und Land im Griff. Johann Tetzel, Sohn eines Goldschmieds aus dem sächsischen Pirna und Ablassprediger, stapft durch den Schnee. Endlich hat er es geschafft, in der Kirchenhierarchie aufzusteigen. Stolz hält der Dominikanermönch, in der nur mäßig warmen Klosterstube angekommen, seine Ernennungsurkunde vom 22. Januar 1517 zum Generalsubkommissar in der Hand. Unterzeichnet vom Mainzer Erzbischof Albrecht von Brandenburg. Jetzt kann Tetzel auch rund um Magdeburg Geld sammeln für einen guten Zweck, den Neubau des Petersdoms in der Ewigen Stadt Rom.
Den Deal versteht selbst der Dümmste: Gib deine Gulden, dann sind dir deine Sünden vergeben. Die Hälfte der Einnahmen fließt nach Rom, die andere teilen sich Tetzel und der Erzbischof. Man will ja schließlich auch leben. Haste was, biste was.
„Pecunia nervus rerum.“
Das Geld ist der Nerv aller Dinge, diesen Satz sagen jetzt viele, die an Fürstenhöfen, für die Fuggers und die heilige katholische Kirche in Diensten stehen und mithalten wollen mit Handel und Wandel.
Der Ablassprediger gefällt sich in seiner Rolle als zu Reim und Scherz aufgelegter Verkäufer.
„Sobald der Gülden im Becken klingt im huy die Seel im Himmel springt“.
Mit diesem Spruch, findet er, muss er auch in Halle und Zerbst und am Karfreitag in Jüterbog, vor den Toren Wittenbergs, parlieren und selbst von den ganz Armen den Obolus eintreiben. Stets hat er seine Ablassbriefe dabei, druckfrisch dank der Erfindung von Johannes Gutenberg aus Mainz. Gott hab ihn selig.
Tetzel schaut auf einen Standardtext und findet ihn ausgesprochen gut. Mehr geht doch nicht, dass „Seine Heiligkeit unser Herr Leo (…) allein und jeden gläubigen Christen beiderlei Geschlechts, welche zum Bau der Basilika des Apostelfürsten, des heiligen Petrus von Rom, (…) ihre hilfreiche Hand bieten, außer vollkommenem Ablass und andren Gnadenbeweisen (…) barmherzig im Herrn die Sünde vergibt und gestattet, dass sie sich einen geeigneten Beichtvater (…) wählen dürfen.“
Der Wittenberger Nachwuchs-Gelehrte Martin Luder – erst im Oktober wird er sich Luther nennen – kennt den Tetzel und seine Geschäftemacherei zur Genüge. Der Doktor der Theologie, seit 1512 Bibelprofessor an der aufstrebenden Wittenberger Universität Leucorea (Weißer Berg), hat an eigener Seele und Leib erfahren, dass die ganze geldwerte Büßerei für die Katz ist, weil der Mensch allein durch seinen Glauben, nicht aber durch sein Tun von Gott wertgeschätzt und geliebt wird.
„Sola gratia“, allein die Gnade zählt!
Bevor Luther im Wintersemester gegen sieben Uhr zu seiner morgendlichen Bibelvorlesung eilt, entschließt er sich, in Wittenberg eine öffentliche Predigt gegen den Ablasshandel zu halten. Am 24. Februar 1517, am Matthias-Tag, der damals als Frühlingsbeginn gilt, steigt er dann tatsächlich in der Stadtkirche, seiner Predigtstätte, auf die Kanzel und wettert wie ein Prophet warnend:
„O Gefahren unserer Zeit, o schlafende Priester, o mehr als ägyptische Finsternisse.“ Vergebung lasse sich nicht erkaufen, sondern allein Glaube und Reue zählen.
Luder hält die kriegerischen Türken für eine Strafe Gottes
Die Menschen sind beunruhigt. Sie haben Angst um ihr Seelenheil, besonders vor dem plötzlichen Tod. Ohne Ablass und die Letzte Ölung aus heiterem Himmel vor dem strafenden Gott zu stehen und in der Hölle zu schmoren versetzt sie in Schrecken. Der Tod kann jeden und jede jederzeit treffen.
Der Sensenmann kommt mit der Pestilenz und mit dem Krieg, obwohl das Jahr ausnahmsweise friedlich verlaufen wird. Er trifft auch blutjunge Mädchen, wie es der Renaissance-Maler Hans Baldung Grien in diesem Winter zu malen beabsichtigt. Ganz nackt wird sie der Tod auf seinem Gemälde an ihrem Schopfe ziehen, mit seiner rechten Hand in den Abgrund weisend. Bis zum Ende des Jahres wird das Gemälde vollendet sein.
Und die Menschen haben Angst vor „den Türken“. Sie kennen die Eroberungsgier der Osmanen und die Kampfkraft der Janitscharen, der Elitetruppe des Sultans, vom Hörensagen. Da gelingt dem Osmanischen Reich mit dem schnurbärtigen Sultan Selim I. ein weiterer Sieg bei der Eroberung der Welt. Am 23. Januar 1517 setzen die Türken im ägyptischen Kairo der Herrschaft der Mamluken ein Ende. Nach diesem furiosen Erfolg zieht Selim I. weiter mit seinem Heer und erobert die heiligen Stätten in Medina und Mekka. Als Nächstes will er die Kreuzritter auf Rhodos das Fürchten lehren.
Selim I. ist nicht zimperlich. Er lässt nach seiner Thronbesteigung alle Brüder und Neffen hinrichten. Um nicht mehr als zwei Nachkommen zu haben, zeugt er als Vater seines einzigen Sohnes Süleyman (des Prächtigen) keine weiteren Kinder mehr. Von Frauen hält sich der fromme, aber machtgierige Herrscher deshalb fern. Stattdessen dichtet er:
„Mein Kampf geht so lange weiter, bis Gottes Gesetz, die Scharia, auf der ganzen Welt herrscht oder ich sterbe.“
Für Luder ist klar: Die Türken bedrohen die Christen, jetzt kommt mehr als die „ägyptische Finsternis“. Die Türken sind eine Strafe Gottes, genauso schlimm wie der Papst. So schreibt er:
„Wie der Papst der Antichrist, so ist der Türke der leibhaftige Teufel.“
Ganz andere Töne kommen in diesen aufgewühlten Zeiten schon zu Jahresbeginn allerdings aus dem holländischen Rotterdam. Da sitzt der Humanist Erasmus wie jeden Tag am Tisch und geht seiner Lieblingsbeschäftigung nach: Er schreibt. Täglich im Schnitt 1000 Wörter. Luder hat sein neuestes Buch bekommen, „Moriae encomium“, Lob der Torheit.
Erasmus verfasst Briefe an die mächtigen Männer der Welt, theologische Traktate und jetzt, soeben vollendet, „Querela pacis“ (Klage des Friedens). Man möge ihn einen pazifistischen Utopisten nennen, wie sein Freund Thomas Morus einer ist, aber Krieg darf nicht sein, schreibt Erasmus den Regenten im Jahr 1517 ins Stammbuch. Der Frieden ist in Gefahr, weil die Königshäuser die Neuordnung Europas nach ihren Gunsten mit Kriegen erzwingen wollen.
„Der Engländer ist der Feind der Franzosen, aus keinem anderen Grund, als weil er Franzose ist. Der Schotte ist dem Briten feind, aus keinem andren Grund, als weil er Schotte ist. Der Deutsche ist dem Franzosen feind, der Spanier beiden.“
Spanier und Portugiesen sind den anderen Herrscherhäusern längst überlegen, weil sie neue Länder in Übersee in Besitz nehmen. Kolumbus hat 1492 Amerika entdeckt, und die Handelsbeziehungen der portugiesischen Krone gehen bis ins Reich der Mitte. Fremde Gewürze wie Zimt, Pfeffer, Muskat und Curry, Seide und Edelsteine gelangen auf das europäische Festland. Aus Indien ist zwei Jahre zuvor per Segelschiff wohlbehalten ein lebendiges Panzernashorn eingetroffen, das Albrecht Dürer und etliche andere Künstler zu Grafiken beflügelte. Ein Geschenk für Papst Leo X. Solche Bilder gehen jetzt von Hand zu Hand, und die Betrachter werden staunend gewahr, welche unbekannten Welten sich zunehmend erschließen und wie das Ferne plötzlich näher rückt.
Bis nach Wittenberg dringt solche Kunde. Studenten, die sich an der Leucorea einschreiben, bringen sie mit in die kleine Stadt mit ihren 2000 Einwohnern, die Luther als am Rande der Zivilisation liegend beschreibt. Seit Kurfürst Friedrich der Weise hier ein Schloss bauen lässt und vor 15 Jahren die Alma Mater gründete, strömen immer mehr wissbegierige Männer an diesen Wissenschaftsstandort, um später als Theologen, Mediziner und Juristen zu arbeiten. Drucker eröffnen ihre Handwerksbetriebe, und seit einiger Zeit ist auch der Maler Lucas Cranach ein Wittenberger Bürger, weil er unbedingt dem Ruf des sächsischen Kurfürsten folgen wollte.
Es soll noch einige Monate dauern, bis die Menschen in Mitteleuropa die Nachricht von der Entdeckung einer neuen Kultur erreicht – der Mayas und Azteken. Nach einem heftigen Tropensturm nimmt der Spanier Francisco Hernández de Córdoba, von Kuba kommend, mit seinen drei Schiffen Kurs auf eine Halbinsel, die sie später Yucatán nennen werden. Ein Navigator meldet am 3. März 1517 dem Expeditionsleiter Córdoba: „Herr, gute Nachricht. Vor uns liegt das reichste Land in Indien.“
Papst Leo X. schafft es, alle Reformvorschläge zu vereiteln
Noch sind die Spanier vorsichtig, als sie den Mayas begegnen und fragen, wie dieses Land denn heiße. „Yuk ak katan“, sagen sie, als einige Indios „lachend und mit Gesten des Friedens“ die großen Segler begutachten. Aber das ist nicht der Name der Halbinsel, sondern bedeutet: „Ich verstehe deine Sprache nicht.“ Bald darauf liefern sich beide Seiten blutige Gemetzel, bei denen die Indios zuletzt unterliegen.
In Wittenberg und den deutschen Landen hat es derweil seit Wochen nicht mehr geregnet. Was für ein trockenes Frühjahr, und dann noch dieser plötzliche Frost, der die Obstbaumblüte vernichtet hat. Mönch Martin sitzt im Turmzimmer des Wittenberger Augustinerklosters, seiner Studierstube, und schaut sorgenvoll aus dem Fenster. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Drucke und Briefe. Stets griffbereit: die Vulgata, die lateinische Bibelübersetzung, die hebräische und griechische Bibel. Was der 33-Jährige neuerdings wieder aus Rom hört, weckt freilich seinen juvenilen Zorn.
Papst Leo X., erst seit vier Jahren auf dem Stuhle Petri, hat es mal wieder geschafft, alle Reformvorschläge beim inzwischen fünften Laterankonzil im März abzuschmettern. Ämterhäufung? Weniger Privilegien für bestimmte Orden? Abgelehnt.
Der römische Klerus ist beruhigt. Der Heilige Vater geht in den Gärten unter der wärmenden Frühlingssonne selbstzufrieden spazieren. Schade nur, dass sein indischer Elefant Hanno an einer Verstopfung gestorben ist und das Rhinozeros aus dem fernen, heidnischen Indien nicht lebendig, sondern lediglich ausgestopft aus Lissabon in Rom eintraf. Das tierische Geschenk des portugiesischen Königs starb im Sturm auf dem Mittelmeer.
Leo X., Sohn der reichen Florentiner Kaufmannsfamilie Medici, wurde erst nach seiner Papstwahl Hals über Kopf zum Priester geweiht und liebt als Renaissance-Mensch das pralle Leben. Zwar treibt er es nicht ganz so toll wie seine Vorgänger. Aber er hält gern Hof und will den Neubau des Petersdoms, der wie so viele Bauten südlich der Alpen immer teurer wird, vorantreiben – per Ablasshandel.
Der fromme Mönch aus Wittenberg, der um einen gnädigen Gott ringt, wettert von der Kanzel der Wittenberger Schlosskirche gegen Tetzel und die Ablasshändler im Dienste des Pontifex: „Wenn einer gleich die heilige Jungfrau Maria, Gottes Mutter, geschwängert hätte, so könnte es der Tetzel vergeben, wenn man in den Kasten lege, was sich gebühre.“
Mit Geld lässt sich in diesen Zeiten eben alles regeln. Pecunia nervus rerum. Das Geld ist der Nerv aller Dinge. Luders Vaterstadt Eisleben profitiert vom wirtschaftlichen Aufschwung im Mansfelder Bergbau genauso wie das böhmische Bergdorf Conradsgrün, das sich 1517 in Sankt Joachimsthal umbenennt. Bald prägen sie hier, wo die Berge reichlich Silber bergen, den Guldengroschen Joachimsthaler, den sie dann „Taler“ und im Englischen „Dollar“ nennen. Dass alles ohne Lug und Trug zugeht, liegt den Hamburger Pfeffersäcken bei ihren internationalen Geschäften besonders am Herzen. Deshalb gründen sie 1517 in der Stadt mit ihren 14.000 Einwohnern die Versammlung Eines Ehrbaren Kaufmanns. Das setzt Maßstäbe im ersten europäischen Friedensbündnis, der Hanse.
Überall lodern Scheiterhaufen für die Hexenverbrennung
Dem gemeinen Volk geht es allerdings nicht gut – ob es im Elsass oder Breisgau lebt. Insbesondere die Bauern am Oberrhein stöhnen seit Jahren unter den hohen Abgaben und Schulden. So formiert sich im April wieder einmal Widerstand des Landvolks, das seit 1493 als Erkennungszeichen einen Bundschuh, den bäuerlichen Schnürschuh, mit sich führt, damit jeder weiß, was Sache ist. Kinder von Leibeigenen wie der Landsknecht Joß Fritz fordern das Ende von Leibeigenschaft und Gewalt durch den Adel.
Den sporenklingenden Ritterstiefeln setzen sie die sanfte Revolte der Bundschuhe entgegen und brechen langsam, aber sicher damit dem Bauernkrieg Bahn.
Frage: „Gott grüß dich Gesell! Was ist dir für ein Wesen?“
Antwort: „Wir mögen von den Pfaffen und Adel nit genesen!“
Doch es kommt immer wieder zu Verrat in den eigenen Reihen. Die Bundschuh-Anhänger werden von der Obrigkeit und deren Henkern verhaftet, verurteilt, geköpft, gevierteilt und als abschreckendes Beispiel an den Landstraßen zur Schau gestellt.
In den Klosterbibliotheken und Amtsstuben erobern derweil zwei Bestseller die Regale. Auch Martin Luder kennt sie: Der eine ist die handliche Taschenausgabe des berühmten, sonst 700 Seiten starken „Malleus maleficarum“ (Hexenhammer), ein umfassendes Lehr- und Prozessbuch zum Zwecke der Hexenverfolgung. Und in deutscher Sprache befindet sich der „Laienspiegel“ im Umlauf, der Buchdruck beschleunigt seine Verbreitung.
Für den Inquisitor Heinrich Kramer, den vor zwölf Jahren verstorbenen Verfasser des „Hexenhammers“, stehen in erster Linie Frauen im Verdacht, Hexen zu sein. Zahlreiche von ihnen hätten einen Pakt mit dem Teufel geschlossen und betrieben Zauberei zum Schaden anderer Menschen, auch Kindern. Die Justiz setzt Kramers „Hexenhammer“ längst als Anleitung für die Prozesse ein, während landauf, landab die Scheiterhaufen lodern und Frauen verbrennen. Frauen, findet der Dominikaner, neigten ohnehin zur Lüge und verfügten über einen minderen Glauben.
Die Judenhetze erreicht einen neuen Höhepunkt
„Decit enim femina fe minus: quia semper minorem habet et servat fidem. Es heißt nämlich femina (lat.: Frau), fe (fides: Glaube) und minus (weniger), weil sie regelmäßig weniger Glauben hat und bewahrt.“
Die Wittenberger Gläubigen fragen ihren Prediger Martin Luder, was es denn mit diesen Hexen auf sich habe. Um seine Sicht der Dinge darzulegen, weist der Professor auf die Heilige Schrift. 2. Mose 22, Vers 18:
„Die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen.“ Also: Tötet sie.
Auch auf die Juden ist Martin Luder nicht gut zu sprechen, da liegt er ganz im Mainstream der Zeit. Schließlich lästerten sie mit ihren Schriften Gott und setzten auf ihre Werke mehr als auf ihren Glauben, hat er in einem Brief am 5. August 1514 geschrieben. Persönlich ist er Juden höchstens mal in seiner Vaterstadt Eisleben begegnet, sonst kennt er keine.
Im Juni, als sintflutartige Regengüsse über dem süddeutschen Regensburg niedergehen, erreicht die Pogromstimmung gegen die Juden einen weiteren Höhepunkt. Wo Juden schon seit mehr als 500 Jahren wichtige Positionen in der Geldwirtschaft bekleiden, haben die Christen ihnen längst gezeigt, was sie in Wirklichkeit von ihnen halten: Am Südeingang des Regensburger Doms steht ein Wandpfeiler, an dem ein Relief eine Sau mit Zitzen und drei Juden darstellt. Die Judensau-Figur ist damals ein höchst beliebtes Sujet, um das Volk Gottes, das Schweine für unrein hält, zu diskreditieren.
Im Juni, während der Wittenberger Augustinermönch Martin Luder sich mit dem Gedanken trägt, etwas zum Thema Ablasshandel aufs Papier zu bringen, steht die Zukunft der Regensburger Juden auf Messers Schneide. Klerus und Bürgerschaft wollen sie komplett aus der Stadt vertreiben und hoffen, dass die zahlreichen Schuldner dann weder Zinsen noch den geliehenen Betrag zurückzahlen müssen.
Nun geht es nur noch darum, dass der Schultheiß beim Reichskammergericht die reichsrechtliche Erlaubnis zur Vertreibung erwirkt. Aber die Juden nutzen alle Rechtsmittel aus und rufen Kaiser Maximilian I. an, der bekräftigt:
„dhweyl nu die Judischait in Regensburg uns zugehoret“. Für Erste sind sie gerettet und können bleiben.
Luder ahnt, dass solche Zusagen nicht viel wert sind, weil die Juden eben Gott lästern. Aber ihn treiben im Spätsommer andere Gedanken und Pflichten um. Der Theologieprofessor arbeitet in einer kurfürstlichen Kommission zur Universitäts- und Studienreform mit. Zeit bleibt für ihn ein knappes Gut.
„Ich tue den ganzen Tag beinahe nichts weiter als Briefe schreiben. Ich brauche fast zwei Schreiber oder Kanzler. Ich bin Klosterprediger, Prediger bei Tisch, täglich werde ich auch als Pfarrprediger verlangt (…) Ich halte Vorlesungen über Paulus, sammle Material für den Psalter. Selten habe ich Zeit, das Stundengebet ohne Unterbrechung zu halten.“
Auch sitzt er im Beichtstuhl und hört mit eigenen Ohren die Geschichten der Gläubigen über Tetzel, den Ablassprediger. Wie leicht es doch ist, mit Gulden in Gottes Himmel zu kommen. Der Ablass ist wie eine Vollkasko-Versicherung, oder Pater Martinus?
Als die Tage im Herbst kürzer werden, muss Martin Luder die Dinge auf den Punkt bringen. So kann es jedenfalls nicht mit der Kirche Jesu Christi weitergehen. In 95 knappen Sätzen bringt er seine Positionen in puncto Ablasshandel zu Papier – auf Latein. In dem gedruckten Plakat, das er am 31. Oktober 1517 an die Schlosskirche zu Wittenberg heftet, ruft der Pater zu einer akademischen Disputation unter seinem Vorsitz auf.
Martinus stockt, dann zeichnet er erstmals mit „Luther“
These 1: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht: ‚Tut Buße‘ (Matth. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sei.“
These 50: (...) Wenn der Papst wüsste, wie die Ablassprediger das Geld eintreiben, ließe er lieber die Peterskirche zu Asche verfallen, als sie mit Haut, Fleisch und Knochen seiner Schafe aufzubauen.“
Der Theologieprofessor wartet vergeblich, dass jemand seiner Einladung zur Disputation an der Universität folgt. Noch am selben Tag schickt er drei Exemplare an seine Vorgesetzten, darunter den Mainzer Erzbischof Kardinal Albrecht, nicht ahnend, dass dieser selbst von dem Ablass-Deal profitiert.
Am Ende des Briefes will er seine Unterschrift unter die Schreiben setzen. Martinus Luder, 1483 in Eisleben geboren, stockt für einige Sekunden. Dann schreibt er statt Luder – erstmals und für alle Zeit – den Namen Luther. Das klingt wie „Eleutherius“, der Freie und Befreite, findet er.
So befreit fühlt er sich auch, als er die Briefe verschließt und die Wittenberger Drucker wenig später seine Thesen auf Latein veröffentlichen. Noch vor Weihnachten 1517 werden sie in Nürnberg erstmals in deutscher Sprache gedruckt und rasch verbreitet.
Der Sturm neuer Ideen ist entfacht. Er bringt eine neue Zeit.