Hamburg. Ladendiebe verursachen im Hamburger Einzelhandel 60 Millionen Euro Schaden. Immer häufiger sind Profi-Banden unterwegs.
Er hat den Blick. Wenn Matthias Dreiucker durch den Supermarkt geht, sind seine Augen überall. Ganz unwillkürlich. Die Frau vor dem Kosmetikregal zum Beispiel, steckt die da gerade was in die Handtasche? Und der junge Mann im Sweatshirt beim Tabak, der sich immer wieder umguckt. Ist das eine unbewusste Geste, um mögliche Beobachter zu checken? Entwarnung, der Kunde suchte offenbar seine Familie und den Einkaufswagen.
Aber wenn jemand in den Laden kommt, die Baseball-Cap ins Gesicht gezogen und direkt auf den Gang mit den Spirituosen zusteuert, schrillen bei dem Mann mit dem betont unauffälligen Äußeren die Alarmglocken. „Das ist oft ein Signal, dass jemand nicht erkannt werden will.“ Den richtigen Blick zu haben ist sein Job. Dreiucker muss Diebe von Kunden unterscheiden, schnell und sicher. Er ist Ladendetektiv.
Pro Tag ein Ladendieb
Einer mit viel Erfahrung. Seit 25 Jahren arbeitet der Niedersachse in dieser Branche. Er hat Jugendliche beim Klauen erwischt, Hausfrauen und Rentner, wenn er durch die Gänge von Kaufhäusern, Bau- und Elektronikmärkten oder Lebensmittelgeschäften streift. Oder, das ist der Normalfall, vor den Monitoren die Bilder der Überwachungskameras analysiert. „Im Verdachtsfall bin ich in 30 Sekunden draußen“, sagt der 49-Jährige.
An diesem Tag ist er in einem Laden im Hamburger Umland im Einsatz. Name und Ort sollen bitte nicht genannt werden, sagt er. Denn Ladendiebstahl ist ein Thema, mit dem Händler gar nicht gern in Verbindung gebracht werden wollen. Sicherheitsexperte Matthias Dreiucker sieht es professionell. Pro Tag ein Ladendieb, lautet seine Faustregel. Bei 5000 gefassten Tätern hat er aufgehört zu zählen. In jüngster Zeit, sagt er, hat sich das Umfeld geändert. „Es sind immer mehr Banden mit Profi-Dieben unterwegs.“
Anzeigen deutlich gestiegen
In den vergangenen Jahren sind die Anzeigen von schweren Ladendiebstählen deutlich gestiegen, seit 2013 um etwa 30 Prozent. Das ergibt sich aus einer Erhebung des EHI Retail Institute und Zahlen der Kriminalstatistik. Bundesweit liegen die Verluste durch Ladendiebstähle im Einzelhandel demnach bei 2,26 Milliarden Euro. 356.000 „einfache“ Diebstähle wurden 2016 angezeigt, etwas weniger als im Vorjahr. Dagegen stieg die Zahl der „schweren“ Diebstähle um 2,46 Prozent auf 22.500. Damit haben sich diese binnen 20 Jahren fast verdreifacht. Rein rechnerisch bedient sich jeder Bundesbürger jährlich an Waren im Wert von 27 Euro im Einzelhandel, ohne zu bezahlen.
In Hamburg wurden 15.912 Ladendiebstähle registriert, das entspricht im Vorjahresvergleich einem leichten Plus von 0,3 Prozent. Im Vergleich zu 2014 sind es allerdings knapp acht Prozent mehr. Die Polizei geht von einem sehr hohen Dunkelfeld aus. „Neben einer Vielzahl an Einzeltätern liegen uns Erkenntnisse zu gemeinschaftlich und arbeitsteilig agierenden Tätergruppen vor“, sagt Polizeisprecher Rene Schönhardt. Deshalb werde der Diebstahl häufig nicht sofort erkannt. Der Handelsverband Nord beziffert den Schaden durch Diebstähle in Hamburg auf 60 Millionen Euro. „Ladendiebstahl stellt für den stationären Einzelhandel hier eine enorme und stetig steigende Belastung dar“, sagt Geschäftsführerin Brigitte Nolte.
Vor allem Banden aus Georgien
Ladendetektiv Dreiucker hat sein Smartphone herausgeholt. Er ist seit sechs Jahren auch Unternehmer im Sicherheitsgewerbe mit 30 Mitarbeitern und Kunden in ganz Norddeutschland. Auf einem Foto zeigt er einen Mann, der einen Lebensmittelmarkt mit vollem Einkaufswagen offensichtlich durch den Eingangsbereich verlassen will – ohne zu bezahlen. Obenauf liegt eine große Packung Toilettenpapier. „Den haben wir geschnappt“, sagt Dreiucker und klingt zufrieden.
Das nächste Foto zeigt, was sonst noch in dem Wagen liegt: ein Dutzend Flaschen Whisky mit einem Warenwert von knapp 1000 Euro. „Das sind gewerbsmäßige Diebe. Draußen auf dem Parkplatz warten die anderen im Auto, um schnell abzuhauen“, sagt er. In den vergangenen vier Jahren seien vor allem Banden aus Georgien unterwegs. „Die haben die Rumänen abgelöst.“ Die Waren werden weiterverkauft, teilweise auch in Paketen verschickt. Es soll sogar Bestelllisten geben.
Andere Täter haben mit Alufolie präparierte Taschen, die verhindern, dass die Sicherungssysteme anschlagen. Auch sogenannte Diebesschürzen sind im Einsatz, in die, unter einem weiten Rock getragen, die Kriminellen von der Konservendose bis zu teuren Rasierklingen alles Mögliche verschwinden lassen. Wenn Dreiucker einen Diebstahl beobachtet hat, also einen begründeten Verdacht hegt, spricht er die Personen an. Möglichst hinter der Kasse. Und immer ganz höflich. „Rhetorik“, sagt er, „ist sehr wichtig in der Situation.“
Erwischt er jemanden auf frischer Tat, kann er den Täter – wie jeder andere auch – nach Paragraf 127 Strafprozessordnung vorläufig festnehmen. „Einige geben die Tat gleich zu, andere versuchen, mir Lügen zu erzählen oder das Diebesgut verschwinden zu lassen“, erzählt Dreiucker. Er kennt vermutlich alle Tricks. Manche versuchen die geklauten Waren noch auf dem Weg ins Büro zurück ins Regal zu stellen oder lassen sie fallen. Motto: gehört mir nicht. Strafanzeige erstattet der Detektiv in jedem Fall. Bei kleineren Delikten kommen die Diebe nach der Feststellung der Personalien mit Hausverbot und einer Strafzahlung davon, bei schweren Fällen holt Dreiucker die Polizei.
Anfragen nach Detektiven steigen
Die Zusammenarbeit laufe in den meisten Fällen gut. Aber, sagt er, es gebe bei der Polizei auch Vorbehalte gegen Detektive. „Dabei möchte ich nicht wissen, wie die Aufklärungsquoten aussehen würden, wenn es uns nicht gäbe“, sagt Dreiucker, der im Bundesverband Deutscher Detektive (BDD) als Regionalleiter Nord fungiert. Nach seinen Schätzungen gibt es in Deutschland etwa 4000 zugelassene Detektive, davon etwa 2600 im Bereich Ladendiebstahl. Die Berufsbezeichnung ist nicht gesetzlich geschützt, zur Ausübung reicht eine Gewerbeanmeldung. Unterschieden werden die Arbeitsfelder von privaten Ermittlern und Kaufhausdetektiven. Voraussetzung, um als Kaufhausdetektiv arbeiten zu können, ist eine Sachkundeprüfung vor der IHK nach Paragraf 34a Gewerbeordnung.
Mit konkreten Zahlen über die Menge und Art der Einsätze halten sich alle Beteiligten zurück. Aber die Nachfrage steigt. Das bestätigt auch Carsten Klauer, Geschäftsführer der Power GmbH. Das Sicherheitsunternehmen mit bundesweit 1000 Mitarbeitern gehört zu den großen Anbietern, beschäftigt allein in Hamburg 20 Kaufhausdetektive. Bundesweit sind des 150. „Wir wachsen in dem Bereich“, sagt Klauer. Auch Matthias Dreiucker hat mehr Anfragen nach Detektiven und sogenannten Doormen, die vorbeugend zur Abschreckung von Dieben am Ladenausgang positioniert werden. Zusätzlich werde zunehmend aktuelle Videotechnik von den Händlern bestellt.
Diebe werden immer dreister – und brutaler
„Der Schaden ist erheblich und steigt jedes Jahr“, sagt Cord Wöhlke, Chef der Drogeriekette Budnikowsky. Als einer der wenigen Händler nennt er konkrete Zahlen. „Nach unseren Berechnungen wird der Schaden im laufenden Jahr bei bis zu 2,5 Millionen Euro liegen.“ Auch er sieht immer häufiger Profis am Werk, die „in Gruppen sämtliche Produkte einer ganzen Theke oder eines Regals abräumen“. Aber auch der sogenannte „kleine Ladendiebstahl“ belaste das Unternehmen in steigendem Maß. „Vorsicht, Diebe unterwegs!“ so lauten die E-Mails, mit denen sich die Filialen untereinander warnen, wenn sie einen Diebstahl beobachtet haben.
In einem großen Verbrauchermarkt in Hamburg sind es vor allem teure und kleine Artikel, die gestohlen werden. „Uns geht etwa ein Prozent des Umsatzes durch Ladendiebstähle verloren“, sagt der Geschäftsführer, der anonym bleiben möchte. In Filialen des Buchhändlers Thalia stehen aktuelle Bestseller im Fokus der Diebe. In Baumärkten verschwinden Bohrmaschinen und andere teure Werkzeuge. Laut Polizei gehören hochwertige Kosmetika neben Markentextilien, Spirituosen, Elektronikartikeln und Lebensmitteln zu den Artikeln, auf die es Ladendiebe besonders abgesehen haben.
35 Millionen Euro für die Diebstahlsicherung
Allein in Hamburg investieren die Händler jedes Jahr 35 Millionen Euro in die Diebstahlsicherung. Bundesweit waren es den Zahlen des EHI zufolge 1,3 Milliarden Euro. Im Schnitt sind das für jeden Händler 0,32 Prozent vom Umsatz. Neben dem Einsatz von Ladendetektiven werden vermehrt Überwachungskameras und elektronische Warensicherungssysteme installiert. Andere Händler haben in die barrierefreien Eingänge wieder Drehkreuze eingebaut, um Täter an der schnellen Flucht zu hindern. In der EHI-Umfrage gab etwa ein Drittel der Befragten an, im nächsten Jahr vor allem in die Schulung von Mitarbeitern investieren zu wollen.
„Besorgniserregend ist vor allem der dramatische Anstieg von schwerem Ladendiebstahl. Die Antwort hierauf kann nicht in immer umfangreicheren Investitionen in Sicherheitstechnik liegen, sondern muss eine konsequentere Verfolgung und Bestrafung sein“, sagt Brigitte Nolte vom Handelsverband Nord. Das fordern immer mehr Händler. „Diebstahl ist kein Kavaliersdelikt“, sagt auch Budni-Chef Wöhlke. Derzeit geschehe nach einer Anzeige meistens so gut wie nichts. Das sei frustrierend für die Teams in den Filialen, aber genauso auch für die Polizei. „Die Justiz ist jetzt gefordert, mehr zum Schutz des Eigentums zu unternehmen – immerhin ein Grundrecht“, sagt Cord Wöhlke.
„Mehr als 95 Prozent der Zeit ist warten“
Dass die Diebe immer dreister werden, erlebt Marius Bernutz häufig. Der 32-Jährige arbeitet für die Lübecker Detektei Schmidtke an unterschiedlichen Orten in Norddeutschland als Kaufhausdetektiv. An diesem Tag ist er in einem Hamburger Baumarkt im Einsatz. „Mehr als 95 Prozent der Zeit ist warten“, sagt er. Bezahlt wird in der Branche oftmals kaum mehr als Mindestlohn. Sein Arbeitgeber zahle aber mehr. Der Job sei nicht nur verantwortungsvoll, sondern manchmal auch gefährlich. „Es gibt Leute, die mit allen Mitteln versuchen, sich einer Festnahme zu entziehen.“ So habe einer versucht, ihn eine Treppe runterzustoßen. Auch Anfeindungen und offene Drohungen hat der Sohn einer Thailänderin und eines Deutschen schon erlebt. Inzwischen trägt der Familienvater fast immer eine Schutzweste.
Auch Matthias Dreiucker wurde schon angegriffen. Nachdem er eine Diebesbande erwischt hatte, schlug ihm einer der Tatverdächtigen mit einer Stange aufs Handgelenk, sodass es fünffach gebrochen war. In einem anderen Fall zückte ein Rentner plötzlich ein Messer, als der Ladendetektiv ihn wegen einer geklauten Creme zur Rede stellen wollte. „Der hatte Angst, dass seine Ehefrau den Diebstahl bemerkt“, sagt er. Die Sache endet für den Dieb mit einer sechsmonatigen Haftstrafe auf Bewährung und einer Schmerzensgeldzahlung.
Erfolg bedeutet, Banden zu erwischen
An diesem Tag ist der 49 Jahre alte Familienvater von der Marktfläche wieder vor die Monitore im Büro zurückgekehrt. 20 Kameras sind auf der 1800-Quadratmeter-Fläche installiert. Mit moderner Technik kann der Detektiv in fast jeden Winkel gucken und einzelne Kunden am Bildschirm verfolgen. Was ist für ihn Erfolg? Dreiucker überlegt. „Wenn ich eine Diebesbande erwische, freue ich mich. Die sind Profis in ihrem Bereich, und ich bin es auch“, sagt er. Er freue sich auch, wenn der Schaden beim Händler durch seine Arbeit sinke. „Aber ich messe mich nicht daran, wie viele Täter ich gefasst habe.“