Hamburg. Chefdirigent Thomas Hengelbrock und NDR-Elbphilharmonie-Orchester setzen sich erneut mit Mahlers epischem Spätwerk auseinander.

Gerade einmal 20 Monate ist es her, dass Thomas Hengelbrock die Neunte von Mahler in einem Hamburger Abo-Programm seines NDR-Orchesters dirigiert hat. Normalerweise wandert ein solcher Chefsache-Brocken danach für längere Zeit zurück ins ­Repertoire-Archiv, um für das nächste Mal Aura zu tanken und die Begehrlichkeit des Wiederhörens zu wecken. Doch das war ja noch in der ­Laeiszhalle gewesen, in einer sehr anderen Klangwelt, in einer ganz anderen ­ästhetischen Epoche. Und für ein so großformatiges Opus war der Saal am Brahms-Platz jahrzehntelang eine luxuriöse Notwehr-Spielstätte. Es ging dort, und es gab nichts anderes. Drei Monate später nur gastierte das Boston Symphony mit seinem Chef Andris Nelsons dort, und beide ließen ihre Neunte Mahler souverän in einer gänzlich anderen Liga spielen.

Nun allerdings gibt es anderes, ganz anderes, und der Eindrucksvergleich mit der letzten Begegnung im Februar 2016 ließ die musikalischen Möglichkeiten und Eigenheiten der beiden verwandten Prestige-Adressen deutlich ­erkennen. Vereinfacht zusammen­gefasst: In der Laeiszhalle wirkte und klang die Neunte eher noch wie ein an seinen Rändern bröckelnder Schlussstein des 19. Jahrhunderts, das sich in seine für ­sicher und solide gehaltenen Bestandteile auflöste – in der Elbphilharmonie jedoch schon wie ein früher, ­radikaler, visionärer Wegweiser in klassische Moderne und Gegenwart.

Tief hinein in den Schmerz

Damals wurde der gute alte Schuhschachtel-Saal durch Mahlers letzte vollendete Sinfonie an seine Grenzen ­gedrängt; jetzt, im Update, hatte die Neunte genügend Luft und atmosphärischen Auslauf zum Atmen, und auch das NDR-Orchester wirkte in seiner Grundspannung gelassener. Mahlers Neunte wurde aber auch einer drastischen, ­zutiefst verletzlichen Durchhörbarkeit preisgegeben, die ihre Struktur, ihre verfinsterten Abgründe und die harten Sollbruchstellen klar konturierte. Schon der Einstieg in den ersten Satz war so ein Puzzle-Moment. Nach und nach bildeten sich Ideenmomente kreuz und quer durch die Instrumentengruppen – wie erste Wurzeln. Hier eine erste Phrase im Holz, dort eine zweite, ganz ­anders fortspinnende Streicherlinie.

Alles so gewollt vom Komponisten, um sich aus den Denkmustern und Spielregeln früherer Sinfonien zu ­befreien. In der Laeiszhalle jedoch hatten sich diese Einzelteile deutlich ­geschmeidiger zu- und ineinander­gefügt. Gerade der Partitur-Präsentierteller-Effekt der zeitgenössischen Toyota-Akustik war eine Herausforderung für die Gruppendynamik des Orchesters, das sich – immer wieder seine Nervenbahnen justierend – daran zu erinnern schien, wie wichtig dramatische Stimmigkeit ist, wenn einem durch die ­Musik konsequent der Boden unter den Füßen weggezogen wird.

Elementare Zerrissenheit

Hengelbrocks überzeugende, aber nicht überwältigende Maxime: ohne Wenn und Aber tief hinein in den Schmerz, in die elementare Zerrissenheit. Ausrutscher in dröhnendes Pathos oder blankes Selbstmitleid fanden nicht statt, Hengelbrock behielt ausdrücklich und eindringlich klaren Kopf. Auch dem nur oberflächlich geschminkten Ländler-Idyll-Schein des zweiten Satzes traute er an diesem Abend nicht weit über den Weg. Das folgende Rondo mit seinen Verweilphasen gestaltete er als ein letztes, ins Leben und ins Über­leben ­gerichtete Ablenkungsmanöver für das taumelnde Individuum.

Erst der letzte Satz stellte mit ­unmissverständlicher Drastik die eine, fürchterliche, letzte Frage: Wie klingt eine einsame Seele, wenn sie vergeht und das weiß? Und nun wurde es, endlich, sprichwörtlich totenstill im Großen Saal. Das bisschen Zusammenhalt, der Kitt der hochgehaltenen Normalität mit ihren Widersprüchen, fiel in diesem Adagio endgültig in sich zusammen. Der Klangkörper, der in der Musik eine Stunde lang mit dem Schicksal gerungen hatte, pumpte mehr und mehr Herzblut ins Nichts. Und das NDR-Orchester zog sich – großartig gemacht und erschütternd zugleich – in die Grenzbereiche des gerade noch Hörbaren zurück. Für diese halbe Adagio-Stunde wurde der von Mahler notierte Orchesterapparat durch das teuerste Instrument der Welt erweitert: die Stille, die nur dieser Saal produzieren kann.

Das Konzert wird am Sonntag, 22.10., 11 Uhr, wiederholt. Restkarten ggf. an der Tageskasse