Hamburg. Abendblatt-Redakteur Hinnerk Blombach ist überzeugter Bahnfahrer und täglich 150 Minuten unterwegs. Er schildert, was er dabei erlebt.
Wenn alles gut geht, schließe ich morgens um 7.45 Uhr die hintere, zum Fußweg gelegene Haustür ab und mache mich mit meinen drei Jungs auf zur benachbarten Grundschule im Hamburger Westen, danach weiter zum S-Bahnhof Othmarschen. Wenn alles gut geht, schließe ich um kurz vor neun Uhr die Tür zur Abendblatt-Redaktion in Ahrensburg auf. Wenn alles gut geht, schließe ich abends gegen 20.15 Uhr, von der Straßenseite kommend, die vordere Haustür im Hamburger Westen wieder auf. Aber wann geht schon mal alles gut – im Leben eines Pendlers?
Zwischen Hintertür und Vordertür liegen nicht nur viele Stunden, sondern auch viele Kilometer. Zwischen 40 und 50 pro Strecke, je nachdem, wie man fährt. Ich fahre mit der Bahn. S-Bahn und Regionalbahn Schleswig-Holstein. Zwischen Hinter- und Vordertür liegt bei mir viel Schiene, viel „Zurückbleimbidde“ und „Aufgrundeinersignalstörung ...“
Fast 500.000 Menschen pendeln
Als ich vor etwa sechs Jahren die Aufgabe als Leiter der Ahrensburger Redaktion angenommen habe, war ich zunächst skeptisch: Würde mich die tägliche Fahrerei von meinem Wohnort im Hamburger Westen in die im nordöstlichen Umland gelegene Stadt nicht unendlich nerven? Einmal quer durch ganz Hamburg – und dann noch in ein anderes Bundesland? Würde nicht viel zu viel wertvolle Zeit mit der Familie draufgehen? Würde ich nicht ständig wegen ausfallender oder verspäteter Zuge fluchen?
Aktuelle Zahlen des Statistischen Bundesamts zeigen, dass allein in Hamburg fast 500.000 Menschen pendeln. Fast 342.000 von ihnen sind im Jahr 2016 zum Arbeiten werktäglich in die Hansestadt gekommen. Umgekehrt fahren 120.000 Menschen jeden Tag zum Arbeiten raus aus der Stadt. Die meisten von ihnen (rund 60.000) ins schleswig-holsteinische Umland, das mit wirtschaftlich starken Städten wie Norderstedt, Reinbek oder eben Ahrensburg vielen Hamburgern attraktive Arbeitsplätze bietet. Bundesweit hat der Anteil der Pendler in diesem Sommer eine neue Rekordhöhe erreicht. Laut Bundesinstitut für Bau-, Stadt-, und Raumforschung nehmen fast 60 Prozent der Beschäftigten zum Arbeitsplatz lange Wege in Kauf. In absoluten Zahlen sind das 18,4 Millionen Menschen.
Ein Privileg
Hunderttausenden Männern und Frauen in der Metropolregion Hamburg und noch viel mehr bundesweit geht es ähnlich wie mir. Nur dass die meisten mir beim Pendeln entgegenkommen. Häufig haben sie sich bewusst dazu entschieden, im beschaulichen Umland zu leben und weiterhin in der Großstadt zu arbeiten. Andere haben die dramatisch steigenden Miet- und Immobilienpreise in der Stadt aufs Land getrieben. Sie sind Einpendler, wie die Verkehrsexperten sagen. Ich bin Auspendler. Als solcher zähle ich in Hamburg zu einer Minderheit unter den Pendlern. Das ist gleichwohl ein Privileg, das mir jeden Morgen und jeden Abend vor Augen geführt wird. Denn ich fahre gegen den Strom.
Wenn sich morgens gegen 8.20 Uhr die Menschenmassen aus dem ankommenden Regionalexpress über den Bahnsteig an Gleis 5 des Hamburger Hauptbahnhofs ergießen, steige ich wenig später in den vielleicht zu einem Drittel gefüllten Zug, der sich dann wieder auf den Weg Richtung Norden macht, um im nächsten Schwung erneut rund 900 Pendler auf seinem Weg von Lübeck über Reinfeld, Bad Oldesloe und Ahrensburg aufzusaugen und in Hamburg auszuspucken – auf dass sie in die nächste U- und S-Bahn oder in die umliegenden Büros ausschwärmen.
Hasserfüllte Blicke
Wer glaubt, dass man als Bahnpendler nicht im Stau stehen kann, der sollte sich dieses Schauspiel morgens am Hauptbahnhof mal ansehen. Wenn einer dieser Pendlerzüge seine Türen öffnet, dann ist für ein paar Minuten für alle anderen Menschen Stillstand angesagt. Die Bewegung geht nur in eine Richtung. Und wer schlau ist, versucht ihr möglichst aus dem Weg zu gehen. Um nicht mitgerissen zu werden.
Oder um nicht den Hass der ankommenden Pendler auf sich zu ziehen. Denn das Schlimmste, was an einem solchen Morgen auf dem Hamburger Hauptbahnhof passieren kann, ist folgende Situation: Mein Zug steht abfahrbereit auf dem Bahnsteig, während ein solcher Pendlerzug gerade angekommen ist. Ich muss also die Treppe hinunter, wenn halb Schleswig-Holstein mir entgegenkommt. Und halb Schleswig-Holstein nimmt eben die volle Breite der Treppe ein. Ohne Rücksicht auf entgegenkommende Hamburger. Und wenn ich dann doch aus purer Zeitnot versuche, ganz rechts am Rand der Treppe eine kleine Spur für den Weg nach unten zu nutzen, dann ernte ich im besten Fall Kopfschütteln. Meistens sind es jedoch hasserfüllte Blicke und gelegentlich ebensolche Beschimpfungen.
Die Flucht von der Stadt aufs Land wird anhalten, prognostizieren Experten. Sie wird sich sogar verstärken. Pendeln könnte zu einem Massenphänomen werden, insbesondere in der Metropolregion Hamburg. Mietwohnungen in der Hansestadt sind knapp, Eigenheime für die allermeisten unerschwinglich teuer. Tendenz: Das Problem verschärft sich. Folge: Die Menschen, vor allem junge Familien, suchen ihr Glück im Hamburger Umland. Allerorten sprießen Neubaugebiete aus dem Boden. Nicht überall kommen die Kommunen mit den daraus resultierenden Problemen und Erfordernissen klar. Hier fehlen Kita-Plätze, dort haben die Schulen nicht genug Platz – und alteingesessene Bewohner der gemütlichen Umlandgemeinden fürchten um die soziale Struktur und sind besorgt wegen des Grünflächenverbrauchs durch ungebremstes Wachstum.
Im Zug heimisch
Wenn ich dann meinen Platz im Zug erreiche, fühlt es sich ein bisschen wie Nach-Hause-Kommen an. Hier liegen ein paar Krümel auf den blauen Polstersitzen, dort ragt eine Bananenschale aus dem Klapp-Mülleimer. Der Duft frischen Kaffees zieht durch die Plastikdeckel auf den Pappbechern durch die Waggons, Brötchentüten rascheln, Abfallbehälter klappern. Der Pendlerweg hat auch viel mit Einweg zu tun.
Als Bahnpendler erlebe ich täglich das Murmeltier grüßen. Immer sitzen in meinem Zug dieselben Menschen. Fast jeden Tag zumindest. Die Gesichter kommen mir mittlerweile so vertraut vor, als gehörten sie zu langjährigen Freunden oder Kollegen. Dabei bleiben diese Menschen doch Fremde. Ich weiß praktisch nichts über sie, habe mir aber häufig schon über sie Gedanken gemacht. Wo und was arbeitet die wohl? In welcher Hierarchie steht der über seinen mit ihm pendelnden Kollegen? (Ich bin mir sicher, dass es Kollegen sind. Und ich bin mir sicher, dass er über ihnen steht. Aber stimmt es auch?)
Pendeln ist eine tägliche Sozialstudie am lebenden Versuchsobjekt. Wer nicht pendelt, verpasst zum Beispiel die Modesünden einiger Mitreisender, die uns gelegentlich auf dem Laufsteg zwischen den blauen Sitzen präsentiert werden. Ihm entgehen eventuell die Trends, welche Spiele gerade auf dem Smartphone angesagt sind. Er verpasst die Telefonate, in denen mancher Pendler gänzlich ungeniert und indiskret über seine Arbeit spricht.
Und er hat nicht die Möglichkeit, nach einer langen Arbeitswoche auf der Heimfahrt ein Feierabendbier zu trinken. Denn das ist in den Regionalzügen – im Unterschied zur S-Bahn – erlaubt. Wer nicht pendelt, bekommt zumindest diesen Teil des wirklich wahren Lebens nicht mit.Pendeln regt die Fantasie an und weckt detektivischen Instinkt. Letzteres ist für einen Journalisten ein durchaus sinnvolles Training, eine permanente Fortbildung sozusagen.
Was macht der Typ, der jeden Morgen rennt?
Täglich sehe ich die Gruppe von um die 30-Jährigen, die auf dem Fußweg vom Bahnhof in einem der Geschäftshäuser in der Ahrensburger Innenstadt verschwindet. Ein Blick auf die Schilder an der Fassade führt mich zu dem Schluss: Die müssen für dieses IT-Unternehmen arbeiten, so wie die aussehen. Auch wenn der eine Bärtige mit seinem riesigen Trekking-Rucksack, den weiten Schlaghosen und den schweren Schuhen nicht so recht in das Klischee des Computer-Nerds passen mag. Aber wer weiß?
Täglich sehe (und rieche) ich die durchaus elegante, aber etwas zu intensiv parfümierte Frau, an der einiges lang ist: die schwarzen Haare, die Beine, die Absätze und die Duftwolke, die sie hinter sich herzieht. Eine psychotherapeutische Praxis ganz in der Nähe des Bahnhofs? Passt. Genauso wie die Tatsache, dass ich diese Dame gelegentlich abends nach einem langen Tag auf dem Rückweg wieder treffe. Das harte Los der Selbstständigkeit? Bestimmt.
Und dann ist da noch dieser Mittvierziger, der nicht in meinem Zug sitzt. Der mir aber fast jeden Morgen auf dem Ahrensburger Bahnhof mit einem Buch in der Hand – und zwar NUR mit einem Buch in der Hand – entgegengerannt kommt, damit er den Zug für die Weiterfahrt nach Bad Oldesloe, Reinfeld oder Lübeck noch erreicht. Warum muss der jeden Morgen rennen? Die Frage ist noch ungeklärt. Sie kann aber gut mit dem Perfektionismus eines Profi-Pendlers zusammenhängen. Der verschenkt nämlich nicht gern Zeit. Er arbeitet akkurat und punktgenau, am besten auf die Sekunde. Wer mehr als zwei Minuten auf einen Zug warten muss, hat etwas falsch gemacht. Wer länger als 25 Minuten auf den Regionalzug warten muss, hat richtig viel falsch gemacht – und einen verpasst. Oder er hat Pech gehabt, und seine Bahn fällt aus.
Auch Pendler haben ihre kleinen Macken
Bei aller Professionalität haben aber auch Pendler ihre kleinen Macken. Aus den Fernzügen der Deutschen Bahn kennen wir das Phänomen, dass bereits 20 Minuten vor dem planmäßigen Erreichen des nächsten Bahnhofs die aussteigewilligen Fahrgäste unruhig werden, ihre Habseligkeiten mit zunehmender Hektik in die Taschen stopfen, wenig später auf den Gang drängen, ihren schweren Koffer aus dem Gepäckfach gefährlich knapp an den Köpfen der weiterfahrenden Passagiere vorbei auf den Boden wuchten, um dann noch mindestens 15 Minuten in unbequemer Haltung zwischen den Sitzreihen zu stehen – bis endlich die Durchsage kommt, dass in „wenigen Minuten“ der nächste Bahnhof erreicht werde. Es vergehen eben diese weiteren nicht ganz so wenigen Minuten, bis sie dann endlich auf den Bahnsteig gelassen werden.
Pünktlich kann schon zu spät sein
Der Pendler ist da anders. Er bleibt entspannt sitzen, bis der Zug seine endgültige Parkposition im Zielbahnhof erreicht hat. Dann beendet er sein Telefonat, klappt seinen Laptop zu und hängt sich die Tasche um. Was er dabei nicht bedacht hat: In dieser Zeit haben bereits die ersten einsteigenden Pendler die Hoheit über den Türbereich erobert, die alte Bahnregel „erst aussteigen lassen“ geflissentlich ignorierend. Und so kommt es an dieser Stelle, wo Türen und Treppen, wo Abfahrt und Ankunft aufeinandertreffen, nicht selten zu Konfliktsituationen, die wir morgens von der Treppe am Hauptbahnhof kennen.
Die Arbeitsagentur definiert Pendler relativ nüchtern, aber in der Klarheit überzeugend, wie folgt: Pendler sind alle sozialversicherungspflichtig Beschäftigten, deren Arbeitsort sich vom Wohnort unterscheidet. Den Namen Pendler haben die Pendler vom Pendel – jenem Körper also, der im physikalischen Sinne an einem Punkt außerhalb seines Massenmittelpunktes drehbar gelagert ist und um seine eigene Ruheposition schwingen kann. Zentrales Merkmal ist dabei die Gleichmäßigkeit, mit der das Pendel hin- und herschwingt. Dass es im Berufsverkehr immer so gleichmäßig läuft, kann man indes nicht behaupten.
Verspätungen gehören dazu
Pendler können tatsächlich auch unter dem Phänomen der zu früh abfahrenden S-Bahn leiden. Denn wer seine allmorgendliche Ankunft am Bahnhof so punktgenau getaktet hat, der hat natürlich keine Chance, wenn die für 8.07 Uhr terminierte S 11 mal wieder schon um 8.06 Uhr ihre Rücklichter zeigt. Dann heißt es wieder warten. Und zwar nicht ein paar Minuten wie auf eine verspätete S-Bahn, sondern elf Minuten auf die nächste planmäßige Bahn. Und diese elf Minuten wachsen sich dann, mit dem dazugehörigen Kollateralschaden des verpassten Anschlusszuges, auf eine Verspätung von mehr als einer halben Stunde aus.
Verspätungen gehören zum Leben eines Pendlers. Häufiger, als ihm lieb ist. Aber weit weniger häufig, als am Stammtisch gern geschimpft wird. Natürlich gibt es sie immer wieder. Die „Türstörungen“, um mal klein anzufangen. Die „Verspätungen aus vorangegangener Fahrt“. Die „Weichenstörungen“, die „Vandalismus-Schäden“. Ich kenne die Situation sehr gut, wenn ein überraschender (?) Kälteeinbruch im Januar (!) mal wieder die Weichen lahmlegt. Wenn „betriebsfremde Personen“ auf den Gleisen für Streckensperrungen sorgen. Und ganz besonders gern genommen sind die „Signalstörungen“ und die „Bahnübergangsstörungen“.
„Signalstörungen“ sind ein Dauerbrenner
Letztere sind so etwas wie ein Dauerbrenner auf der Strecke zwischen Hamburg-Hauptbahnhof und Ahrensburg. Die Strecke führt durch dicht besiedelte Stadtteile wie Rahlstedt, es gibt zahlreiche Straßenquerungen mit Schrankenanlagen. Die Technik ist an vielen Stellen in die Jahre gekommen und fällt gern mal aus. Dann müssen die Züge an den entsprechenden Stellen „auf Sicht“ fahren. Das führt natürlich zu Verspätungen, die sich im dicht getakteten Fahrplan kaum wieder aufholen lassen und sich häufig über mehrere Stunden auswirken.
Auf der Strecke zwischen Hamburg und Lübeck über Ahrensburg, Bargteheide, Bad Oldesloe und Reinfeld fahren die Linien R 8 (Hamburg–Lübeck), RE 80 (Hamburg–Ahrensburg–Lübeck) und RB 81 (Hamburg–Bad Oldesloe). Die Strecke ist eine der meistfrequentierten im Norden. Neben ihrer Bedeutung für Pendler ist sie auch für Touristen in Richtung Ostsee attraktiv und in umgekehrte Richtung für Reisende, die zum Hamburger Flughafen wollen. Die Strecke wurde 2008 vollständig elektrifiziert. Aufgrund der hohen Auslastung der Strecke und der daraus folgenden Auswirkungen auf den Hamburger Hauptbahnhof wird seit Jahren über den Bau einer neuen S-Bahn-Linie 4 diskutiert. Derzeit läuft das Planfeststellungsverfahren. Die ersten Züge auf Hamburger Stadtgebiet könnten auf neuen Gleisen zwischen Hasselbrook und Rahlstedt bereits 2024 fahren. Die komplette Strecke soll nach derzeitigem Stand der Planungen 2027 fertig werden.
Es gibt natürlich auch die Extremsituationen, wie neulich, als Orkantief „Xavier“ den Bahnverkehr in ganz Norddeutschland über Tage lahmlegte. Der Sturm fegte am Mittag über den Norden hinweg. Ungefähr sechs Stunden später, um kurz nach 20 Uhr, verließ ich die Redaktion in Ahrensburg und machte mich auf den Weg zum Bahnhof. Dabei hatte ich drei kleine Hoffnungsschimmer. Erstens: dass der Zugverkehr mittlerweile wieder läuft. Zweitens: dass es mittlerweile einen Ersatzverkehr gibt. Und drittens: dass irgendjemand darüber informiert, ob und wo es einen Ersatzverkehr gibt, oder sonstige Alternativen aufzeigt. Alle drei Hoffnungen wurden ziemlich schnell zerstört.
Und so brauchte ich am Ende mehr als vier Stunden, bis ich um kurz nach Mitternacht wieder zu Hause ankam. Den letzten Teil meiner Odyssee musste ich obendrein – auf meine Kosten – mit einem Carsharing-Auto zurücklegen.
Unterschied von Stadtpendlern und Umlandpendlern
An diesem Abend hat sich gezeigt, wo das größte Problem der Bahn liegt. Dass ein heftiger Sturm wie „Xavier“ das Schienennetz unterbricht, kann man nachvollziehen. Sehr schwierig mit dem Nachvollziehen wird es aber, wenn auch nach sechs Stunden die Anzeigetafel am Ahrensburger Bahnhof einen Zug ankündigt, der in der DB-Navigator-App schon längst als „Fällt aus“ gekennzeichnet ist. Oder umgekehrt: wenn ein Schienenersatzverkehr nach sechs Stunden nicht zu sehen ist.
Wenn nach sechs Stunden keiner weiß, ob es überhaupt einen Schienenersatzverkehr geben wird. Wenn dann nach acht Stunden ein Bus die gestrandeten Fahrgäste vom Regionalbahnhof Ahrensburg zum U-Bahnhof Ahrensburg-West bringt, aber dort die Strecke ebenfalls gesperrt ist – und der Schienenersatzbusfahrer dies nicht weiß. Dieser 5. Oktober 2017 wird wohl nicht unbedingt als Sternstunde des öffentlichen Nahverkehrs in die Geschichte eingehen.
Jede Verspätung, jeder Zugausfall tut weh
Doch entgegen der landläufigen Meinung ist das Bahnfahren weit weniger schlimm, als das allgemeine Wehklagen es vermuten lässt. Das ist zumindest meine Erfahrung aus einem Leben mit der S-Bahn. Jede Verspätung, jeder Zugausfall tut weh. Aber wie viele sind es wirklich im Verhältnis zu den funktionierenden Verbindungen? Die Zahl wird verhältnismäßig immer kleiner, je länger der Zeitraum ist, in dem ich Pendler bin.
Die Erfahrung zeigt aber auch, dass Verspätungen und Zugausfälle häufig Ursachen haben, die man nun wirklich nicht der Bahn ankreiden kann. Unfälle, Unwetter, Unbefugte im Gleisbereich – all das lässt sich nicht immer verhindern. Und so sind die Bahnkunden in der Regel auch nicht über das Problem an sich erbost, sondern über den Umgang damit. In Sachen Kundenkommunikation, in Bezug auf schnelle und hilfreiche Informationen für die von Störungen betroffenen Passagiere, hat die Bahn immer noch reichlich Luft nach oben.
Auto ist keine Option
Dieser Umstand führt auch bei Pendlern immer wieder zu Unmut, der sich zwar routiniert, aber auch sehr deutlich in Kopfschütteln, leisen Schimpftiraden oder in Es-wird-heute-wieder-mal-später-Telefonaten entlädt. Aber auch damit umzugehen haben Pendler gelernt. Sie haben ja auch keine Wahl. Denn was wäre die Alternative zur Bahn? Das Auto? Für mich definitiv nicht. Zu unberechenbar ist die Zeit, die ich für den Weg durch die Innenstadt oder über das Autobahndreieck Nordwest brauche. Zu viele Unwägbarkeiten vor einem Tag, der mit Konferenzen und Andruckzeiten einem strengen Ablaufplan unterworfen ist.
Die Zeit in der Bahn kann ich dagegen produktiv nutzen. Zum Beispiel zum Schreiben dieser Geschichte, die ausschließlich in der Bahn auf meinem iPad, das vor mir auf meiner Tasche liegt, entstanden ist. Ich kann mich morgens der ohnehin anstehenden Lektüre von Zeitungen, Nachrichtenagenturen und Onlinemedien widmen. Ich kann abends die elektronische Post erledigen, die im Laufe des Tages liegen geblieben ist. Die Bahn ist morgens und abends für mich nichts anderes als ein mobiler Arbeitsplatz.
Manchmal ziemlich schlechte Laune
Das ist womöglich einer der zentralen Unterschiede zwischen Pendlern und den Menschen, die einfach nur Bus und Bahn nutzen. Es gibt ja diejenigen, die innerhalb einer Stadt zur Arbeit fahren – nennen wir sie Stadtfahrer –, und diejenigen, die ins oder aus dem Umland pendeln – nennen wir sie Umlandpendler. Wenn der Stadtfahrer aus einem einigermaßen gut infrastrukturierten Stadtteil seine Bahn verpasst, dann nimmt er eben die nächste und ist vielleicht zehn Minuten später im Büro.
Wenn ein Umlandpendler wie ich seine Bahn verpasst, dann steht er eine halbe Stunde auf dem kalten Hamburger Hauptbahnhof. Dann gerät der gewohnte Tagesablauf schon ziemlich aus den Fugen. Ich versäume in einem solchen Fall womöglich die erste Redaktionskonferenz oder habe nicht mehr genug Zeit, sie gut vorzubereiten. Und ich habe ziemlich schlechte Laune, wenn der Tag so beginnt. Wenn ich zumindest gefühlt den ganzen Tag diesem Zeitverlust hinterherrennen muss. Und ich muss mir sehr viel Mühe geben, diese meine schlechte Laune schnell wieder loszuwerden.
Warum gilt im Raucherbereich Rauchverbot?
Wenn man so will, hat der Weg zur Arbeit, hat die Bahn, hat der Mann mit dem Vornamen Bahnchef, einen unmittelbaren Einfluss auf mich, auf meine Kollegen, auf meine Arbeit. Der Pendlerweg entscheidet darüber, ob der Tag schlecht beginnt und nur noch besser werden kann. Der Pendlerweg nimmt eine ziemlich bedeutende Rolle in meinem Leben ein.
Ich habe noch nie ausgerechnet, wie viele Stunden das eigentlich waren in meinem bisherigen Pendlerleben. Soll ich mal? Also: Gehen wir der Einfachheit halber mal von sechs Jahren aus. 6 mal 52 mal 5 minus Urlaub minus Feiertage plus Wochenendtermine: Wenn auf diese Weise 220 Arbeitstage pro Jahr zusammenkommen, dann macht das 1320 Tage mal 2,5 Stunden. Das sind: 3300 Stunden. Das geht ja eigentlich noch. Ich hätte irgendwie mit mehr gerechnet. Ach ja: Die Verspätungen kommen ja noch dazu, die Zugausfälle, die ...
Ich habe auch viel gelernt
Trotz allem: Ich komme gut klar mit der Bahn. Ich habe gelernt, damit zu leben, dass die Computeransage am Bahnsteig „Bad Oldesloe“ immer als „Bad Oldeslohe“ ausspricht. Und ich rege mich mittlerweile nicht mehr darüber auf, dass auf dem Bahnsteig ausgerechnet dort, wo der Raucherbereich liegt – und nur dort –, ein „Rauchen verboten“-Piktogramm prangt. Ich habe auch viel gelernt in meinem Leben als Pendler. Zum Beispiel, dass eine defekte Schranke an einem Bahnübergang nicht mal eben repariert werden kann, sondern dass dafür neben einem aufwendig zu beschaffenden Ersatzteil auch ein langwieriges Genehmigungs- und Ausschreibungsverfahren unter Beteiligung des Eisenbahnbundesamts nötig sein kann.
So erklärt es sich, dass an einem solchen Bahnübergang in Rümpel bei Bad Oldesloe mehr als ein Jahr lang Menschen die Schranke ersetzen mussten, und zwar mit einer Absperrgirlande („Es heißt nicht Flatterband!“). Wieder etwas gelernt. Es soll ja Menschen geben, denen das Bahnfahren zuwider ist und die insbesondere auf dem Weg zur Arbeit nicht auf ihre Intimsphäre im Auto verzichten wollen. Ich bin mit der Bahn aufgewachsen. Schon als Fünfjähriger bin ich, auf Geheiß meiner Eltern, allein mit meinem zwei Jahre älteren Nachbarsjungen mit der S-Bahn zum Knabenchor St. Michaelis von Klein Flottbek zur Stadthausbrücke gefahren.
Ein unschlagbarer Vorteil
Seitdem habe ich eigentlich immer – zumindest in Hamburg – in der Nähe einer S-Bahn-Station gewohnt. Und ich habe es genossen. Ich habe es genossen, nicht auf den Bus angewiesen zu sein. Busse sind für einen professionellen S-Bahn-Pendler ein Grauen. Sie kommen zu spät, sie kommen gar nicht. Oder es kommen gleich drei auf einmal. Daran wird auch das viel zitierte „Busbeschleunigungsprogramm“ des Senats nichts ändern.
Denn hier hat die Schiene einen unschlagbaren Vorteil gegenüber der Straße: Der Verkehr ist besser berechenbar und damit zuverlässiger – wenn alles gut geht. Die Bahn und ich – wir beide führen ein bisschen so eine Beziehung, wie man sie älteren Ehepaaren gern nachsagt. Wir haben uns aneinander gewöhnt, kommen ganz gut miteinander aus. Ich kann und will irgendwie nicht ohne sie, hüpfe aber nicht jeden Morgen wie ein frisch Verliebter auf ihren Bahnsteig. Manchmal rastet sie aus (siehe „Xavier“), und ich fluche über sie, drohe innerlich mit Trennung. Aber am nächsten Tag kehre ich dann wieder zu ihr zurück. Geht ja nicht anders.
Unsere echte Bewährungsprobe steht indes noch aus: Es läuft das verflixte siebte Pendeljahr.