Hamburg. „Wohnungsbau ist hier Mumpitz“: Kritik von Mieterverein und Anwohnern an Plänen zum Bau von 100.000 Wohnungen an Ausfallstraßen.

Der Widerstand gegen die rot-grünen Pläne zu massivem Wohnungsbau an den großen Ausfallstraßen wächst. Nicht nur der einflussreiche Mieterverein zu Hamburg, auch Stadtteilbeiräte betroffener Gebiete lehnen das Vorhaben ab, in den kommenden Jahren bis zu 100.000 Wohnungen an den großen Hauptstraßen (Magistralen) zu bauen.

Erst am vergangenen Mittwoch hatte die Bürgerschaft einen Antrag dazu beschlossen. Auch CDU, Linke und Naturschützer begrüßten die Idee, fünf- bis sechs­stöckige Wohnhäuser an sechsspurigen Straßen zu bauen, wo heute etwa Discounter mit riesigen Parkplätzen oder niedrigere Häuser stehen. Lärm- und Luftbelastung würden durch die Verkehrswende geringer, zudem würden die Wohnungen mit Lärmschutz und Belüftungsanlagen ausgestattet.

Massiver Wohnungsbau an Ausfallstraßen ist Mumpitz. Die Belastung durch den Verkehr ist den Menschen nicht zumutbar
Siegmund Chychla,
Mieterverein zu Hamburg
Massiver Wohnungsbau an Ausfallstraßen ist Mumpitz. Die Belastung durch den Verkehr ist den Menschen nicht zumutbar Siegmund Chychla, Mieterverein zu Hamburg © Michael Rauhe | Michael Rauhe

„Das Konzept ist totaler Mumpitz“, sagte dagegen Siegmund Chychla, Geschäftsführer des Mietervereins zu Hamburg, dem Abendblatt. „Die starke Belastung durch Lärm und Abgase an den Magistralen ist niemandem zuzumuten.“ Das Konzept sei nichts anderes als ein „Placebo“, das Rot-Grün aus „Angst vor der Volksinitiative des Nabu“ jetzt zur Beruhigung verteile, so Chychla.

Der Naturschutzbund Nabu hatte angekündigt, eine Volksinitiative zu starten, die den Anteil des Grüns an Hamburgs Fläche festschreiben und Naturflächen so vor Bebauung schützen soll. Ziel ist ein Volksentscheid parallel zur Bürgerschaftswahl 2020 oder zur Bundestagswahl 2021.

Bürohäuser mit Kleingewerbe als Lärmriegel errichten

Mietervereinschef Chychla plädiert dafür, an den Magistralen lieber Bürohäuser mit Kleingewerbe im Erdgeschoss als Lärmriegel zu bauen. Dadurch werde es möglich, in der zweiten Reihe Wohnungen zu bauen. Deren Bau direkt an den Ausfallstraßen sei dagegen unsinnig – ebenso wie der Hinweis auf eine Verkehrswende. Denn es sei doch bekannt, dass ein großer Teil des Lärms gar nicht auf Motoren, sondern auf die Rollgeräusche zurückgehe. Die aber würden ja auch bei E-Autos nicht verschwinden.

Scharfe Kritik übte Chychla an den Grünen und den Äußerungen ihres Umweltsenators Jens Kerstan, Hamburg müsse nicht weiterwachsen. Einerseits sähen die Grünen jeden Zuwanderer als Geschenk für Deutschland, so Chychla. Andererseits wollten sie nun offenbar eine Obergrenze für den Zuzug nach Hamburg.

„Die Hamburger Stadtmauer wurde 1866 abgeschafft. Wenn wir jetzt aufhören sollen, Wohnungen zu bauen, werden die Miet- und Kaufpreise explodieren. Das wirkt dann wie eine neue virtuelle Stadtmauer. Dann wird Hamburg irgendwann nur noch die Stadt der Schönen und Reichen sein.“ Chychla plädierte dafür, statt des Baus an Magis­tralen weiter auf Nachverdichtung von Stadtteilen und Aufstockung niedriger Wohnhäusern zu setzen. „Nicht die Bevölkerungsdichte ist für das Wohlbefinden entscheidend, sondern die Qualität der Viertel.“ Das zeige sich daran, dass dicht bewohnte Gebiete wie die Schanze oft besonders beliebt seien.

Laut, dreckig und ungesund

Widerstand gegen das Magistralenkonzept kommt auch von Menschen, die schon jetzt unter der Lärm- und Luftbelastung an Ausfallstraßen leiden. So hat sich etwa der Stadtteilbeirat Barmbek-Süd gegen das Konzept ausgesprochen. „Die sogenannten Magis­tralen sind in Hamburg längst keine Orte mehr zum Leben. Sie sind laut, dreckig, ungesund für die Anwohner, riskant auch für Radfahrer und Fußgänger“, sagt Beiratsmitglied und Medizinjournalist Klaus-Peter Görlitzer.

Der von der Bürgerschaft jetzt beschlossene Antrag sei „fachlich einseitig und geeignet, Probleme perspektivisch zu verschärfen“, so Görlitzer. „Baulückenschließungen, Aufstockungen, Ausbauten – alles wird angestrebt, ohne dass gleichzeitig verbindlich festgelegt werden soll, den motorisierten Verkehr und den von ihm beanspruchten Platz zu verringern.“

Görlitzer und seine Mitstreiter im Stadtteilbeirat wissen, wovon sie sprechen. Denn bei ihnen vor der Tür verläuft die etwa vier Kilometer lange „Magistrale Nord“, die vom Mundsburger Damm über Oberaltenallee, Hamburger Straße und Barmbeker Markt bis zur Bramfelder Straße führt. „Auf manchen Abschnitten rollen hier täglich mehr als 60.000 Kraftfahrzeuge“, so Görlitzer. Aber schon jetzt lasse das Bezirksamt Nord die Magistrale extern begutachten, um festzustellen, wo hier Platz für neue Wohnhäuser sein könnte. Der Bezirk habe einen Politik- und Unternehmensberater beauftragt, „Gespräche auch mit potenziell kritischen Bürgern zu suchen“.

Tempolimits, Dieselfahrverbot

Bei einem Treffen habe der Stadtteilbeirat klargemacht, dass die Planer erst einmal alles dafür tun müssten, „dass endlich die geltenden Luft- und Lärmgrenzwerte eingehalten werden“. Dies müsse das Hauptziel sein. „Der KfZ-Verkehr ist spürbar zu verringern, bis endlich die geltenden Regeln eingehalten werden“, so Görlitzer – etwa durch Tempolimits, Verengung von Fahrspuren oder Dieselfahrverboten.“ Der Beirat hat zu dem Thema auch ein kritisches Positionspapier beschlossen.

Bereits im Februar hat das Bezirksamt Nord das Büro „ppp architekten + Stadtplaner“ mit einem Gutachten zur Prüfung des Wohnungsbaupotenzials an der Ausfallstraße beauftragt – für ein Honorar von rund 138.000 Euro. Im September präsentierten die Gutachter ihren ersten Zwischenbericht im Stadtentwicklungsausschuss. Darin werden auch Ergebnisse einer Befragung von Anwohnern der Magistrale präsentiert. Auf die Frage, was sie sich von der Umgestaltung erwarten, antworteten die meisten Befragten: weniger Lärm- und Luftbelastung.