Hamburg. Die Hamburger Ahnenforscherin Andrea Bentschneider steigt tief ein in die Geschichte von Familien – auch von Prominenten.
Sie blickt in das Innere von Familien, sie wühlt in der Vergangenheit, und sie wird vorübergehend ein Teil dieser Familien und Geschichten – wenn es gut läuft und sie viel von den Lebensumständen einer Generation erfährt. Als Ahnenforscherin taucht Andrea Bentschneider ein in die Welt der Vorfahren. Prominente wie Armin Rohdebeauftragen die Vorsitzende des Verbands deutschsprachiger Berufsgenealogen auf der Suche nach den eigenen Wurzeln genau wie Unternehmen, Hamburger und Menschen auf der ganzen Welt. Die Branche boomt – laut einer Allensbach-Untersuchung wünscht sich jeder Zweite, mehr über seine Ahnen zu erfahren.
„Ich bin adoptiert worden, wo komme ich her?“, „Was hat mein Vater, mein Großvater im Dritten Reich gemacht?“ – das sind typische Aufträge ihrer Kunden. Und dann fangen Andrea Bentschneider und ihre fünf Mitarbeiter an zu graben. Was in den 1990er-Jahren als Hobby begann, ist in den vergangenen 13 Jahren zu einem kleinen Unternehmen angewachsen. „Beyond History“ heißt ihre Agentur für Ahnenforschung in Eimsbüttel.
Bentschneider und ihr Team besorgen sich Daten wie Namen, Geburtsorte, Geburt-, Heirats- und Sterbeurkunden. Dazu telefonieren sie mit Standesämtern und Stadt- und Kreisarchiven und gehen ins Hamburger Staatsarchiv, recherchieren im Handelsregister, durchforsten Militärunterlagen, sie kontaktieren Archivare und Historiker auf der ganzen Welt, um Stück für Stück an Informationen zu kommen.
Alles von hier aus, ihren unspektakulären Büroräumen in Eimsbüttel. Bücher wie „Unser Jahrhundert im Bild“, hat sie dort im Regal stehen, „Familienchronik“ oder „200 Jahre Geschichte und Kultur der Juden am Rhein.“ Ahnenforschung ist immer auch ein Eintauchen in die Geschichte der jeweiligen Zeit.
Es ist der Versuch, zu erklären, wer man ist
„Ich erfülle Lebensträume“, sagt Frau Bentschneider. Denn die Suche nach den eigenen Wurzeln ist für viele etwas Elementares oder wie es Professor Christoph Wulf, Anthropologe an der Freien Universität Berlin formuliert: „Es ist ein Versuch, mit Sterblichkeit umzugehen. „Es schenkt neue Kraft fürs Leben, wenn man sieht, dass man in eine große Linie hineingeboren ist und mit dem Tod nicht ausgelöscht wird.“ Er sieht die Familienforschung als „eine Gegenbewegung zu unserer von exzessivem Individualismus geprägten Gesellschaft, in der letzte Antworten schwierig geworden sind“.
Das Wissen um die Herkunft der eigenen Familie vermittelt ein Gefühl von Halt, Sicherheit und Beständigkeit, sagt auch Professor Ulrich Reinhardt von der Stiftung für Zukunftsfragen. „So lassen sich mitunter bestimmte eigene Charaktereigenschaften und familiäre Eigenarten erklären.“ Dabei solle jedoch nicht alles auf die familiäre Herkunft geschoben werden. Reinhardt: „Die individuelle Persönlichkeit, die erfahrene Bildung oder das Umfeld können einen Menschen deutlich mehr prägen als Opas oder Omas Gene.“
Leere Flächen mütterlicherseits
Zum Beispiel Gert Prantner, einer der bekanntesten Hoteldirektoren Deutschlands, der 25 Jahre das Vier Jahreszeiten leitete und Chef von Andrea Bentschneider während ihrer Ausbildung zur Hotelfachfrau war. Für ihn hat sie einen Stammbaum angefertigt. Ausgangspunkt waren die Daten Prantners, der 1940 in Mailand geboren ist. In seiner Geburtsurkunde sind die Namen seiner Eltern. Die nächste Generation ist gefunden, und so geht die Suche Urkunde für Urkunde weiter.
Prantners Stammbaum geht fünf Generationen zurück – bis in die achte Generation kann Andrea Bentschneider die Familiengeschichten zurückverfolgen, je nachdem, welche Unterlagen noch aufzuspüren sind. Auffällig bei Gert Prantners Stammbaum – seine Familie stammt aus Südtirol – sind die leeren Flächen mütterlicherseits. „Das sind die unehelich Geborenen“, erklärt Andrea Bentschneider, und so bleiben viele Vorfahren auf der mütterlichen Linie weiterhin unbekannt, weil die entsprechenden Daten fehlen.
Spurensuche wie bei einem Kriminalfall
Große Hoffnung setzt Andrea Bentschneider in die DNA-Forschung. Gerade lässt sie sich fortbilden, um die Familienlinien weiterverfolgen zu können. „Gerade bei Adoptionen kann die DNA helfen, wenn man gar nicht weiß, wo die leiblichen Eltern sind.“ Unternehmen haben entsprechende Datenbanken, die immer weiter ausgebaut werden und automatisch Übereinstimmungen weltweit erkennen. „Ersetzen wird die DNA-Forschung die klassische Ahnenforschung aber nicht“, so Bentschneider. Sie hat selbst eine Genprobe per Wattestäbchen in einem Glasröhrchen verpackt und abgeschickt.
Auch in der digitalen Welt ist ein persönliches Netzwerk das Wichtigste. Die modernen Medien unterstützen die Arbeit und erleichtern sie, ersetzen aber nicht die Handarbeit. Ahnenforscher gehen beispielsweise Kirchenbücher durch, suchen nach Vollmachten. So ergibt ein Puzzleteil nach dem anderen ein im besten Fall vollständiges Bild der Familiengeschichte, die ja auch ein Stück Identität ist.
Als Armin Rohde und sein Vater weinten
Wie bei einem Kriminalfall muss die 48-Jährige dabei Spuren verfolgen. „Das ist Detektivarbeit. Man sucht lange und findet vielleicht nur eine Urkunde und hat noch immer Fragen. Bekommt man dann eine beantwortet, stellen sich wieder andere Fragen“, sagt sie. Und dass die Mutter einer sieben Jahre alten Tochter genau diese Recherche, das Hartnäckige und das Dranbleiben an ihrer Arbeit liebt, ist ihr anzumerken – mit so viel Hingabe spricht sie von ihrem Job, der eben eine Herzensangelegenheit sei. Auch Firmen wie Siemens kommen auf sie zu. „Der Firmengründer kam aus Hamburg, darüber wollte das Unternehmen mehr erfahren.“
Andere Beispiele: Armin Rohde. Der Vater des Schauspielers, Kurt Rohde, kam für die ARD-Sendung „Das Geheimnis meiner Familie“ auf sie zu, um mehr über seine Vorfahren in Polen zu erfahren. Konzept der Sendung war es, sich gemeinsam mit der Ahnenforscherin Stück für Stück an die Familiengeschichte heranzutasten. Sie fanden unter anderem den Ort in einem Waldstück südlich von Danzig, wo der Großvater Armin Rohdes im Krieg umgekommen war. „Obwohl Armin Rohde nicht weinen wollte, flossen bei allen Beteiligten an diesem Ort die Tränen“, erzählt Andrea Bentschneider. Das ist manchmal so, bei der Konfrontation mit der Vergangenheit.
Aufwühlende und emotionale Arbeit
Auch ihr gehen diese Schicksale nah – egal, ob ihre Auftraggeber in Nord- und Südamerika leben, in Dänemark und Hongkong oder in Australien. Es ist eine aufwühlende und emotionale Arbeit. Heute ist sie mit Kurt Rohde befreundet – die Reise in die Vergangenheit hat sie einander nah gebracht. Bewegend für sie war es auch, als sie beim Durchforsten von Kirchenbüchern las, dass alle Kinder einer Familie an den Masern gestorben sind oder wenn ein Neugeborenes und dessen Mutter im Wochenbett starben. Und dann sind da vor allem die Schicksale aus der Nazizeit. „Tief getroffen hat uns eine Recherche im Bundesarchiv in Berlin. Neben Originalakten, die Hitler in den Händen hatte, haben wir nach Dokumenten über eine Massenvernichtungsaktion von Juden gesucht.“
Und häufig stößt Andrea Bentschneider bei ihrer Recherche auf Überraschendes, das sie zum Schmunzeln bringt. Zum Beispiel Theodor Damm: Der Auftrag kam aus den USA und führte nach Dresden. Ein Amerikaner wollte wissen, woher er kommt. Andrea Bentschneider fand heraus, dass einer seiner Vorfahren ein nicht ehelicher Sohn einer Hebamme war. Diese Hebamme wiederum lebte in einer herrschaftlichen Villa bei Dresden.„Wie kann sich eine Hebamme das leisten?“, wollte Frau Bentschneider wissen und suchte nach weiteren Spuren. Ihr Spürsinn war gefragt. Die Spur führte nach Hamburg. Denn das siebte nicht eheliche Kind der Hebamme war von dem damaligen Direktor des St.-Pauli-Theaters Theodor Damm. Er leitete das Haus von 1848 bis 1863. Die beiden hatten sich in Hamburg kennengelernt, wo die Hebamme damals noch als Schauspielerin arbeitete.
Theaterdirektor hatte 20 nicht eheliche Kinder
Eine Geschichte wie für ein Drehbuch gemacht: Dieser Theodor Damm war verheiratet, trat in der Öffentlichkeit aber als Moralapostel auf. „Ein illustrer Lebensweg“, sagt Frau Bentschneider und lacht. Sie hat herausgefunden, dass Damm bekannt ist für sein strenges Regiment. „Alle angestellten ledigen Frauenzimmer und Witwen, welche schwanger werden, haben zu gewärtigen, dass sie an demselben Tage, wo ein solcher Zustand von ihnen zur Kenntnis der Direktion gelangt, ohne weitere Entschädigung sofort entlassen werden“, ist in alten Schriften zu lesen.
Ausgerechnet Theodor Damm, der immerhin 20 nicht eheliche Kinder hatte. „Die Ehefrau muss zumindest von der Hebamme gewusst haben, denn sie stand im Testament und erbte diese Villa in Dresden.“ Das Geheimnis der wohlhabenden Hebamme war gelöst. Solche alten Schriften sind für die Ahnenforscherin ein Schatz, weil sie mehr über die Lebensumstände erfahren kann.
Durch Zufall zur Ahnenforscherei
Die Hotelfachfrau und Fremdsprachenkorrespondentin kam durch Zufall zur Ahnenforscherei. In den zehn Jahren, die sie in einem Hotel in New York gearbeitet hat, bekam sie eine E-Mail von Steven Bentschneider aus den USA, der wissen wollte, ob sie miteinander verwandt waren. Aus dem Hobby wurde einige Jahre nach ihrer Rückkehr ihr Beruf. Und ja, Andrea und Steven Bentschneider aus Michigan sind verwandt. Was sie noch herausfand: Sie stammt aus einer Tagelöhnerdynastie in Mecklenburg-Vorpommern, glaubt aber, dass sie – vielleicht unehelich – eher dem Grafengeschlecht entstammt. Das Gespür einer Ahnenforscherin? Oder nur Wunschdenken ...?