Hamburg. Abendblatt-Leser Josef Singldingerkam während „Xavier“ nicht zurück nach Glückstadt. Über eine Odyssee zwischen den Bahnhöfen.

Sturmtief „Xavier“ hat deutliche Spuren hinterlassen, allein die Infrastruktur der Bahn wurde auf rund 1000 Kilometern beschädigt. Auch am Montag fuhren noch nicht alle Züge im Norden nach Plan, die von Berlin nach Hamburg werden noch bis zum 16. Oktober umgeleitet, in der Gegenrichtung läuft es schon wieder normal. Und auch die Menschen, die am vergangenen Donnerstag von den Auswirkungen des Sturms betroffen waren, denken noch an den Ausnahmezustand. So wie Abendblatt-Leser Josef Singldinger, der erst nach einer 21-stündigen Odyssee von Hamburg zurück nach Glückstadt kam. Hier berichtet er von seinen Erlebnissen:

Alles scheint normal am frühen Morgen des 5. Oktober, einem Donnerstag – auch wenn der Wind heftig weht und es ohne Unterlass gießt. Die Züge von Glückstadt aus nach Hamburg verkehren – noch – pünktlich. Als ich gegen Mittag in Hamburg unterwegs bin, stürmt es heftiger. Doch mit der Entwicklung des Wetters, durch die der gesamte Zugverkehr im Norden lahmgelegt wird, hatte ich nicht gerechnet. Nach meinen Erledigungen in der Stadt bringt der Bus mich zügig und wohlbehalten von Eppendorf nach Altona.

Alle müssen den Zug verlassen

Dann ist, ziemlich schnell, nichts mehr normal. Ich will meine Heimreise nach Glückstadt fahrplanmäßig gegen 15 Uhr starten. Als ich im Bahnhof Altona ankomme, stehen ungewöhnlich viele Leute in der Bahnhofsvorhalle. Aus dem, was auf der Anzeigetafel steht, kann keiner klug werden. Nur eine Mitteilung, dass ein Zug nach Wrist, Abfahrt 14.55 Uhr, bereitsteht. Der sonst vorhandene vordere Zugteil nach Itzehoe fehlt. Macht nichts, denke ich. Auf dem Weg nach Glückstadt käme ich auf einer ersten Etappe wenigstens bis Elmshorn. Im Zug gibt es keine Sitzplätze mehr. Der Zug fährt nicht, nicht nach einer Viertelstunde, nicht nach einer halbe Stunde. Nach etwa einer Stunde kommt die Durchsage: Alle Fahrgäste werden gebeten, den Zug zu verlassen.

In der Bahnhofsvorhalle herrscht das gleiche Chaos wie vor einer Stunde. Auf der Anzeigetafel steht klar und lapidar: Der Zugverkehr im Norden ist eingestellt. Was tun? Vor dem Informationsstand der Bahn wartet eine schier unendlich lange Schlange von Leuten, die auch mehr wissen wollen. Ich erwische einen Fahrdienstleiter, der mir sagt, eventuell wäre die Stecke nach Glückstadt gegen 17 Uhr wieder frei. Eine gute Nachricht. Ich halte mich eine Stunde lang in den Straßen und Geschäften Altonas auf. Zurück im Bahnhof wird mir mitgeteilt, dass man überhaupt nichts wüsste und alles stillsteht.

Die Unruhe wächst

Ich erinnere mich, dass die Nordbahn-Züge ab 18 Uhr vom Hauptbahnhof aus starten. Also starte ich ins Zen­trum der Stadt, per S-Bahn. Im Hauptbahnhof warten ebenso viele Menschen auf mögliche Anschlüsse, vollbepackt mit kleinen und großen Koffern. Kein Zug kommt an, kein Zug fährt ab. Also auch kein 18-Uhr-Zug Richtung Glückstadt. Ein Fahrdienstleiter sagt mir, dass man immer noch überhaupt nicht wisse, wie es weitergeht. Wenn ich nach Glückstadt wolle, dann mit Sicherheit nur von Altona aus.

Wieder am S-Bahnsteig im Hauptbahnhof angelangt, kommt die Anzeige, dass der nächste Zug bis Pinneberg fährt. Nicht nur ich, auch andere Leidensgenossen schöpfen Hoffnung. In Pinneberg, so überlege ich, halten alle Züge in Richtung Glückstadt. Kein Zug kann mir entgehen. Auf der Fahrt dann die Mitteilung: In Altona alle aussteigen. Der Zug endet hier. Allmählich wächst die innere Unruhe. In der Bahnhofsvorhalle warten weniger Menschen. Das geduldige Bahnpersonal gibt freundlich Auskunft. Zwei Züge, ein ICE und ein IC, stehen auf den Gleisen 1 und 2: Hotelzüge. Ich vermute, es handelt sich um Nachtzüge in ferne Gegenden. Erst später werde ich aufgeklärt.

Ich stehe in ständiger Verbindung mit meiner Frau, die in Glückstadt versucht, im Internet die neuesten Mitteilungen zur Lage des norddeutschen Bahnverkehrs zu erfahren. Sie sagt mir, dass man nach jüngsten Nachrichten der Bahn ab 19.30 Uhr mit Lösungen der Probleme rechnen könne. Die freudige Nachricht teile ich dem Bahnpersonal am Informationsstand mit. Niemand ist beeindruckt, denn, wie sie erwidern, wichtige Nachrichten kämen zuerst nicht ins Internet, sondern nur per Telefon und nur direkt an die bei der Bahn verantwortlich Beschäftigten. Bis jetzt gebe es keinerlei Entwarnung.

Um Mitternacht wird heiße Suppe angeboten

Die Frage also, was kann ich in meiner Lage tun, wird dringlicher. Die Frage, ob ich heute noch nach Glückstadt kommen würde, beantwortet das Bahnpersonal mehr oder minder einstimmig: eher nicht. Einen Busersatzverkehr gibt es nicht. Die Straßen sind auch vom Unwetter beschädigt. Die Unterkünfte der Hotels rund um die Bahnhöfe sind ausgebucht. Das Bahnpersonal empfiehlt mir nun, in einem der Hotelzüge zu warten. Diese stünden bereit für die Übriggebliebenen – die ganze Nacht.

Nun bin ich vom ersten Teil meiner Odyssee müde geworden. Inzwischen sind vier Stunden auf der Suche nach einer Zugverbindung vergangen. Ich rüste mich noch mit einer Flasche Bier aus – zur Beruhigung, falls ich die Nacht im Hotelzug verbringen muss. Die ersten drei Wagen des IC, die erste Klasse, sind besetzt. Im sechsten finde ich einen guten Platz. Im Zug ist es warm. Draußen gießt es in Strömen.

Nach einiger Zeit werden die Insassen vom Zugpersonal begrüßt und in den kommenden Stunden mit Süßigkeiten und Zeitungen versorgt. Mit dem Blick auf den mit Pfützen übersäten Bahnsteig beginne ich, mich ein wenig wohl zu fühlen. Wenn sich bis 21 Uhr nichts verändert, beschließe ich, werde ich die Nacht hier verbringen.

Mitternachtssuppe

Doch es kommt ein kleiner Hoffnungsschimmer: Gegen 21 Uhr wird durchgesagt, dass man mit der S-Bahn bis Pinneberg fahren kann, von dort aus weiter nach Elmshorn und von dort aus per Taxi nach Husum. Wie sich herausstellt, gilt das Angebot nur für die, die eine Fahrkarte mit Bestimmungsort Husum haben. Nichts für mich. Um Mitternacht wird heiße Suppe angeboten.

Meine Entscheidung, das „Zughotel“ zu wählen, bleibt richtig und die Nacht ruhig. Im Bereich des Bahnhofs Altona war keine Zugbewegung zu erkennen, auch nicht nach 5 Uhr früh. Ab 6 Uhr steht ein Frühstück mit Kaffee und belegten Broten im Bistrowagen bereit. Als sich aber bis 8 Uhr nichts ändert, das ab und zu auftauchende, neue Zeitungen verteilende Zugpersonal immer noch gar nichts weiß, verfliegt meine noch abenteuerliche Stimmung und löst sich völlig auf, als davon die Rede ist, dass noch eine zweite Nacht im Waggon nicht auszuschließen sei.

Alle sitzen fest in Hamburg

Ich beginne wieder mit eigenen Erkundigungen. Die Warteschlange vor der Informationsstelle im Bahnhof ist immer noch lang, das Informationszentrum überfüllt. Kein Zugverkehr im Norden, steht auf der Anzeigetafel. Aber es ist auch zu hören, dass sich gegen Mittag die Lage verändern würde. Und ich entdecke, dass eine Nordbahn, wieder nach Wrist ausgeschildert, bereitsteht zur Abfahrt um 11.55 Uhr. Sie fährt. Ich steige um in den Zug nach Elmshorn und komme in Glückstadt mit einer halben Stunde Verspätung an. Ende eines Ausflugs mit einer unvorhergesehenen Verzögerung von 21 Stunden.

Viele waren von den Auswirkungen des Orkantiefs „Xavier“ betroffen, Berufspendler, Reisende aus dem Norden. Schlimm für sie und alle, die nur ein paar Stunden in Hamburg unterwegs waren und nun nicht mehr weiterkamen. Schlimmer vielleicht für die, die Urlaubs- oder Geschäftsreisen vor sich hatten, schon von weither gekommen waren und weit entfernte Ort ansteuerten. Sie alle saßen fest in Hamburg. Der ganze Norden Deutschlands war in Mitleidenschaft gezogen worden. Am schlimmsten jedoch: In diesem Unwetter kamen sieben Menschen ums Leben.