Hamburg. Mit einem Zaun wurden sie unter der Kersten-Miles-Brücke vertrieben. Sie sind zurück – auch an anderen Orten der Stadt.

Thorsten hockt vor einem Holzscheit. Mit einem Taschenmesser schnitzt er Späne, schichtet sie neben sich auf. Für das Feuer. „Wir kochen lieber selber, als ins Pik As zu gehen“, sagt er. Unter der Kersten-Miles-Brücke an der Helgoländer Allee ist alles beim Alten. An diesem Herbsttag scheint die Aufregung um das Obdachlosencamp nahe den Landungsbrücken vergessen. Als 2011 der damalige Bezirkschef in Mitte, Sozialdemokrat Markus Schreiber, den Platz mit einem Zaun sperren ließ, um die Obdachlosen zu vertreiben, gab es nicht nur in Hamburg einen Aufschrei der Empörung. Zuletzt sorgten ein Brand und Probleme mit Unrat für Schlagzeilen. Und heute?

Mit fünf anderen Obdachlosen hat sich Thorsten so gut es geht eingerichtet. In der Gruppe ist er der einzige Deutsche. Die anderen kommen aus Polen und Tschechien, sagen sie. Sie verständigen sich mit Händen und Füßen, doch für Thorsten steht fest: „Wir sind hier eine Familie. Uns ist wichtig, dass es ordentlich ist. Hier kann man sich nicht einfach dazulegen.“

Es gelten klare Regeln

Was die seit Jahren dort campierenden Wohnungslosen anzieht, ist vor allem die Lage. Sie schätzen die kurzen Wege nach St. Pauli oder in die Innenstadt. Mit Flaschensammeln kommen sie zu etwas Geld, und das Sammeln geht halt im Zentrum besser als in Poppenbüttel oder Marienthal.

Seit dem Brand, der im März 2013 im Obdachlosencamp ausbrach und eine kostspielige Sanierung der Brücke nach sich zog, setzt die Stadt allerdings auf klare Regeln. „Wir dulden, dass Obdachlose dort sind und schlafen. Aber: keine Zelte, kein offenes Feuer und keinen übermäßigen Hausrat“, sagt Sorina Weiland, Sprecherin des Bezirksamts Mitte. Im Vergleich zu den Vorjahren habe sich die Situation beruhigt.

2011 sorgte der Zaun an der Brücke für Auseinandersetzungen
2011 sorgte der Zaun an der Brücke für Auseinandersetzungen © Michael Arning

Damals sorgten vor allem Zelte und Sperrmüll für Probleme. Viele Bürger hatten aus Nächstenliebe, vielleicht auch aus Bequemlichkeit, ihre ausrangierten Möbel unter der Brücke abgestellt. Es kam immer wieder zu Beschwerden, für die Behörden war die Brandgefahr ein Problem.

Es gibt kaum noch Klagen über das Camp

Momentan hat im Camp der sechs Wohnungslosen jeder seinen eigenen Bereich. Geschlafen wird auf zwei übereinandergestapelten Matratzen aus dem Sperrmüll. Es gibt Decken und Schlaf­säcke. Um die Schlafplätze herum liegen Taschen mit persönlichen Gegenständen. Davor stehen Schnapsflaschen, Dosenravioli und Leergut. Etwa einen Meter von den Matratzen entfernt befinden sich drei Feuerstellen. Während sich Thorsten um das Holz dafür kümmert, schneidet ein anderer auf einem Brett Putenfleisch. Es gibt eine Pfanne, ein paar Töpfe und Schneidemesser.

Die Situation habe sich verändert. „Es gibt kaum noch Klagen von Bürgern“, sagt Weiland. „Das ist nicht mehr zu vergleichen mit der Lage vor drei bis vier Jahren.“ Es werde eher aus Sorge um Obdachlose die Hotline genutzt, bestätigt Marcel Schweitzer, Sprecher der Sozialbehörde.

Vor Jahren schien die Situation nicht hinnehmbar, jetzt scheinen sich alle damit arrangiert zu haben. „Die Stadtreinigung bringt uns Mülltüten und hilft uns, Ordnung zu halten“, sagt Thorsten. In der Vergangenheit war es immer wieder zu Räumungen und Aufräumaktionen durch die Stadt gekommen. Zelte gibt es nun keine mehr. Die Gruppe weiß, dass sie sich um Sauberkeit bemühen muss, sonst droht wieder Ärger. Alle drei Tage schaue die Polizei nach dem Rechten. Ab und zu komme der medizinische Notdienst vorbei. Thorsten ist einigermaßen zufrieden.

Zelte werden geduldet

Vor dem Camp sitzt ein älterer Mann mit vergilbtem Rauschebart stumm in einem Klappstuhl. In der rechten Hand hält er regungslos einen leeren Spendenbecher. Sozialarbeiter seien zu selten vor Ort, sagt Thorsten. „Wir würden gerne woanders hin, etwa in Containern fest untergebracht werden. Alles, was wir wollen, ist als Familie zusammenzubleiben“, sagt er.

Eine feste Bleibe ist rechtlich aber nicht so einfach. Denn bei Thorstens „Familie“ handelt es sich um Obdach­lose ohne gültigen Rechtsanspruch. Menschen, die aus anderen EU-Ländern wie Polen kommen und sich in Deutschland ein besseres Leben erhoffen. In vielen Fällen kommen sie als billige Arbeitskräfte unter fragwürdigen Bedingungen nach Deutschland und werden von ihren Chefs in Unterkünften einquartiert. Verlieren sie die Arbeit, verlieren sie auch ihre Unterbringung. Und landen häufig auf der Straße.

Die Verlorenen spült es dann nicht nur unter die Kersten-Miles-Brücke, sondern auch zu anderen Treffpunkten, an der Kennedybrücke oder in der City. Das weiß auch die Stadt. An der Alster werden inzwischen Obdachlosencamps mit Zelten offiziell geduldet. Bei der Kersten-Miles-Brücke geschieht dies nur unter Auflagen des Bezirksamts.

Um der Lage Herr zu werden, versucht die Stadt seit einem Jahr, die Gruppe der Obdachlosen ohne gültigen Rechtsanspruch durch Beratungsprogramme dazu zu bringen, in ihre Herkunftsländer zurückzukehren. Als EU-Bürger haben sie das Recht, sich innerhalb der Union frei zu bewegen. Aber sie haben keinen Rechtsanspruch auf staatliche Unterbringung und Sozialleistungen. Dennoch, so die Sozialbehörde, stünden das am 1. November startende Winternotprogramm und andere Soforthilfeprogramme auch ihnen zur Verfügung. Oft mangele es jedoch an der Bereitschaft der Obdachlosen, die Hilfen anzunehmen. „Menschen ohne Leistungsanspruch können sich aber auch in ihrem Heimatland Hilfe holen und Übergangsleistungen erhalten“, sagt Behördensprecher Schweitzer.

Die Macher der Obdachlosenzeitschrift „Hinz und Kunzt“ warnen vor einer immer stärkeren Verelendung der Menschen ohne Leistungsanspruch. „Wir haben unter den Obdachlosen inzwischen eine Zweiklassengesellschaft, und das Elend wird immer schlimmer und spürbarer. Es ist furchtbar zu sehen, wie die Menschen auf der Straße krank werden“, sagt Stephan Karrenbauer, Sozialarbeiter bei „Hinz und Kunzt“.

Stadt schätzt die Zahl der Obdachlosen auf 2000

Der Obdachlose Thorsten weiß, dass seine Situation als Deutscher eine andere ist als die seiner Kollegen. Seine Freunde wollen nicht zurück in ihre Heimat, auch wenn sie hier keinen Anspruch auf Sozialleistungen haben. Bei ihnen muss die Stadt viel Überzeugungsarbeit leisten. Zumal immer mehr Obdachlose in die Stadt kommen. 2009 zählte die Behörde etwa 900 Obdachlose in Hamburg. Inzwischen wird ihre Zahl auf 2000 geschätzt. „Durch Zuzug aus Südost- und Osteuropa ist die Zahl sicher gestiegen. Das berichten uns auch die sozialen Hilfseinrichtungen“, sagt Schweitzer. Dagegen sei die Zahl der Obdachlosen mit deutscher Staatsbürgerschaft rückläufig. Sorina Weiland vom Bezirk Mitte betont aber, dass niemand in Hamburg unter einer Brücke schlafen müsse und solle.

Unter der Kersten-Miles-Brücke dürfte sich das Bild nicht so schnell ändern. Thorsten und seine „Familie“ wollen jedenfalls weiter versuchen, dort ihr Leben irgendwie zu gestalten. Bis der Winter kommt. Etwas entfernt vom Camp liegt ein weiterer Obdachloser an einer Laterne auf dem Gehweg in einer Lache aus Erbrochenem. Um ihn herum riecht es nach Urin. Er hat sich in seinen Schlafsack gekauert und schläft. In seinem Zustand ist auch unter der Kersten-Miles-Brücke kein Platz für ihn.