Hamburg. Nach zehn Jahren ohne exakte Angaben soll im Frühjahr eine Untersuchung starten. Weckdienst in der City wieder gestartet.
Wer sind sie? Woher kommen sie? Und wie viele sind es? Erstmals seit fast zehn Jahren will die Stadt die exakte Zahl der Obdachlosen erfassen. Nach Abendblatt-Informationen bereitet die Hamburger Sozialbehörde eine Zählung im März 2018 vor. Die Studie wurde europaweit ausgeschrieben, ein externer Dienstleister soll damit betraut werden.
„Wie genau die Erhebung abläuft und was nachgefragt wird, erarbeiten wir zurzeit“, sagt Behördensprecher Marcel Schweitzer. Das Amt erhofft sich Aufschlüsse über die Situation der Hamburger Wohnungslosen, die Ursachen der steigenden Obdachlosenzahlen und die daraus resultierenden Hilfsprogramme.
Entwicklungen besser Rechnung tragen
Seit 2009 ist die Zahl der Obdachlosen nicht mehr präzise erhoben worden. Damals waren 900 dauerhaft „auf der Straße lebende“ Wohnungslose registriert worden. Heute wird ihre Zahl auf mehr als 2000 geschätzt – die Dunkelziffer dürfte höher liegen. Insbesondere der Zuzug vieler Ost- und Südosteuropäer sei dafür verantwortlich.
Klar scheint demnach schon vor der Studie, dass mehr als doppelt so viele Obdachlose wie noch vor zehn Jahren auf der Straße leben. Nur knapp ein Fünftel der Wohnungslosen besitzt die deutsche Staatsbürgerschaft. Im Winternotprogramm lag der Anteil zuletzt bei 14 bis 19 Prozent. Bisher nutzt die Sozialbehörde zur Fortschreibung der Zahlen die Berichte von Tagesaufenthaltsstellen und anderen Hilfseinrichtungen. Die nun geplante Zählung soll aber aktuellen Entwicklungen besser Rechnung tragen. Als sogenannter „Lebenslagebericht“ ist sie Teil des Koalitionsvertrages von SPD und Grünen.
Zuvor war in der Bürgerschaft noch ein Antrag der CDU-Fraktion für eine „Studie zur Ermittlung der Ursachen von Obdachlosigkeit“ durchgefallen. Stattdessen beschloss die rot-grüne Parlamentsmehrheit einen eigenen Antrag. Dieser, so die Union, fuße allerdings auf den Erkenntnissen aus dem Jahr 2009. Die Vorgängerstudie stammt noch aus Regierungszeiten der CDU. „Wer das Konzept zur Wohnungslosenhilfe ernsthaft umsetzen will, muss zwingend auch aktuelle Zahlen als Grundlage haben“, forderte Franziska Grunwaldt, sozialpolitische Sprecherin der CDU. Jetzt kündigt der Senat eine umfassende Erhebung durch ein beauftragtes Unternehmen an.
Unterstützung erhält dieser Plan von Hamburgs City-Managerin Brigitte Engler. Neben der Kersten-Miles-Brücke, der Kennedybrücke und dem Hauptbahnhofsumfeld gilt die Innenstadt als Hauptanlaufstelle von Obdachlosen. „Gut, dass die Stadt nun genaue Zahlen erheben will“, sagt Engler. Es helfe, wenn man wisse, mit wem man es zu tun habe. „Stimmt das Angebot noch? Sind die Sprachen der Dolmetscher noch zeitgemäß? Solche Fragen müssen geklärt werden“, meint Engler.
Konzepte erarbeiten
Momentan müssten Zustandsberichte aus vielen Quellen reichen, um Konzepte zu erarbeiten. So hat das Bezirksamt Mitte nach einer Pause im Sommer nun seinen „Weckdienst“ für Obdachlose wieder aufgenommen. „Es ist notwendig geworden, weil wir erneut größere Gruppen registrieren“, sagt City-Managerin Engler.
Deshalb werden Obdachlose nun wieder zweimal wöchentlich geweckt, um beispielsweise Gehwege reinigen zu können. Im Frühjahr hätten größere Gruppen von Rumänen und Bulgaren diese Maßnahme provoziert. „Wir haben gute Erfahrungen mit dem Weckdienst gesammelt“, sagt Sorina Weiland, Sprecherin des Bezirks Mitte.
Zuvor sei zu oft der Ehrenkodex unter Obdachlosen, die ,Platte‘ morgens besenrein zu hinterlassen, verletzt worden. Kot, Urin und Unrat ließen die Beschwerden gerade in der City größer werden. Momentan spricht City-Managerin Engler von einem geringen Beschwerdeaufkommen. Auch die Sozialbehörde sagt, die Beanstandungen seien überschaubar. Im Winter würden die Rufe im Umfeld des Winternotprogramms erfahrungsgemäß lauter.
Die offensichtlichsten Obdachlosenlager der Stadt seien nach Behördenangaben derzeit unkritisch. Das vormals umstrittene und zeitweise eingezäunte Camp unter der Kersten-Miles-Brücke nahe den Landungsbrücken oder die Zelte zwischen Kennedy- und Lombardsbrücke seien laut Polizei und Amt nahezu beschwerdefrei. Beide Standorte würden unter Auflagen wie dem Verbot von offenem Feuer geduldet.
Ansprache zeigt Wirkung
Das Winternotprogramm der Stadt startet derweil in knapp einem Monat, am 1. November. „Es wird zwei staatliche Standorte für niedrigschwellige Übernachtungsmöglichkeiten geben: wieder am Schaarsteinweg und erstmals in der Friesenstraße“, sagt Behördensprecher Schweitzer. Auch Kirchengemeinden stellen erneut Wohncontainer. Insgesamt gebe es 940 Plätze, ganzjährig biete die Stadt etwa 330 Notübernachtungsplätze. Dabei gebe es durchaus Wanderbewegungen von Obdachlosen aus anderen Städten nach Hamburg. „Allerdings nicht übermäßig“, heißt es aus der Sozialbehörde.
Auch in diesem Winter sollen Sozialarbeiter zum Einsatz kommen, die besonders Osteuropäer ohne Rechtsanspruch beraten – mit dem Ziel der Rückkehr in ihre Heimat. Im vergangenen Jahr hatte die Behörde mit dieser Maßnahme begonnen. Demnach sei für mehr als 200 Fälle die „Kostenübernahme für Rückkehrhilfen“ erklärt worden, in 117 Fällen wurden die Fahrkarten auch genutzt. Auf anderen Wegen hätten weitere 400 Obdachlose zur Rückkehr bewegt werden können.
Freizügigkeitsgesetz der EU hat Grenzen
Hintergrund ist, dass auch das Freizügigkeitsgesetz der EU Grenzen hat. Voraussetzungen für einen Rechtsanspruch auf weiterführende Hilfe in Deutschland habe demnach nur, wer Arbeit, selbstständige Tätigkeit, ausreichende Existenzmittel oder Krankenschutzversicherung nachweisen kann. Wer diese Beweise schuldig bleibt, kann zur Ausreise aufgefordert werden, was die Sozialbehörde verstärkt betreibt.
Ein Indiz für das Greifen dieser Maßnahme sei, dass der Anteil der Übernachtungen von Osteuropäern von 55 auf 45 Prozent gesunken ist. Von den insgesamt 3800 Personen, die das Winternotprogramm im vergangenen Jahr in Anspruch genommen haben, stammten 13 Prozent aus Polen, 21 Prozent aus Rumänien, zehn Prozent aus Bulgarien und 21 Prozent aus Afrika. Der Frauenanteil lag bei zwölf Prozent.
Frauenanteil: zwölf Prozent
Laut Behördenangaben müsse in Deutschland nach wie vor kein Mensch auf der Straße leben. Menschen, denen Obdachlosigkeit droht oder die bereits obdachlos sind, haben das Recht auf öffentlich-rechtliche Unterbringung – soweit die Voraussetzungen vorliegen. Um Obdachlosigkeit zu vermeiden, soll allen Menschen, die nicht in der Lage sind, eigenständig Wohnraum anzumieten, zunächst die öffentlich-rechtliche Unterbringung bewilligt werden. Bei der Vermittlung einer Wohnung – so die Theorie – sind die bezirklichen Fachstellen für Wohnungsnotfälle behilflich.