Hamburg. Das Filmfest Hamburg eröffnet mit dem wunderbar leisen Film „Lucky“ und vielen prominenten Gästen auf dem roten Teppich.

Es gibt viele berührende Bilder, die der Regisseur John Caroll Lynch in seinem Debütfilm „Lucky“ ­findet. Die sagenhaft schöne Wüste von New Mexico, durch die sein cowboybehüteter Hauptdarsteller schlurft. Das ­Diner, das aus der Zeit gefallen scheint, in dem die Kellnerinnen ihre Stammgäste noch „Honey“ oder „Darling“ nennen, wenn sie den Filterkaffee bringen. Der dschungelgrüne Innenhof eines leicht anrüchigen Eta­b­lis­se­ments, in dem vor allem der Rasensprenger seinen Dienst tut.

Das vielleicht rührend­ste Bild aber ist der Blick in den Kühlschrank. Genau ein einziges, fertig eingegossenes Glas Milch steht dort, in der Tür der Milchvorrat für die kommenden Tage. Sonst: nichts. Nachdem Lucky, ein alter, alleinstehender Mann in weißer Rippunterwäsche, seinen Frühsport absolviert und das Glas ausgetrunken hat, schenkt er sich das nächste ein. Für den nächsten Morgen. Das Leben, es geht seinen Gang. Bis es vorbei ist.

"Lucky": Abschied für Harry Dean Stanton

Es ist ein stiller, ein leiser Film, mit dem Festivalchef Albert Wiederspiel das 25. Hamburger Filmfest eröffnet. Und er hätte kaum einen passenderen Auftakt zum Jubiläum finden können. Denn „Lucky“ – schon der Titel wirkt ja programmatisch – ist zugleich die Feier und der Abschied eines Charakterdarstellers, der dem Kino fehlen wird: Harry Dean Stanton ist erst vor wenigen Wochen im hohen Alter von 91 Jahren gestorben. Berühmt geworden ist der große Schweiger in „Paris, Texas“ von Wim Wenders, der nun ausgerechnet in diesem Jahr den festivaleigenen Douglas Sirk Preis erhält. Hier hat jemand ein Gespür für die richtige Dramaturgie.

„Kino, das ist eine ganz besondere Form des Miteinanders auf Zeit“, hat auch Hamburgs Erster Bürgermeister Olaf Scholz richtig erkannt, der wie in den vergangenen Jahren das Grußwort hält und dem Festival diesmal zu seinem ersten Vierteljahrhundert gratuliert: „Das Filmfest Hamburg hat diese Zeit genutzt, um seine Rolle als Fixpunkt des Kinos im Norden beharrlich und klug auszubauen. Dabei gelingt es auch dieses Jahr wieder, den Reichtum des Weltkinos Pars pro Toto in der Hansestadt zu präsentieren und gleichzeitig vielversprechende, aber noch wenig bekannte Filmemacher vorzustellen.“

Das Kino als Konservierungsmittel

Einer von ihnen ist ohne Frage John Carroll Lynch, eigentlich selbst ein Charakter(neben)darsteller, der unter anderem in „Fargo“ besetzt war. Und dem mit seinem ersten eigenen Werk nun eine Hommage an Harry Dean Stanton und an das Kino selbst gelingt. Mit „Lucky“ zeigt Lynch – der seinem Namensvetter David Lynch hier ebenso einen feinen Gastauftritt schenkt wie auch Tom Skerritt, mit dem Stanton schon in „Alien“ gespielt hat – die Schönheit und die Traurigkeit der Vergänglichkeit. Was bleibt schon von einem, wenn man dereinst gestorben ist? „Ungatz“, wie es im italo-amerikanischen Ganovenslang so schön heißt: Nichts.

Ein erschütternder Gedanke. Den Lynch natürlich sofort ad absurdum führt: Denn gibt es ein schöneres Konservierungsmittel für das Leben als eben das Kino?

Die Geschichte ist fast schon banal. Lucky, ein komischer Kauz in einem Wüstenkaff, ist alt. Seine Tage sind Routine: Gymnastik, Milch, Kaffee und Kreuzworträtsel im Diner, neue Milch in kleinen Drugstore, Gameshows, Bar, Bett. Unglücklich ist er nicht. Glücklich? Wohl auch nicht. „Es ist die Gewohnheit, das Leben hinzunehmen, wie es ist“, erklärt er seinen Bekanntschaften den Begriff „Realismus“.

Tristesse und Gewohnheit mit neun Buchstaben, vollendet untermalt durch Mundharmonika und Johnny Cash: „Many times we’ve been out drinkin’/Many times we’ve shared our thoughts/But did you ever, ever notice, the kind of thoughts I got?“ singt Cash in „I See A Darkness“. Und so sitzen auch die Bewohner der namen­losen Kleinstadt (einem ist die Schildkröte entlaufen) einsam beieinander und trinken und reden, ohne viel zu sagen. Bis ein Sturz dem Kettenraucher Lucky das unvermeidliche Ende vor Augen führt – und er beginnt, seine Umgebung bewusster wahrzunehmen.

Wiederspiel schwärmt von den Russen

Albert Wiederspiel, der in seiner gewohnt warmherzigen und persönlichen Eröffnungsrede gesteht, „unter einer gewissen Ostalgie“ zu leiden und ausführlich von den Russen schwärmt, nimmt sich die Freiheit, trotzdem mit einem Film zu eröffnen, der amerikanischer kaum sein könnte. Nicht weil er den Mainstream bedienen würde, kommerziell oder gar kitschig wäre – im Gegenteil: Er ist voller Wärme, Humanität und Nostalgie für ein Amerika, das beim Begriff „einsamer Wolf“ nicht zuerst an einen brutalen Waffennarr aus Nevada denken lässt.

„Die Hauptsache am Menschen sind seine Augen und seine Füße. Man muss die Welt sehen können und zu ihr hingehen“, zitiert Olaf Scholz Döblins Franz Biberkopf in „Berlin Alexanderplatz“. Oder man holt die Welt, viele Varianten der Welt, auf die Leinwand und die Menschen ins Kino. Wenn es gut läuft, werden sie am Ende, wie die Figuren aus „Lucky“, um eine Erkenntnis und ein Lächeln reicher hinausgehen. Und der Dunkelheit, sei sie auch noch so trist, mit leiser Zuversicht begegnen.

Filmfest Hamburg bis 14.10. in den Kinos Abaton, CinemaxX Dammtor, Metropolis, Passage und Studio-Kino. Das MICHEL Kinder-Filmfest findet zeitgleich im Abaton Kino statt. Programm: www.filmfesthamburg.de