Hamburg. Wie schaffen es Oda Thormeyer und Rafael Stachowiak durch Luk Percevals Acht-Stunden-Zyklus im Thalia?

Sieben Romane zusammengefasst zu acht Stunden Bühnenspektakel. Das ist eine Herausforderung. Den Besuchern der Ruhrtriennale, die der ersten Aufführung von Luk Percevals dramatisiertem Émile-Zola-Zyklus in einer zugigen Duisburger Indus­trieruine beiwohnten, wurde einiges geboten: auflockernde Massagen, Theatergymnastik und zünftiges Abendbrot in den Pausen.

In Zeiten, in denen das Kulturpublikum vielteilige TV-Serien und dickbändige Romanfolgen liebt, haben Perceval, scheidender Oberspielleiter des Thalia Theaters, und ein Team aus unter anderem zwölf Schauspielern drei Jahre lang ihre eigene Theaterserie kreiert. Émile Zolas insgesamt 20-bändigen „Rougon-Macquart“-Zyklus aus dem 19. Jahrhundert um ungezügelten Kapitalismus, Geld und Gier haben sie zu den Theaterabenden „Liebe“, „Geld“ und dem nun abschließenden Teil „Hunger“ komprimiert. Man kann sie einzeln anschauen oder an diesem Sonnabend die Uraufführung aller drei Teile als Acht-Stunden-Marathon im Thalia erleben.

Oda Thormeyer hat Erfahrungen mit der Bühnen-Langstrecke

Eine Herausforderung ist das auch für das Ensemble. Die Schauspieler Oda Thormeyer und Rafael Stachowiak sind von der ersten Stunde an dabei. Für Massagen oder Yogaübungen hatten beide in Duisburg keine Zeit. Die Pausen reichten gerade für einen schnellen Imbiss, dann ging es schon wieder in die Maske für den nächsten Teil. Die erste der Duisburger Aufführungen war gleichzeitig der erste komplette Durchlauf überhaupt. Man taste sich konditionell an die Länge noch heran, sagt Rafael Stachowiak. In Duisburg nutzte das Ensemble jede freie Minute im Hotel für gemeinsame Textarbeit.

Ein wenig ermattet wirken sie beide. Aber auch gespannt wie Raubtiere vor dem Sprung. Oda Thormeyer, die in „Hunger“ die Mutter der Maheus, einer Bergarbeiterfamilie mit auseinanderdriftenden Lebensentwürfen, spielt, hat Erfahrung mit der Bühnen-Langstrecke, stand sie doch bereits 2001 in Luk Percevals legendärem Shakespeare-Marathon „Schlachten“ auf der Bühne.

Sie entspannt zwischendurch über eine starke Konzentration und Ruhe. „Als Marathon ergibt das alles Sinn. Kleinigkeiten, die im vorigen Stück nur angedeutet waren, erhalten eine andere Bedeutung“, sagt Oda Thormeyer. „Ich hatte immer das Gefühl, nur Ausschnitte zu sehen, jetzt treten die Zusammenhänge hervor, und jetzt stimmt es für mich.“ Das Ensemble sei über die gemeinsame Anstrengung zu einer wirklichen Theaterfamilie verschmolzen.

Stachowiak spielt häufig Sonderlinge

Rafael Stachowiak spielt den traumatisierten Jacques, einen der Söhne der Wäscherin aus dem ersten Teil, der gegen seine Dämonen, eine Mordlust im Angesicht von Frauen, kämpft. Eine Rolle wie geschaffen für Stachowiak, der häufig die schräg ins Leben gebauten Sonderlinge spielt. Eine auch inhaltlich fordernde Rolle, auf deren Auftritt er den ganzen Abend sorgsam hinarbeiten muss. „Es ist in den Pausen nicht viel Zeit. Man zieht sich um, isst was Kleines, zum Beispiel eine Suppe, auf jeden Fall etwas Leichtes“, so Stachowiak. Wenn dann noch Zeit bleibt, zieht er sich für einen Kurzschlaf in seine Garderobe zurück. „Da bin ich einen Moment für mich und ungestört, habe ein Sofa. Manchmal höre ich auch Musik.“ Der Wecker ist allerdings gestellt, und nach einer Viertelstunde ist Stachowiak wieder hellwach. „Das mache ich nur in der ersten Pause. Denn von ,Geld‘ auf ,Hunger‘ muss ich mit hoher Energie einsteigen, da wäre ein Energieabfall kontraproduktiv.“

Der Schauspieler kennt Luk Perceval bereits seit elf Jahren, erste Arbeiten datieren noch von gemeinsamen Jahren an der Schaubühne Berlin. „Ich schätze seinen nie vordergründigen Umgang mit Realitäten“, erzählt Stachowiak. „Ihn interessieren menschliche und wahre Abgründe und Situationen. Er misstraut einfachen Lösungen.“ Tatsächlich verlegt sich Perceval nicht auf schnelle Effekte, sondern sucht nach der Essenz. „Das Material ist ja kein dramatischer Text, der aus sich heraus eine Kraft entwickelt. Einen Roman, der seine Qualität aus der genau beschriebenen Fülle zieht, so in einzelnen Aspekten zu verbinden, dass daraus dramatische Momente entstehen, das ist sehr aufreibend“, so Stachowiak.

Die Besucher haben zwei fast einstündige Pausen

Das Gute wiederum ist: Die Textmenge hält sich für die einzelnen Darsteller in Grenzen. Die ersten beiden Teile sitzen sowieso schon seit den vergangenen Spielzeiten. Nur der dritte ist wirklich Neuland. Für alle Darsteller sind die Szenen so verteilt, dass sie zu bewältigen sind. Gegen schwächelnde Stimmen helfen zur Not die verstärkenden Mikrofone.

Für Stachowiak ist der zweite Teil der anstrengendste, weil er auf der Bühne die ganze Zeit präsent und wach, aber nicht in Situationen eingebunden ist. Er habe gelernt, mit seinen Kräften zu haushalten, keine Energie zu verschwenden, so der Schauspieler. Wie Rafael Stachowiak gibt auch Oda Thormeyer zu, in dem langen Zeitraum der Auseinandersetzung mit Zola alle emotionalen Stadien einmal durchlaufen zu haben. Für beide funktionieren die drei Teile über die Komik zu Beginn, die Spiellust in der Mitte und die Düsternis am Ende als Gesamterlebnis, zu dem sie auch die Zuschauer ermutigen wollen. „Wann hat man schon einen ganzen Tag Zeit, in eine Welt einzutauchen, das gemeinsam mit den Schauspielern durchzuackern“, so Thormeyer. Und Stachowiak ergänzt: „Das muss man als Marathon sehen.“

Auf die Marathon-Besucher, die bis zum großen Finale durchhalten, warten am Thalia Theater zwar keine Massagen, aber zwei fast einstündige Pausen und passend zum Thema ein Angebot französischer Gastronomie.

„Trilogie meiner Familie. Der Marathon. Liebe – Geld – Hunger“ UA Sa 23.9., ab 14.00, Thalia Theater, Alstertor, Karten unter
T. 32 81 44 44; www.thalia-theater.de