Hamburg. Der Hamburger Politologe Kai-Uwe Schnapp erklärt, warum die Nichtwähler gerade den sozialen Brennpunkten schaden
Der Politikwissenschaftler Kai-Uwe Schnapp beschäftigt sich intensiv mit Wahlen und dem Parteienspektrum. Er lehrt an der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften der Universität Hamburg.
Herr Prof. Schnapp, die Unterschiede bei der Wahlbeteiligung zwischen den Hamburger Stadtteilen sind enorm. Warum ist dies ein Problem für die Demokratie?
Kai-Uwe Schnapp: Die Forschung zeigt, dass die Bereitschaft zum Wählen sehr stark von der Bildung und vom Einkommen abhängt. Wer gut ausgebildet ist und ordentlich verdient, geht mit einer hohen Wahrscheinlichkeit wählen. In diesem Milieu liegt die Wahlbeteiligung bei einer Bundestagswahl teilweise bei über 90 Prozent. In sozialen Brennpunkten dagegen, wo sehr viele Menschen mit Hartz IV und geringer Schulbildung leben, bilden die Nichtwähler oft die Mehrheit. Warum das ein Problem ist? Politische Entscheider orientieren sich vor allem an denen, die wählen gehen. Das gilt auch für linke Parteien. So kann man international sehen, dass selbst linke Parteien weniger Sozialpolitik machen, wenn die Wahlbeteiligung zurückgeht.
In der Öffentlichkeit wird vor allem darüber diskutiert, dass die Zusammensetzung des Parlaments nicht repräsentativ für die Bevölkerung sei. Zu viele Juristen, zu viele Lehrer, viel zu wenig Handwerker.
Schnapp: Diese Diskussion habe ich nie verstanden. Viel wichtiger finde ich die Frage, ob sich alle gesellschaftlichen Gruppen gleichermaßen an der Auswahl ihrer Repräsentanten beteiligen. Und hier muss man feststellen, dass das nicht so ist. Menschen mit geringem Einkommen und schlechter Bildung gehen viel seltener wählen als andere. Das ist eine Gefahr für die Demokratie.
In den 60er- und 70er-Jahren gab es auch viele arme Menschen mit niedriger Bildung in Deutschland. Dennoch gingen die vielzitierten kleinen Leute zur Wahl.
Schnapp: Das stimmt. Da galt noch quer durch alle Schichten der Grundsatz, dass man gefälligst zu wählen hat. Der Nachbar ging zur Wahl, also ging ich selbstverständlich auch. Zudem war die Parteienbindung viel stärker als heute. Wenn etwa bei Blohm+Voss die Lohntüten ausgehändigt wurden, stand der SPD-Kassierer gleich neben dem Gewerkschaftssekretär, um bei den Arbeitern die Beiträge zu kassieren. Das waren alles sehr enge Bindungen. Und selbstverständlich wählte der Arbeiter dann auch die SPD. Diese Bindungen haben sich aufgelöst. Das führt zu mehr Bewegung zwischen den Parteien, aber auch zu geringerer Wahlbeteiligung.
Aber in den Jahren des Wirtschaftswunders hatten es Arbeiter und Angestellte mit niedrigem Gehalt doch noch schwerer. Schulbücher kosteten viel Geld, Bafög wurde erst 1971 eingeführt.
Schnapp: Ja, aber alle saßen in einer Art sozialem Fahrstuhl. Man wusste zwar, dass der Lift für die Wohlhabenden etwas schneller fährt. Aber solange die „kleinen Leute“ sicher waren, dass es auch für sie Etage für Etage nach oben geht, und auch für die eigenen Kinder, war das in Ordnung. Diese Zuversicht begann in den 1980ern brüchig zu werden. Spätesten in den 1990ern wurde klar: Die Einkommensschere wird immer größer, und für einige stockt der Fahrstuhl oder beginnt sogar, nach unten zu gehen. In dieser Situation entsteht Frust, das Gefühl, nicht mehr dazuzugehören. Und dann geht man auch nicht mehr wählen. Nach dem Motto: Die da oben tun doch sowie, was sie wollen und nichts für mich.
Welchen Anteil haben daran die Politiker?
Schnapp: Viele empfinden die Politik als Geklüngel, als bürgerfern. In Umfragen heißt es dann, denen geht es nur noch um das eigene Amt. Hinzu kommt, dass die Welt immer komplexer wird, zum Beispiel durch die Globalisierung. Davon profitieren Parteien, die vermeintliche einfache Antworten liefern, wie etwa die AfD. Wenn man aber wirklich genau hinschaut, dann sieht man: Klar gibt es schwarze Schafe in der Politik. Und es wird bei Weitem nicht alles richtig gemacht. Trotzdem machen die meisten Politiker einen harten Job, den sie so gut wie möglich erfüllen wollen.
Die Diagnose ist also klar. Aber wie könnte eine Lösung des Problems aussehen?
Schnapp: Da gibt es leider keine fertigen Antworten. Wir brauchen einen bunten Strauß von verschiedenen Maßnahmen. So kann man überlegen, das Wahlalter auch bei der Bundestagswahl auf 16 Jahre zu senken, genau wie bei der Bürgerschaftswahl. Aus Studien wissen wir, dass ein früher Einstieg oft dauerhaft die Wahlteilnahme erhöht. Und die Shell-Jugendstudien zeigen immer wieder, dass viele junge Leute sich aktiv und kritisch mit Politik auseinandersetzen. Wichtig ist Transparenz in der Politik und eine möglichst direkte Beteiligung der Bürger. Und auch die Medien können beitragen: Nicht nur über Skandale und Negatives berichten, stattdessen mehr über das langsame Bohren dicker Bretter in der Politik. Das mag manchmal langweilig sein, aber für uns alle wäre es wichtig.
In Sachen direkter Beteiligung wird in Neuwiedenthal einiges versucht. Kostenlose Nachhilfe und Kurse gibt es auch. Dennoch bleibt die Wahlbeteiligung extrem niedrig.
Schnapp: Wir müssen uns von der Illusion lösen, dass Maßnahmen sofort fruchten. Wer heute etwa in Bildung investiert, macht auch mit Blick auf eine spätere höhere Wahlbeteiligung alles richtig. Dennoch wird es viele Jahre dauern, bis das an den Wahlurnen ankommt.
Die einfachste Maßnahme wäre, eine Wahlpflicht einzuführen. Wie in Belgien oder Luxemburg.
Schnapp: Dies würde in der Tat die Wahlbeteiligung erhöhen. Aber ich bin kein Fan dieser Regelung. Wir brauchen mehr Wähler, die aus innerer Überzeugung von ihrem Wahlrecht Gebrauch machen. Eine Wahlpflicht löst keine politischen Probleme und Frustrationen.