Hamburg. Eine Studie untersucht die Motive des “Fußvolks“ in den Notaufnahmen. UKE-Professor und Ärzte machen Vorschläge für Reformen.
Man stelle sich dieses Szenario vor: Beim G20-Gipfel in Hamburg gibt es einen „Massenanfall von Verletzten“, wie es in der Krankenhaussprache heißt. Zig bei Krawallen oder sonst wie Verletzte mit Wunden und Brüchen. Und viele von ihnen kommen ins Universitätsklinikum (UKE) Eppendorf. Doch dort sitzt in der Notaufnahme bereits die Vor-Wochenend-Klientel: Dutzende Patienten mit ernsten und weniger ernsten Erkrankungen, die es mittags nicht zum Hausarzt geschafft haben oder denen die seit Wochen anhaltenden Rückenschmerzen das Wochenende verderben würden. Chaos wäre die Folge.
Szenarien wie dieses haben Experten mehrfach durchgespielt. Man kann G20 auch durch Planspiele zum Hafengeburtstag, Alstervergnügen oder zu einem Anschlag ersetzen. Die 21 Hamburger Notaufnahmen sind überlastet – und zum großen Teil mit Menschen, die sich selbst ins Krankenhaus einweisen wollen.
Jeder Zweite gehört nicht in die Notaufnahme
Das belegt die neue Studie des UKE von Prof. Martin Scherer, aus der jetzt Ärzte, Krankenhäuser und die Gesundheitssenatorin Cornelia Prüfer-Storcks (SPD) Konsequenzen ziehen müssen. Dazu wurden im UKE, im Marienkrankenhaus, im Bethesda und zwei Krankenhäusern in Lübeck und Flensburg rund 1300 Patienten befragt – schriftlich und mündlich, mit ausgefeilten Methoden, zu allen Tages- und Nachtzeiten.
Prof. Scherer sagte, über die Hälfte der Befragten gehöre medizinisch gesehen nicht in eine Notaufnahme: „Zu den Motiven, eine Notaufnahme aufzusuchen, zählt die subjektive Wahrnehmung ambulanter Gegebenheiten genauso wie Bequemlichkeit. Viele Befragte sagten zum Beispiel: Der Facharzt ist nicht verfügbar, wenn ich es möchte. Die Notaufnahme ist eigentlich für andere Gegebenheiten gemacht, bei denen Patienten stören könnten, die da eigentlich nicht hingehören, zum Beispiel bei einem Massenanfall von Verletzten.“
Portalpraxen einrichten – aber richtig!
Und das „Fußvolk“, das nicht per Rettungswagen kommt, soll nun eine Alternative aufgezeigt bekommen. Denn die Überlastung und die Kosten für die Behandlung haben längst untragbare Ausmaße angenommen. Künftig sollen Hausärzte in „Portalpraxen“ am Krankenhaus entscheiden, wer stationär aufgenommen wird und bei wem die Behandlung nicht innerhalb der nächsten Stunden stattfinden muss.
Prof. Scherer sagte: „Von Portalpraxen halten wir sehr viel. Die Allgemeinmediziner sind spezialisiert auf die Betrachtung des ganzen Menschen. Das ist auch im Sinne der Patienten.“ Die Patienten würden erwarten, dass im Krankenhaus immer und sofort alle Geräte und Behandlungsmöglichkeiten zur Verfügung stünden. „Aber das ambulante System ist mindestens genauso gut.“
Bei einem Symposion am 5. September im UKE will sich auch die Kassenärztliche Vereinigung (KV) zu der Studie äußern. Im Abendblatt sagte der Vorsitzende der Vertreterversammlung der KV, Dr. Dirk Heinrich, in der Notaufnahme im Krankenhaus werde „häufig eine große Diagnostik ausgelöst, die viel Geld kostet“.
Kann man die Patienten umerziehen?
Der Haken bei den Portalpraxen: Die Patienten werden weiter in die Notaufnahmen ohne diese Filter-Ärzte gehen. Für den niedergelassenen Arzt Dr. Heinrich machen die Portalpraxen deshalb nur Sinn, wenn gleichzeitig andere Notaufnahmen für das „Fußvolk“ geschlossen werden. Nur noch wenige Notaufnahmen über Hamburg verteilt für die „Selbsteinweiser“ zu haben – das ist jedoch politisch kaum durchsetzbar. Und eine „Umerziehung“ der Patienten ist selten geglückt.
In Großbritannien muss man in das Hausärztesystem eingeschrieben sein, um überhaupt ins Krankenhaus zu Fachärzten zu können. In Deutschland hält man die freie Arztwahl, den Gang in die Notaufnahme sowie die Zweit- und Drittmeinung als Patient für selbstverständlich.
Doch wer in der Notaufnahme ist, kann auch eine akute schwere Erkrankung haben. Deshalb sind die Krankenhäuser verpflichtet, sich die Patienten anzusehen. Dabei werden Kranke bei der Aufnahme nach dem System der Triage in Farbkategorien von Rot (sofort behandeln) bis Grün eingeteilt.
In einigen europäischen Ländern gibt es bereits offizielle Webseiten, auf denen man Krankheitssymptome eintragen und mit der Postleitzahl versehen kann. Dann wirft die Suche eine mögliche Behandlung in der Nähe aus. Im UKE gibt es bereits die Idee, dass man hamburgweit eine Art Hotline einrichtet, die Telefon-Triage: Damit könnte schon vor dem Besuch einer Notaufnahme geklärt werden, wie dringlich der Patient behandelt werden muss. Von einer neuen „Eintrittsgebühr“ hält Prof. Scherer dagegen nichts: „Die inzwischen abgeschaffte Praxisgebühr hat auch nicht dazu geführt, dass die Zahl der Arztbesuche zurückgegangen ist.“