Hamburg. Kerstin Schaefer hat am Hamburger Flughafen und in der Luft geforscht. Gespräch über Vielflieger-Kinder und ideale Sitzplätze.

Viel lieber als im Café hätte sich Flugforscherin Kerstin Schaefer am Hamburg Airport über das Fliegen unterhalten. Aus logistischen Gründen sitzt sie jetzt aber in einer kleinen Kaffeerösterei in der Neustadt. Der neue Treffpunkt war ihr Vorschlag, Café-Betreiberin ist Doktor Schaefer mit der Kaffeeklappe in Wilhelmsburg nämlich auch noch – da kann man gleich mal schauen, was andere so machen. Gerade ist ihre Dissertation über das Fliegen als Buch erschienen.

Zur Person

Dass die Flugexpertin auch Regisseurin, Buchautorin, Kreativschaffende, Gründerin und Fast-Grimme-Preis-Trägerin ist, lässt sie bescheidenerweise unerwähnt. Stattdessen erzählt sie angenehm zurückhaltend von den Tücken der Kabinenreinigung und Stofftieren im Cockpit. Nebenbei löffelt sie heiße Schokolade.

Frau Schaefer, Sie leiden unter Flugangst, haben aber Ihre Doktorarbeit über das Fliegen geschrieben. Darauf muss man erst mal kommen.

Kerstin Schaefer: Flugangst ist vielleicht das falsche Wort. Ich fliege nur wahnsinnig ungern, aber das ist mir erst wieder eingefallen, als ich mich für das Thema entschieden hatte, und dann fand ich es zu gut, um es nicht zu machen.

Was stört Sie am Fliegen?

Schaefer: Es ist eng, die Luft ist schlecht, das Essen ist mies, und es gibt seltsame Geräusche!

Was gibt es daran zu erforschen?

Schaefer: Ich wollte schauen, wie Mobilisierung, Flexibilisierung und Globalisierung gelebt werden. Ob das Flugzeug wirklich der „Global Bus“ ist, in dem wir ganz selbstverständlich unterwegs sind.

Und, sind wir das?

Schaefer: Nein, das Fliegen ist nach wie vor außeralltäglich. Die meisten Menschen fliegen ein- bis zweimal im Jahr. Es sei denn, es gehört zu ihrem Beruf oder sie pendeln.

Wie oft sind Sie für Ihre Arbeit geflogen?

Schaefer: Mehr als 100-mal. Aus organisatorischen Gründen habe ich viele innereuropäische Flüge gemacht, bin aber auch Langstrecke geflogen, etwa nach New York oder Mumbai. An den Flughäfen in Istanbul und London habe ich auch übernachtet.

Ihre wichtigste Erkenntnis ist, wenn wir das richtig verstanden haben, dass Fliegen eine Kulturtechnik ist wie Lesen oder Schreiben.

Schaefer: Genau. Es ist zwar keine Hochkulturtechnik, aber es gehört zu unserer Alltagskultur. Diese Praktiken müssen erlernt werden, da sie erst im Kontext der Globalisierung entstanden sind.

Dafür haben Sie unterschiedliche Menschen am Airport und im Flugzeug begleitet.

Schaefer: Ja, zum Beispiel eine Rentnerin mit Flugangst aus Seevetal, Mitte 60. Ihre Eltern sind nie geflogen, sie war nur zweimal auf Mallorca, weil: „Mallorca ist ja deutsch.“ Alles, was sie über das Fliegen wusste, hatte sie aus den Nachrichten oder Flugzeugkatastrophenfilmen. Niemand hat ihr beigebracht, was man am Airport tun muss, also einchecken, Sicherheitskontrolle, Gate finden. Mit englischen Begriffen wie Fast Lane, Check-in oder Terminal konnte sie nichts anfangen. Und da wurde klar, dass es total voraussetzungsvoll ist zu fliegen.

Komplizierter als Busfahren jedenfalls, das hatten Sie zuvor untersucht.

Schaefer: Ja, das Thema ist aus meiner Magisterarbeit über das Busfahren in der Linie 13 entstanden. Ich bin dann eigentlich nur vom Bus aufs Flugzeug umgestiegen.

Gibt es da Parallelen?

Schaefer: Das Unterwegssein und die „Nicht-Orte“ der „Übermoderne“, wie sie der französische Ethnologe Marc Augé beschreibt, finde ich spannend. Orte, an denen man eigentlich nicht sein möchte, die man nicht selbst gestaltet hat, die laut Augé keine Geschichte haben und an denen angeblich nichts Soziales passiert. Ich habe aber festgestellt, dass dort jede Menge passiert.

Echt? Was passiert denn in superengen, ökonomisch optimierten Passagierkabinen?

Schaefer: Da gibt es durchaus Raum für Individualität. Das geht schon bei den Sitzen los, die ergonomisch entwickelt wurden, auf denen aber niemand sitzt, wie es geplant war. Die Leute ziehen die Füße hoch oder rollen sich zusammen, ein kleiner Junge hatte sich auf den Fußboden gesetzt und den Sitz als Tischfläche genutzt, um Pokémon-Karten zu sortieren. Ob auf den Klapptischchen der Baedeker-Reiseführer oder die Gala liegt, die man sich gegönnt hat, sagt auch etwas aus.

Woran liegt dieses Streben nach Dekoration, nach eigener Note im Flugzeug?

Schaefer: Am Bedürfnis, sich einzurichten, weil man es an diesen Nicht-Orten eine Weile aushalten muss. Dem setzt man möglichst viel Eigenes entgegen. Passagiere sind ja auch total widerspenstig. Sie wollen sich den Regeln im Flugzeug nicht ausliefern. Die schnallen sich nicht an, wenn sie sollen, sie stehen auf, wenn die Anschnallzeichen noch leuchten, sie besetzen ständig den Gang oder machen das Handy an, obwohl die Maschine noch nicht steht.

Sie haben auch Vielflieger begleitet, die von so viel Eskapismus genervt sein dürften. Welche Erkenntnisse gab es da für Sie?

Schaefer: Vielflieger sind heutzutage nicht mehr nur die Geschäftsleute, sondern auch viele unbegleitete Kinder, meist Trennungskinder. Der Vater in Hamburg, die Mutter in einer anderen Stadt. Ein allein reisendes Mädchen haben wir vom Flieger abgeholt, und ich dachte, das muss für es total aufregend sein, weil es alleine geflogen ist.

Aber?

Schaefer: Aber das Mädchen war nicht nur komplett ausgestattet mit Lillifee-Rollkoffer, Lillifee-Rucksack und Lillifee-Brustbeutel – es war auch total genervt, weil es mit dem Fliegen viel Negatives verbindet, weil es Zwang ist. Es war total abgebrüht, mit den Abläufen bestens vertraut. Von diesen Vielfliegerkindern gibt es in den Ferien Hunderte in Hamburg.

Welche Strategien entwickeln Vielflieger?

Schaefer: Ich habe einen Geschäftsmann begleitet, der reiste fast ohne Gepäck, nicht einmal mit Laptop, weil der extra gecheckt werden muss. Er macht alles am Handy. Und sogar im Winter reist er ohne Jacke, weil er nur in geschützten Räumen unterwegs ist – Auto, Terminal, Flugzeug, Taxi, Büro und zurück. Bevor ich mit ihm gereist bin, hielt ich mich für einen Profi am Flughafen. Aber er musste ständig auf mich warten, weil er viel schneller war als ich. Und doch bedeutet das Fliegen auch für ihn seelische und körperliche Belastung, auch nach all den Jahren.

Sie haben in fast allen Bereichen des Hamburger Flughafens gearbeitet. Wie war’s?

Schaefer: Der „HAM“ ist grundsätzlich toll, ich finde den schnuckelig, er liegt auch in Besucherrankings weit vorn. Ich komme total gern in Hamburg an.

Warum?

Schaefer: Alles ist sehr zentral, architektonisch einfach und großzügig gehalten, es ist kein Labyrinth wie etwa Berlin-Tegel. Außerdem freue ich mich immer über die Stimme von Frau Rose und Graham bei der Ankunft. Die durfte ich nämlich in der Telefonzentrale kennenlernen!

Welcher Airport-Bereich war der härteste?

Schaefer: Ich würde sagen, die Kabinenreinigung. Das ist Nachtarbeit, man muss in kurzer Zeit viele Schritte in der richtigen Reihenfolge erledigen – Gurte legen, Spucktüte, Bordmagazin und Zeitschriften ordnen. Es ist schon belastend, was die Leute in ihre Sitztaschen stecken.

Zum Beispiel?

Schaefer: Viel Angebissenes. Sandwiches, aus denen die Soße quillt, Kaugummis. Ich war wirklich überrascht, wie die Kabine am Ende des Tages aussieht, voller Müll.

Wer macht diese Arbeit sonst?

Schaefer: Die Schicksale meiner beiden Kollegen waren so traurig. Der eine war nur als kleines Kind einmal geflogen und konnte sich gar nicht mehr daran erinnern. Für ihn war das Flugzeug ein Sehnsuchtsort, er war jede Nacht drin und hob doch nie ab. Der andere war ein älterer afghanischer Fremdsprachenkorrespondent, dessen Abschluss hier nicht anerkannt wurde. Der redete – mit seinem Müllsack in der Hand – mit jeder Crew in deren Sprache, um in Übung zu bleiben.

Und welcher Flughafenbereich hat Ihnen am besten gefallen?

Schaefer: Das Idyll ist die Flughafenfeuerwehr, „die Insel der Glückseligen“, sagen die Feuerwehrleute, die da arbeiten. Da passiert ja nicht täglich der große Absturz, es sind mehr kleine Sachen in den Terminals oder Übungen, zu denen oft ausgerückt wird. Trotzdem müssen sich die Feuerwehrleute auf dem Ernstfall-Level halten, weil ja jederzeit etwas passieren kann. Dort gibt es ein Beachvolleyballfeld, eine Werkstatt und einen Fernsehraum mit aufgereihten Sesseln, von denen jeder eine eigene Fußstütze hat. Dort wird zusammen Ohnsorg-Theater geguckt und gewartet – eine ganz spezielle Situation, eine eingeschworene Gemeinschaft.

Durften Sie auch mal ins Cockpit?

Schaefer: Ja, ich durfte mehrere Tage eine Crew begleiten und habe sogar die Maskottchen der beiden Piloten kennengelernt.

Bitte?

Schaefer: Kroko und Iwano waren immer dabei, ein Stoffkrokodil und eine Plüschbiene, benannt nach einem Wegpunkt nach Italien. Es hat aber lange gedauert, bis die beiden rauskamen.

Kommt man im Flugzeug eigentlich leichter ins Gespräch als anderswo?

Schaefer: Nicht generell. Aber wenn die Routine durchbrochen wird, kommen die Passagiere auch ins Gespräch. Und dann hat die Situation in ihrer Flüchtigkeit etwas Bleibendes. Mein Vielflieger hat das „Schnappschüsse fürs Leben“ genannt. Man unterhält sich einen ganzen Flug – in seinem Fall mit einer Herzchirurgin – hört danach aber nie wieder etwas voneinander. Und doch vergisst er sie nicht.

Haben Sie während Ihrer Forschung eigentlich auch den idealen Sitzplatz gefunden?

Schaefer: Der ist für jeden Menschen anders. Aber ich empfehle verliebten Paaren die Plätze ganz hinten, wo nur noch zwei Sitze sind statt drei. Menschen mit Flugangst sitzen am besten in der Exit Row über dem Flügel, da müssen sie nicht runtergucken. Und Menschen wie ich sitzen am besten weit hinten, da wird es grundsätzlich entspannter. In einer Boeing 747 nach New York traf ich ganz hinten vor den Toiletten eine Gruppe orthodoxer Juden, die hat dort in der kleinen Wartebucht gebetet. In diesem durchökonomisierten Raum, in dem jeder Winkel für irgendeine Nutzung vorgesehen ist, fanden sie eine kreative Lösung, um ihre Bedürfnisse durchzusetzen.

Sie haben auch den Hamburger Künstler Stefan Marx begleitet, wo saß der gern?

Schaefer: Stefan ist da nicht festgelegt. Am Gang kann er besser die Menschen in der Maschine zeichnen, am Fenster gibt er sich eher seinen Gedanken hin. Bei einem Rollstuhlfahrer, den ich begleitet habe, war klar, dass er am Fenster sitzen muss, das sind die Bestimmungen, damit er den Fluchtstrom am wenigsten behindert und so auch selbst geschützt ist.

Haben Sie herausgefunden, was hinter der generellen Reiselust der Menschen steckt?

Schaefer: Das kann man pauschal nicht beantworten: Eine Flugreise kann auch heute noch ein Statussymbol sein, dann macht Fliegen stolz, Fliegen ist aber auch eine Sehnsuchtstätigkeit, denn in jeder Reise steckt die Möglichkeit eines Neuanfangs – man lässt etwas Altes zurück und fliegt auf etwas zu, was man noch nicht kennt. Manche Menschen sind immer noch unheimlich aufgeregt, wenn sie fliegen, weil es so ungewohnt für sie ist. Oder sie müssen fliegen, weil der Partner so gerne im Urlaub in der Sonne liegt. Für wieder andere ist die Zeit zwischen Abheben und Ankommen ein Vakuum, in dem sie sich mit Musik und Filmen betäuben. Wir fliegen so unterschiedlich, wie wir leben!

Wie sieht die Zukunft der Passagiere aus?

Schaefer: Da geht die Schere an Verhaltensweisen weiter auseinander. Während Vielflieger immer ausgefeiltere Techniken entwickeln, verlieren Menschen ohne Smartphone-, Internet- und Englischkenntnisse den Anschluss. Die bräuchten eine „Airworld“, in der mehr erklärt wird, in der sie nicht alleingelassen werden.

Bei den meisten von uns hat das Fliegen aber bereits Spuren hinterlassen, oder?

Das Buch
„Zwischen
Departure und
Arrival“ ist im
Waxmann Verlag
erschienen.
ISBN 9783830936398
Das Buch „Zwischen Departure und Arrival“ ist im Waxmann Verlag erschienen. ISBN 9783830936398 © Waxmann Verlag

Schaefer: Ich glaube, dass allein der Perspektivwechsel, dieses von oben auf die Welt oder das Leben schauen, etwas mit uns macht. Und Fliegen verbindet und trennt gleichzeitig. Es erhöht den Druck und ist Stress. Es hilft aber auch, Übergänge zu bewältigen. In einer Stadt ist man Geschäftsfrau, in der anderen schon Mutter oder Urlauberin.

Für das Buch „Zwischen Departure und Arrival – eine Ethnografie des aeromobilen Unterwegsseins“ ist Kerstin Schaefer seit 2011 unterwegs gewesen. Die dazugehörige Dissertation hat sie 2015 mit der Bestnote summa cum laude an der Universität Zürich abgeschlossen. 296 Seiten, 29,90 Euro, Waxmann Verlag. Signierte Bücher gibt es unter: kerstin@hirnundwanst.de