Hamburg. Die Reeperbahn: Sie ist nur 930 Meter lang, aber weltbekannt – und sie ist ein Mythos, der sich gerade neu erfindet.

Sie gilt als die „sündigste Meile der Welt“. Eine „alte Gangsterbraut“, wie Udo Lindenberg einst sang. Andere hingegen beschreiben sie inzwischen als „Ballermann des Nordens“ oder „Party-Mekka“: Die Reeperbahn auf St. Pauli hat viele Namen – und viele Gesichter. Schrill und schillernd, frivol und bizarr, aber auch manchmal trostlos und abstoßend. Es ist diese Nähe der Extreme, die den Mythos Reeperbahn ausmacht und der dafür sorgt, dass jährlich rund 20 Millionen Besucher über die 930 Meter lange Straße zwischen Millerntorplatz und Nobistor strömen. Tendenz steigend und das, obwohl die Koketterie mit dem Image der „sündigen Meile“ immer mehr zu einer Farce verkommt.

Die Zeiten, in denen in Cabarets und Varietés leicht bekleidete Frauen im Schlammbecken ihre Ringkämpfe austrugen oder sich Männer beim Unterwäscheangeln vergnügten, sind seit Jahrzehnten vorbei. Peepshows, bei denen die Kunden durch ein schmales Guckfenster einen kurzen Blick auf nackte Haut erhaschen konnten, sind im Zeitalter digitaler Medien ebenso ein Relikt aus alten Tagen wie die wenigen Stripbars, die man inzwischen an einer Hand abzählen kann. Selbst die Zahl der Frauen, die in den Bordellen ihre sexuellen Dienste anbieten, ist über die Jahre von rund 1500 auf heute etwa 300 gesunken. Das Milieu wird zur Kulisse, vor der eine stetig wachsende Zahl von Gästeführern von ehemaligen Ludenbanden und verstorbenen Rotlichtgrößen erzählt.

Schlager statt Geschlechtsakt

Im Safari Bierdorf auf der Großen Freiheit, wo noch bis vor wenigen Jahren Darsteller als Biene Maja und Willi verkleidet den Geschlechtsakt auf offener Bühne vollzogen, schunkeln heute Schlagerfans mit einer Mass Bier oder einem Cocktail in der Hand zu den Klängen von Andrea Berg und Co. Mit Einbruch der Dunkelheit schallen die Bässe der benachbarten Clubs im scheinbaren Wettkampf auf die schmale Straße. Abgesehen von den wenigen Hinterhofbordellen und Adressen für erotische Show-Einlagen wie das Dollhouse oder Susis Showbar wird die Straße heute vor allem von Bars und Diskotheken dominiert – und natürlich von Olivia Jones.

Drei eigene Läden hat die gut zwei Meter große Dragqueen, die durch TV-Produktionen wie dem RTL-Dschungelcamp einem breiten Publikum bekannt wurde, in den vergangenen Jahren auf der Großen Freiheit eröffnet. Neben ihrem Stammhaus, der Olivia Jones Bar, nennt sie einen Show Club für Bour­lesque, Travestie und Comedy und eine Menstrip-Bar nur für Frauen ihr Eigen. Zählt man alle Mitarbeiter und die Tourguides ihrer Reeperbahn-Führungen zusammen, gehört Oliver Knöbel, wie der Künstler mit bürgerlichem Namen heißt, inzwischen zu den größten Arbeitgebern auf St. Pauli. Bekannte Milieugrößen, die früher mehrere Frauen für sich anschaffen ließen, klopfen heute an seine Tür und bitten um einen Job. Zeitenwandel auf St. Pauli.

Kiez sucht seine neue Identität

Der Kiez, wie die Hamburger ihr Vergnügungsviertel an der Elbe nennen, sucht angesichts dieser Veränderungen seine neue Identität. Über nichts streitet man auf St. Pauli so leidenschaftlich wie darüber, was der Kiez eigentlich ist oder in Zukunft sein soll. Während mancher vor dem drohenden Ausverkauf der Meile warnt, von „Karneval“ und „Disneyland“ spricht, verweisen andere darauf, dass dieser sensible Organismus namens Kiez sich immer wieder neu erfinde.

„Die Reeperbahn lebt vom Wandel, es kommt nur darauf an, diesen zu gestalten“, sagt auch Axel Strehlitz. Der Betreiber der Bar Sommersalon gehört zu den Gesellschaftern um Schmidt-Theater-Chef Corny Littmann, die eines der wohl außergewöhnlichsten Bauprojekte St. Paulis der vergangenen Jahre auf den Weg gebracht haben. Das Klubhaus zwischen dem Docks und dem Schmidt-Theater am Spielbudenplatz beeindruckt mit seiner 700 Quadratmeter großen LED-Fassade seit Herbst 2015 nicht nur Kiez-Flaneure, sondern auch Architekten auf der ganzen Welt.

Bierbänke so weit das Auge reicht: Auf dem Nachtmarkt am Spielbudenplatz ist mächtig was los
Bierbänke so weit das Auge reicht: Auf dem Nachtmarkt am Spielbudenplatz ist mächtig was los © HA | Marcelo Hernandez

„Mit dem Klubhaus bringen wir ein bisschen Broadway-Feeling auf den Kiez“, sagt Axel Strehlitz. Das Gebäude wolle bewusst ein optisch lautes Zeichen nach außen setzen. Mehr oder weniger laut geht es aber auch im Innern zu. Mit seinen insgesamt sechs Spielstätten vereint das Klubhaus so viel Club- und Livekultur unter einem Dach wie nirgendwo sonst in Hamburg. Von Soul und Rock bis hin zu elektronischen Klängen kommen Musikliebhaber in Bars und Clubs wie dem Kukuun voll auf ihre Kosten. Mit dem Theater Schmidtchen ist auch das jüngste Mitglied der Schmidt-Familie in dem neuen Unterhaltungstempel zu finden.

Zudem setzt das Klubhaus auf Spiele-Unterhaltung der Zukunft: Neben einer Lasertag-Arena, in der sich die Teilnehmer mit ungefährlichen Infrarot-Pistolen beschießen, oder einem Live-Escape-Room, den die Mitspieler nur verlassen können, indem sie Rätsel lösen, soll von Herbst an auch die neue „Udo Lindenberg Experience“ ihre Heimat am Spielbudenplatz finden. Mittels moderner Hightech-Inszenierungen soll dabei das Leben und Wirken des Panikrockers in all seinen Facetten dargestellt werden. „Das Klubhaus zeigt, wohin die Zukunft geht“, verspricht Strehlitz.

Gaga zeigt die Zukunft

Wie die Zukunft in Sachen Clubkultur auf dem Kiez aussehen könnte, zeigt auch das Gaga im fünften Stock des Gebäudes. Der mondäne Lifestyle-Club bietet von allem ein bisschen mehr, vor allem aber viel Glanz und Glam: Messing, dunkles Parkett, Dekor aus gebürstetem Metall, petrolfarbene Sitzecken. Das Gaga will alles andere sein als eine Teenie-Disco. Heißt: Hier feiert, wer seine ersten Party-Erfahrungen schon hinter sich hat. Gediegen soll es zugehen, aber alles andere als steif. Nach einem entspannten Abendessen verwandelt sich der Gourmet-Tempel im Laufe des Abends zur Tanzfläche. „Dinner and Dance“ heißt das Motto der Stunde.

Die Visionäre hinter dem Projekt sind erfahrene Kiezgastronomen: Claus Hock, Ramin Dibadj und Tim Becker haben mit ihren Clubkonzepten in den vergangenen Jahren der Reeperbahn ihren Stempel aufgedrückt. Das Gaga ist das neueste Mitglied der stetig wachsenden Club- und Bargemeinschaft, die Tim
Becker mit Mitstreitern in den vergangenen Jahren aufgebaut hat. Zuletzt mischte sein Team das Nachtleben auf dem Kiez mit der Eröffnung des noblen Szeneclubs Noho über den Dächern am Nobistor und der Wiedereröffnung der ehemaligen Zuhälter-Spelunke Chicago als moderne Electro-Bar ordentlich auf.

Spür­bares Qualitätsbewusstsein

Im neuen Klubhaus auf St. Pauli gibt es
auch Bars mit Aussicht auf die Reeperbahn
Im neuen Klubhaus auf St. Pauli gibt es auch Bars mit Aussicht auf die Reeperbahn © HA | Marcelo Hernandez

„Das Publikum hat ein spür­bares Qualitätsbewusstsein entwickelt und ist dementsprechend anspruchsvoller geworden“, sagt Becker. Daran müsse sich auch die Clublandschaft orientieren. „Du musst dich von der Masse abheben, weg vom Standard.“ Trotz einer rasant wachsenden Zahl von Kiosken, die ihren Billigschnaps zulasten vieler Gastronomen oftmals direkt zur Straße heraus verkaufen, stellt er auch eine positive Entwicklung auf dem Kiez fest. „Wir versuchen, die Gäste durch hochwertiges Interieur, experimentierfreudige DJs und ein insgesamt stimmiges Ambiente zu beeindrucken, und stellen fest, dass viele bereit sind, für einen grandiosen Abend auch zu bezahlen.“

Dass ein Teil der Besucher trotz der immer noch weit verbreiteten Billig-sauf-Mentalität durchaus bereit ist, Geld für einen besonderen Abend auszugeben, zeigt sich auch an der wachsenden Zahl der Restaurants und Bars rund um die Reeperbahn. Der wohl prominenteste Gastroneuling thront im 23. Stock der Tanzenden Türme am Eingang der Reeperbahn. Während man über den von Stararchitekt Hadi Teherani entworfenen Büro-Wolkenkratzer, hervorragend streiten kann, lässt die Qualität des Restaurants Clouds keine zwei Meinungen zu. Küchenchef Eric Kröber und sein Team geben täglich ihr Bestes, um ihre Gästen, unabhängig vom unvergleichlichen Panoramablick, den man an den Tischen genießt, ins Staunen zu versetzen.

Beliebter Großstadtdorfplatz

Bodenständiger, im doppelten Wortsinn, geht es am Fuß der Tanzenden Türme zu. Der Spielbudenplatz hat sich seit seiner Neugestaltung 2006 zu einem beliebten Großstadtdorfplatz mit Freiluftstammtisch entwickelt. Veranstaltungen wie der wöchentliche Nachtmarkt am Mittwoch oder die Street Food Session am Donnerstag locken jeweils Hunderte von Nachbarn und Touristen zum Schlemmen auf die Meile. An meterlangen Tafeln sitzt man bei Käseplatte, gereiftem Serrano-Schinken oder saftigem Wildschwein-Burger bis in den späten Abend hinein, während der Kiez um einen herum langsam zum Leben erwacht.

Doch nicht nur auf der Meile selbst herrscht in den Abendstunden reges Treiben. Während die Gewerbeflächen an der Reeperbahn meist nur für Fast-Food-Ketten erschwinglich sind, ziehen sich junge Existenzgründer vor allem in die Nebenstraßen zurück, in denen es eine steigende Zahl neuer köstlicher Geheimtipps zu entdecken gibt. Der Kiez erlebt auch dort derzeit einen Aufschwung der Gastronomie wie nie zuvor in seiner Geschichte. Mit der als Gentrifizierung bezeichneten Aufwertung hat sich auch die soziale Struktur des Stadtteils über die Jahre gewandelt mit der Folge, dass eine immer zahlungskräftigere Klientel die sanierten Altbauwohnungen oder neu gebauten Hinterhofquartiere bevölkert. Neue Nachbarn, die über das nötige Einkommen verfügen, um die wachsende Zahl kulinarischer Angebote wahrzunehmen.

Fair gehandelte Produkte

Die allgemeine gesellschaftliche Entwicklung hin zu gesunden, regionalen oder fair gehandelten Produkten macht dabei auch vor St. Pauli nicht halt. Fleisch soll aus artgerechter Tierhaltung stammen, Kaffee und Schokolade sollen fair gehandelt sein. Ansprüche, die viele der neuen Gastronomen zu erfüllen versuchen. Die Konzepte reichen dabei von liebevoll eingerichteten Cafés und Patisserien, über moderne Wein- und Cocktailbars bis hin zu international angehauchten Bis­tros und Restaurants. Um bei der wachsenden Vielfalt der Angebote überhaupt einen Überblick zu behalten, bieten verschiedene Anbieter inzwischen kulinarische Führungen durch das Viertel an.

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Manche der neuen Adressen sind sonst tatsächlich nur schwer zu finden und machen eher durch Mund-zu-Mund-Propaganda auf sich aufmerksam. So auch das „Alles Elbe“ an der Hein-Hoyer-Straße. Bei den Betreibern Jennifer Robinson-Schuré und Nigel Robinson ist der Name Programm: Alles, was hier auf die Teller beziehungsweise ins Glas kommt, stammt aus dem Elbeeinzugsgebiet zwischen Cuxhaven und Prag. Der Schwerpunkt liegt dabei auf Craft Beer, handwerklich von unabhängigen Brauern erzeugte Biere, die es mit dem deutschen Reinheitsgebot nicht mehr ganz so ernst nehmen. Vom Mexican
smoked Lager bis zum Hamburger Summer Ale haben die beiden fast alles in den Fässern und Flaschen.

Die Backwaren für ihre Brotzeiten beziehen die beiden Neugastronomen direkt aus der Nachbarschaft, der seit 1959 existierenden Familienbäckerei Rönnfeld. Ein Beispiel, das zeigt: Neu und Alt müssen sich auf St. Pauli nicht ausschließen, sondern gehen oftmals Hand in Hand.

24-Stunden-Kaschemmen und Designhotels

Trotz all des Umbruchs auf dem Kiez, dem in den vergangenen Jahren auch viele langjährige Institutionen zum Opfer gefallen sind, ist das, was viele das alte St. Pauli nennen, noch nicht verschwunden: 24-Stunden-Kaschemmen und glitzernde Designhotels, schmuddelige Sex-Kinos und traditionsreiche Theater, die Herbertstraße und die Heils­armee – sie alle existieren auf engstem Raum weitgehend friedlich neben­einander. Es ist dieses Aufeinandertreffen der Kontraste, das den Hamburger Kiez nach wie vor so einzigartig macht.

Oder um es mit Jan Delay zu sagen: „Auf St. Pauli brennt noch Licht. Da ist noch lange noch nicht Schicht.“