Hamburg. Vor 125 Jahren wütete in Hamburg eine Cholera-Epidemie. Ursache war die rückständige Versorgung mit Trinkwasser.
Mitte August 1892 schwirren Gerüchte durch das sommerlich warme Hamburg. Mehrere Menschen sollen plötzlich gestorben sein, nachdem sie nur kurz, aber schwer erkrankt waren. Am 18. August berichten Zeitungen erstmals von „choleraähnlichen Erkrankungen mit auffallend schnellem, tödlichem Ausgang“. Ein schwedischer Schiffszimmermann und ein Zigarrenarbeiter aus St. Pauli sind unter den ersten Opfern, auch ein Maurergeselle namens Sahling vom Alten Steinweg, der am 16. August noch gesund bei seiner Arbeit auf dem Kleinen Grasbrook erschienen war, dann plötzlich erkrankte und tags darauf starb.
Die Stadt hat Erfahrungen mit der Seuche: Bereits siebenmal hatte die Cholera Hamburg heimgesucht, darunter 1831, 1866 und 1873. Doch dass nun die letzte große Cholera-Epidemie Deutschlands bevorsteht, die Tausende das Leben kosten wird, kann niemand ahnen.
Reihenfolge nicht eindeutig rekonstruierbar
Ganz eindeutig lässt sich die Reihenfolge der Todesfälle nicht rekonstruieren, weil zum Beispiel Matrosen nach der Erkrankung Hamburg schon wieder verlassen haben. Auch dürften einige alte Leute in einfachen Wohngegenden nach nur oberflächlicher Untersuchung und Diagnosen wie „Auszehrung“ bestattet worden sein, ohne dass die Art ihrer Krankheit jemals erkannt wurde. Im Staatsarchiv sind noch heute gedruckte Namenslisten aus diesen Tagen erhalten. Eine Frau namens Gebauer aus der Mozartstraße 3 ist vermutlich das erste weibliche Opfer. „Nach typischem und stürmischem Krankheitsverlauf“ stirbt sie am 18. August – 28 Jahre alt.
Am 22. August wird der Ausbruch der Seuche endlich offiziell bestätigt, einen Tag später meldet eine Zeitung: „Die Cholera grassiert (…), daran ist kein Zweifel gestattet, und es wäre nicht nur thöricht, sondern direct schadenbringend, davor die Augen zu schließen.“ Am selben Tag steigt die Zahl der Erkrankten auf 640, die der Toten auf 239. In Hamburg bricht Panik aus. Wer das nötige Geld hat, verschwindet aus der Stadt oder bringt zumindest die nächsten Angehörigen auswärts unter.
Am 31. August setzt der Senat eine „Cholerakommission“ ein, die bei täglichen Beratungen die jeweils neuesten Maßnahmen beschließt. Schulen, Badeanstalten und Theater werden geschlossen, Versammlungen und „Tanzlustbarkeiten“ verboten. In den Straßen verteilt man Handzettel mit „Verhaltungsgesetzen“, Anschläge an Hauswänden informieren über „Schutzmaßregeln“.
Der weltberühmte Seuchenexperte Robert Koch reist aus Berlin an, um sich ein Bild vor Ort zu machen. Sein Satz, ausgesprochen nach Besichtigung der Wohnverhältnisse in den Hamburger Gängevierteln, ist mittlerweile Legende: „Ich vergesse, dass ich mich in Europa befinde.“ Das Leitungswasser bezeichnet er als „giftig und verpestet“, der Direktor des Eppendorfer Krankenhauses, Prof. Theodor Rumpf, nennt die Trinkwasserversorgung in der Stadt „eine vorsintflutliche Schweinerei“.
Flusswasser war warm, ideal für Bakterien
Hamburger Wasser wird damals noch größtenteils der Elbe entnommen. Die Entnahmestelle Höhe Rothenburgsort ist bei Flut immer wieder mit verschmutztem Sielwasser kontaminiert, während die Fäkalien von Matrosen und Hafenarbeitern „direkt“ im Fluss landen.
Die „Stadtwasserkunst“ pumpt das mit einfachen Mitteln geklärte Wasser ungefiltert in die Haushalte, wo es in verzinkten Behältern lagert – oft angereichert mit kleinen Fischen, Insektenlarven und sonstigem Getier. Das schon lange geplante zentrale Sand-Filtrierwerk ist seit 1891 im Bau, aber die Stadtväter hatten sich (zu viel) Zeit gelassen, um die Staatskasse nicht übermäßig zu strapazieren. Diese Nachlässigkeit wurde danach massiv kritisiert, allerdings ächzte die Stadt auch unter den enormen Kosten, die der Zollanschluss mit der Umsiedelung Tausender und dem Bau der Speicherstadt verursacht hatte.
Totengräber im Dauereinsatz
Der Pegel der Elbe ist im heißen Sommer 1892 niedrig, das Flusswasser ruhig und ungewöhnlich warm. Am 24. August, das als Beispiel, werden 30,8 Grad Lufttemperatur gemessen – ideale Lebensbedingungen für das todbringende Bakterium Vibrio cholerae.
Nach wenigen Tagen sind Sanitäter, Desinfektionskolonnen mit Chlorkalk und Totengräber rund um die Uhr im Dauereinsatz. Die Stadt setzt 165 freiwillige Helfer für die Leichentransporte ein. Möbelwagen und hastig umgebaute Kutschen ergänzen die Leichenwagen. Was sich bei den später kolportierten Berichten oft nur zwischen den Zeilen lesen lässt: Um munter zu bleiben und das Grauen, vor allem in Hamburgs Elendsvierteln, besser ertragen zu können, putschen sich die meisten Helfer mit Alkohol und anderen Drogen auf. Drastische Worte findet der Dichter Detlev von Liliencron in einem Brief: „Da geh ich so durch die Straßen bei Tag oder Nacht: Geschrei (der Sterbenden, der Hinterbliebenen), die Polizei (Sanitäts-) Beamten alle besoffen, roh; der Kadaver oder noch Lebende (…) wird aus den Häusern herausgerissen, Geheul (…).“
Einreiseverbote für Hamburger
Um diejenigen, die alleine zurückbleiben, darunter Hunderte Waisenkinder, kümmern sich staatliche Stellen, wobei der für heutiges Verständnis rabiate Umgang mit diesen Opfern und der übertrieben harte Ton bestürzend sind. Die erhalten gebliebenen amtlichen Schreiben und die wichtigtuerischen Anordnungen der vielen „Hilfscomitees“ zeigen: Die Angst vor Schwindeleien der Zuwendungsempfänger ist oft deutlich ausgeprägter als die Anteilnahme.
Die Stadt stellt 30 Rollwagen mit abgekochtem Wasser bereit, das in den Straßen verteilt wird, auch die 68 stadteigenen Sprengwagen liefern das kostbare Nass. Im Volksmund macht dazu der plattdeutsche Schnack die Runde: „Kokt Woter von Senotor“. 155 Flach- und vier Tiefbrunnen werden binnen weniger Wochen gegraben, allerdings sind längst nicht alle dauerhaft nutzbar.
Welle der Hilfsbereitschaft
Eine Welle der Hilfsbereitschaft erreicht Hamburg: Neben Nahrungsmitteln, Kohlen, Kleidung und Bettzeug gehen bei dem zuständigen „Exekutivausschuss“ mehr als 3,4 Millionen Goldmark ein. Hamburger Familien spenden rund 1,27 Millionen Reichsmark, auch aus den USA, Australien und Afrika trifft viel Geld ein. Doch Hamburgs Handel nimmt schweren Schaden, weil die Elbe wochenlang gesperrt ist. Viele Länder, darunter England, Schweden und die Niederlande, verbieten Hamburgern die Einreise, andere Länder verfügen lange Quarantänezeiten.
Im Inland sieht es nicht viel besser aus: Wer aus der Stadt geflüchtet ist, stößt im Umland und in Städten wie Bremen oder Göttingen auf Misstrauen, Angst – und verschlossene Türen. Obst und Gemüse aus Hamburg lassen sich trotz niedrigster Preise kaum verkaufen.
Ende September ebbt die Seuche langsam ab. Die letzten Erkrankungen werden am 2. Oktober gemeldet, am 16. November erklärt man Hamburg offiziell für seuchenfrei. Die erschütternde Bilanz: Von 16.596 Erkrankten stirbt fast genau die Hälfte – 8605 Menschen.