Hamburg. Im Falle dieses Chors geht ein wenig Warmtrinken gepflegt einher mit der Lockerung von Stimmbändern und Zwerchfellen.

Fei­erabend. Auf an die Bar. Ein Bierchen. Eine Weinschorle. Ein großes Hallo. Und dann singen. Singen? Ja. Genauer gesagt: erst mal einsingen. Also vokales Vorglühen.

Im Falle des Hamburger Kneipenchors geht ein wenig Warm- und vielleicht sogar Schöntrinken gepflegt einher mit der Lockerung von Stimmbändern und Zwerchfellen. Während die Spieler auf dem Fußballplatz im Schanzenpark an diesem Dienstagabend in der Sonne dribbeln und kicken, trainieren im benachbarten Clubheim rund 30 Leute um die 30 Atmen und Artikulation. Sie tragen Jeans und Sommerkleider, Ringel- und Bandshirts, Turnschuhe und Tattoos, zudem das ein oder andere Kaltgetränk lässig in der Hand. Kein Dresscode, kein steifes Aufreihen.

„Erst mal mehr so als Schnapsidee“

„Ahhh“ und „brrrr“ und „pffff“ tönt es durch den kleinen Saal, unter dessen holzvertäfelter Decke eine Discokugel auf Party wartet. „Jetzt pustet eure Lippen aus“, ruft Chorleiter Arne Straube in die Runde – ein junger Typ, dessen Gerade-aufgestanden-Look täuscht angesichts der Euphorie, mit der er die Sängerinnen und Sänger ­motiviert. Eine lockere, nicht schulmeisterliche Euphorie, wohl gemerkt. Denn genau darum ging es Hilke Cordes, als sie vor gut vier Jahren den Hamburger Kneipenchor gründete.

„Ich habe schon immer gesungen, im Kinderchor und in der Kantorei“, erzählt die 33-Jährige, die hauptberuflich in der Unternehmenskommunikation arbeitet. Aber damals wollte keiner der Chöre in der Stadt so recht zu ihr passen. Zu traditionell, zu klassisch, zu einheitlich, kein wirklich zündendes Repertoire. „Ich wollte ein Hobby haben, bei dem ich Freunde treffen, ein Bier trinken und zugleich ambitioniert mehrstimmig singen kann“, erzählt Cordes. Also startete sie „erst mal mehr so als Schnapsidee“ einen Aufruf unter Freunden und Bekannten auf Facebook.

„Das ist sofort eingeschlagen wie eine Bombe“, erinnert sich Cordes. Und mit Christian Sondermann war auch bald ein engagierter wie entspannter Chorleiter gefunden, der seinen Job als Kneipenchordirigent wegen anderer beruflicher Projekte jedoch vor Kurzem abgeben musste. Den Neuen, Arne Straube, ermittelten die tresen-affinen Hobbysänger in einem Casting. Straube überzeugte mit einem Chor-Arrangement des Miley-Cyrus-Hits „Wrecking Ball“. Ein impulsives Popstück mit hohem Ohrwurmfaktor, das auch bei der aktuellen Probe auf dem Plan steht.

„All I Wanted Was To Break Your Walls“. Mit den Notenblättern in der Hand werfen sich Sopran, Alt, Tenor und Bass inbrünstig singend in den Song. Straube schmeißt unterdessen die Arme hoch und nach vorne, um die emotionale Botschaft der Lyrik voll und ganz aus der Gruppe herauszuholen. Denn schließlich erzählt die Nummer von einem Menschen, der wie eine Abrissbirne in das Leben eines anderen kracht. Im Vergleich zum Original ist die Hamburger Kneipenchor-Version weniger glatt poliert und besitzt eine charmante Portion Rock-‘n‘-Roll-Rumpeligkeit. Schöner die Biere nie klingen.

Im Winter mit Heizlüfter zwischen alten Sofas

„Jetzt üben wir noch einmal den Übergang vom Refrain zur zweiten Strophe“, instruiert Straube. Von seinem E-Piano aus, das improvisiert auf einem rustikalen Holztisch ruht, gibt er den einzelnen Stimmen ihre Töne vor. Während die Männer aus dem Tenor ihre Lage austesten, tanzen die Frauen aus dem Sopran hinter ihnen und schwenken mit Pathos die Arme. Ein wenig Frotzelei muss sein. Man kennt sich. Und mag sich.

„Viele sind bereits seit der ersten Probe dabei“, erzählt Cordes. Anfangs traf sich das Kollektiv im Kolbenhof in Bahrenfeld und sang im Winter mit Heizlüfter zwischen alten Sofas. Nach dem Haus 73 auf dem Schulterblatt und dem Künstlerhaus Frappant in der Viktoriakaserne ist die Probe nun seit diesem Jahr im Clubheim im Schanzenpark beheimatet. Immer dienstags schmettern sich dann Lehrer, Ärzte, Juristen, Medienleute und Studenten durch ein Programm „von Trash bis Indie-Rock“, wie Cordes es formuliert. „Never Gonna Give You Up“ von Rick Astley erklingt dann ebenso in der schmissig-hanseatischen Thekenversion wie Queens „Don’t Stop Me Now“, „God Knows“ von Mando Diao, „Bologna“ von Wanda, „I Want It That Way“ von den Backstreet Boys und ­sogar „Verdammt Ich Lieb Dich“ von Matthias Reim.

Mittlerweile als Verein organisiert

„Anfangs dachte ich ,oh nein!‘, aber jetzt ist das einer unserer Kracher“, sagt Cordes über den Schlager. „Augenzwinkern mit Anspruch“ nennt sie das. Mittlerweile ist der Kneipenchor, so viel Ordnung muss dann doch sein, als Verein organisiert, der wegen der wachsenden Nachfrage derzeit keine neuen Mitglieder aufnimmt. Doch der beglückend unverstellte Sound macht nicht nur den Akteuren Laune, sondern definitiv auch den Zuhörer.

Eine erste kleine Fangemeinde ­ersang sich die Runde mit – was sonst – Kneipentouren, wo sie Pinte um Pinte diverse Ständchen bescherte. Ein Schnaps und weiter ging’s. Kaschemmen und Clubs wie Freundlich + Kompetent, Washington Bar, Molotow, Meanie Bar, Hasenschaukel und Uebel & Gefährlich wurden bereits beschallt.

Highlight war der Knust-Geburtstag 2016

„Ein Highlight war für uns der Knust-Geburtstag 2016 auf dem Lattenplatz, wo wir vor Kettcar aufgetreten sind“, erzählt Cordes. Der Chor als Popstar. Der zunehmend gefragt ist.

„Hochzeiten und Werbeanfragen haben wir bisher abgelehnt“, erklärt Cordes. Wo sie aber gerne wieder zugesagt haben, ist das Festival A Summer’s Tale bei Lüneburg. „Trotz sensationell schlechten Wetters haben wir da im vergangenen Jahr auf der Wiese Stimmung gemacht“, erzählt Cordes. Und an diesem Wochenende, bei der dritten Ausgabe des Open Airs, tritt mit Franz Ferdinand auch eine Rockband auf, von der die Gruppe einen Song im Repertoire hat.

„Den müssen wir auf jeden Fall singen“, sagt Arne Straube bei der Probe. Und bevor er dann die knackige Nummer „The Dark Of The Matinee“ anstimmt, gibt er noch den Tipp: „Bringt das auf so ‘ne coole, nonchalante Art rüber.“ Für den Hamburger Kneipenchor kein Problem. Und letztlich ist ein guter Song ja auch schneller gesungen als ein Bier gezapft.

A Summer’s Tale Festival Mi 2.8.–Sa 5.8., Eventpark Luhmühlen, Westergellerser Heide (Bus-Shuttle ab Bhf. Lüneburg), Tagesticket ab 47,- (bis 14 J.) bzw. 74,- (Erw. ohne Camping), Kombi-Ticket Mi–Sa ab 90,- (bis 14 J.) bzw. ab 179,- (Erw. mit Camping), weitere Preiskategorien und Infos: asummerstale.de