Hamburg. Zwei Abiturienten starten in Hamburg zu einem Rekordpraktikum. Knapp 4000 Lehrstellen sind immer noch unbesetzt.
Oben auf dem Dach haben Charlotte und Marvin am Dienstag schon gezeigt, was sie können: neue Dachpfannen rund um eine Gaube zu verlegen. Es ist für die beiden Schulabgänger ihr erster Praktikumstag bei dem Hamburger Dachdeckerbetrieb Isohaus Bedachungen. Viel Zeit bleibt ihnen nicht mehr.
Am heutigen Mittwoch lernen sie noch Blecharbeiten kennen, denn die Gauben werden mit Kupferblech verkleidet. Dann ist das Praktikum auch schon vorbei, und es geht in den nächsten Betrieb – zum nächsten Beruf. Die beiden Abiturienten Charlotte Stanke und Marvin Möller absolvieren ein bisher einmaliges Experiment. „Wir lernen bis Ende des Jahres 44 Berufe des Handwerks quer durch die Bundesrepublik kennen“, sagt Charlotte.
Ein Drittel aller Handwerksberufe kennenlernen
Über soziale Medien wie Facebook und Instagram werden sie von ihren Erfahrungen berichten und sollen so andere junge Leute auf die vielen Berufe im Handwerk aufmerksam machen. Immerhin können die beiden mit dem Rekordpraktikum ein Drittel aller Handwerksberufe kennenlernen. Initiiert wurde die Aktion vom Zentralverband des Deutschen Handwerks. „Um Auszubildende zu gewinnen, müssen wir ungewöhnliche Wege gehen, mit denen wir die Jugendlichen direkt erreichen und das sind vor allem die sozialen Medien“, sagt Miriam Köhler vom Zentralverband des Deutschen Handwerks.
Am Dienstag hat ein neues Ausbildungsjahr begonnen. Doch in Hamburg blieben viele Lehrstellen unbesetzt. „3855 Ausbildungsplätze sind insgesamt noch zu vergeben“, sagt Sönke Fock, Chef der Arbeitsagentur Hamburg. Und 3756 Heranwachsende suchen noch nach der passenden Ausbildung. Jeder könnte also noch eine Lehrstelle finden – denn ein Einstieg in die laufende Ausbildung ist noch bis in den Oktober hinein möglich.
Die meisten freien Ausbildungsplätze bietet der Einzelhandel: 510 Kaufleute und 359 Verkäuferinnen können dort noch eine Lehre beginnen. Anders sieht es bei der Drogeriekette Budnikowsky aus. „Wir bilden in sechs verschiedenen Berufen aus und konnten alle 33 Ausbildungsplätze besetzen“, sagt eine Unternehmenssprecherin. Unter den Auszubildenden sind auch zwei Abiturienten, die gleich in zwei Berufen ausgebildet und für Führungsaufgaben vorbereitet werden.
Im Hamburger Handwerk sind noch 500 Lehrstellen unbesetzt. Obwohl die Betriebe bereits mit 1661 jungen Menschen Ausbildungsverträge abgeschlossen haben – das sind knapp zehn Prozent mehr als im Vorjahr. Jeder dritte ältere Schüler weiß aber noch nicht, was er nach dem Schulabschluss machen will. Das gilt vor allem für Abiturienten, die nach der Zeugnisübergabe oft nicht gleich an eine Universität wechseln wollen.
Abstand zur Theorie
Auch Charlotte und Marvin suchen erst einmal Abstand zur Theorie. „Ohne diese Aktion wäre ich für ein Jahr ins Ausland gegangen, um mich dort in verschiedenen Jobs auszuprobieren“, sagt der 18-Jährige Marvin aus Fuhlsbüttel. Gerade weil das für viele Abiturienten auf der Hand liegt, findet Charlotte die Erkundung des eigenen Landes über Handwerksbetriebe sehr reizvoll. „Meine Eltern und meine Freunde sind schon sehr gespannt“, sagt sie.
Nach der Hamburger Station geht es nach Oststeinbek zu einem Ofenbauer. Erst zum Ende der jeweiligen Praktikumswoche erfahren sie, wo sie die Woche darauf arbeiten. Charlotte hofft, dass sie auch den Beruf eines Sattlers kennenlernen kann, weil sie sich in ihrer Freizeit dem Reitsport verschrieben hat. Mit einem typischen Handwerks-Transporter, den die Aufschrift „Die Rekord-Praktikanten“ ziert, fahren beide von Station zu Station.
Zwei Voraussetzungen
Von Schleswig-Holstein geht es weiter nach Nordrhein-Westfalen und dann in die neuen Bundesländer. Die letzten Praktikumsstationen sind in Bayern. „Die Resonanz der Betriebe, bei dieser Aktion mitzumachen, war groß“, sagt Köhler. Denn sie können so für eine Ausbildung in ihren Firmen werben. „Für das Rekordpraktikum haben wir Berufe aus vielen Bereichen des Handwerks zusammengestellt“, so Köhler. „Es sind künstlerische, technische und seltene Handwerksberufe.“
Charlotte und Marvin haben sich unter mehreren Dutzend Bewerbern für die Aktion qualifiziert. Zwei Voraussetzungen waren Offenheit und Unentschlossenheit bei der Berufswahl. Ein Umstand, der immer mehr jungen Leuten zu schaffen macht. „Gerade weil es so viele Möglichkeiten gibt, fällt die Entscheidung so schwer“, sagt Marvin. „Ich will auf jeden Fall zunächst etwas Praktisches machen.“
Firmen finden Azubis über Facebook
Aber er hat auch schon am ersten Tag gemerkt, wie anstrengend die körperliche Arbeit auf dem Dach ist. Ob danach aber beide wirklich eine Karriere im Handwerk machen oder doch studieren wollen, ist noch völlig offen. Nur 20 Prozent der Auszubildenden im Hamburger Handwerk sind Abiturienten.
Isohaus-Chef Matthias Alms musste nicht lange überlegen, um bei der Aktion mitzumachen. Das Konzept gefällt ihm. „Wir finden unsere Azubis schon länger über Facebook und haben mehr Bewerber als Plätze“, sagt er. Erst jüngst hat er zwei neue Lehrlinge eingestellt.
Verfolgt werden kann die Aktion im Internet unter www.handwerk.de/rekordpraktikanten.