Hamburg . Horst Huhn und Josef Thöne blasen seit 25 Jahren Choräle in alle vier Himmelsrichtungen. Nur einmal musste das alte Ritual ausfallen.

Zweimal täglich liegt ihnen die Stadt, aus deren Häusermeer sich ihre Wahrzeichen erheben, zu Füßen: im Osten das Rathaus, im Süden die Elbphilharmonie, im Westen die Tanzenden Türme und im Norden der Fernsehturm. Ein spektakulärer Anblick, über den sich immer wieder der Klang der Choräle legt, die die Michel-Türmer Horst Huhn und Josef Thöne morgens und abends in alle Himmelsrichtungen blasen.

Vor 25 Jahren haben sie beide den Job angetreten, den sie sich seitdem teilen. Dass sie heute gemeinsam auf dem Türmer-Boden des Michels stehen, 80 Meter und 279 Stufen hoch, ist eine Premiere – und gleichzeitig eine Generalprobe für den Jubiläumstag. Am 1. August werden sie nämlich zum ersten Mal gemeinsam oben vom Türmerboden blasen – und zwar die Hymne „O dass ich 1000 Zungen hätte“. Die hatten sie auch bei ihrem ersten Auftritt 1992 gemeinsam gespielt, doch an unterschiedlichen Orten: Thöne oben auf der Aussichtsplattform und Huhn unten vor dem Kirchenportal mit einem Bläserchor.

Die Musiker haben vieles gemeinsam

Seitdem richten die beiden Musiker ihren Alltag nach den Zeiten, zu denen seit mehr als 300 Jahren der Turmtüter vom Michel bläst: morgens um 10 Uhr, abends um 21 Uhr – und an Sonn- und Feiertagen um 12 Uhr. Beide haben Glück. Sowohl die Lebensgefährtin von Josef Thöne (57) als auch die Familie von Horst Huhn (61) akzeptieren das strikte Reglement. Huhns 28-jähriger Sohn Florens springt sogar regelmäßig für seinen Vater ein, wenn dieser verhindert ist.

Ihr Job ist aber bei Weitem nicht das Einzige, das die Michel-Türmer gemeinsam haben. Beide waren früher als Konzertmusiker auf Tournee und geben jetzt Trompetenunterricht: Huhn am Kaifu-Gymnasium, Thöne an der Staatlichen Jugendmusikschule. Huhn gründete am Michel 1992 das Blechbläser-Ensemble, Thöne leitet dort seit 1995 den Posaunenchor. Beide kennen sich vom Musikstudium und haben schon bei ihrem Vorgänger, dem Michel-Türmer Hans-Heinrich Fiedler, ausgeholfen. Zufällig wohnen sie heute beide im Schanzenviertel, früher haben die zwei zu Füßen des Michels gewohnt: Thöne zog als Student an die Englische Planke, Huhn ist dort aufgewachsen. „Als ich zwei Jahre alt war, floh meine Familie aus der DDR und zog in eine kleine Wohnung gegenüber dem Michel“, erzählt er. So sei das tägliche Spiel des Michel-Türmers schon als Kind ein fester Bestandteil seines Tages gewesen.

Alte Tradition

Das sogenannte Turmtüten ist an der Hauptkirche St. Michaelis eine mehr als 300 Jahre alte Tradition – schon die erste, 1661 eingeweihte Große Michaeliskirche hatte einen Türmer. „Die Choräle waren früher unter anderem für das Öffnen und Schließen der Stadttore wichtig und sind noch heute für viele eine Art Zeitansage“, sagt Huhn. Auch für das Familienleben: Wie er damals von seiner Mutter würden heute noch viele Kinder in der Neustadt ermahnt, sich spätestens nach dem abendlichen Choral auf den Heimweg zu begeben.

Die Ausrede, der Michel-Türmer habe nicht geblasen, lassen die Eltern bei Verspätungen wohl kaum gelten. Denn der Choral ist in den letzten 25 Jahren nur ein einziges Mal ausgefallen. Das war, als Horst Huhn auf dem Weg zur Kirche vom Fahrrad gestürzt war und sich die Hand gebrochen hatte. „Da war es zu spät, für Ersatz zu sorgen“, erinnert er sich. Ansonsten haben die beiden Türmer bei Widrigkeiten immer einen Ausweg gefunden: Zu Beginn ihrer Amtszeit, als der Türmerboden saniert wurde, spielten sie auf der Aussichtsplattform. Mitte der 90er-Jahre, als Horst Huhn – noch ohne Handy – einmal im Stau steckte, bat er Thöne vom Mobiltelefon der Autofahrerin neben ihm, einzuspringen. Einmal allerdings, erinnert sich Josef Thöne, habe er einen Choral abbrechen müssen. „Bei eisiger Kälte war die Trompete eingefroren.“

Mit Handschuhen spielen

Tatsächlich sei es im Winter oft so bitterkalt auf dem Türmerboden, dass man nur mit Handschuhe spielen könne. Generell mache Sturm einem Bläser aber schlimmer zu schaffen als Kälte. „Da muss man dann kräftig gegenhalten.“ Dennoch sind sich die Michel-Türmer einig: Die schönen Momente überwiegen die weniger schönen deutlich. Besonders an lauen Sommerabenden, wenn die Sonne untergehe. Oder wenn Schnee liege und die Klänge ihrer Trompeten so schön dämpfe.

Ihre alten Weisen wählen die beiden Michel-Türmer passend zum Kirchenjahr aus. Jede spielen sie einmal pro Fenster – ein zweiminütiger Choral ist also fast zehn Minuten lang zu hören. Weil jede evangelische Kirche nach Osten ausgerichtet ist, beginnen sie mit dieser Himmelsrichtung.

Nur im Michel spielen die Türmer täglich

Türmer gibt es an Kirchen in ganz Deutschland. Doch die des Michel seien die einzigen, die jeden Tag spielten, sagt Michael Kutz, Geschäftsführer der Michel-Stiftung. Wenngleich das Ritual schon in etlichen Reiseführern erwähnt werde: in erster Linie solle es „ein täglicher Segen für die Stadt sein“, eine Unterbrechung des Alltags. „Viele Menschen in der Umgebung“, so Kutz, „halten dann kurz inne und hören zu.“

Für Horst Huhn und Josef Thöne ist es immer noch etwas Besonderes, das zu beobachten – weit unter ihnen auf der Straße oder an den Fenstern der vielen Gebäude, die sie im Laufe der Zeit haben emporwachsen sehen: dem Gruner+Jahr-Verlagshaus am Baumwall, den Wohnhäusern am Herrengraben oder der Elbphilharmonie.