Hamburg. Mit John Neumeiers Choreografie nach Tolstois großem Roman eröffnen in der Staatsoper die 43. Hamburger Ballett-Tage.
Bis heute dekorieren sich mächtige Männer gern mit schönen, viel jüngeren Frauen. Das mag auch den hohen Beamten Karenin (getanzt von Ivan Urban) dazu bewogen haben, die weit jüngere Anna (Anna Laudere) zu heiraten, deren Gefühle dabei keine Rolle spielten. Alsbald fügt sie sich in ihre Pflichten als Politiker-Gattin. Aus dieser Ausgangssituation entwickelte John Neumeier sein neues Ballett „Anna Karenina“, das am Sonntag an der Staatsoper als Auftakt der 43. Hamburger Ballett-Tage uraufgeführt wurde. Die musikalische Leitung lag bei Simon Hewett, der das philharmonische Staatsorchester anfangs noch etwas schwerfällig, dann aber souverän und sensibel durch die seelenvolle Tschaikowsky-Musik und die zerklüfteten Klanglandschaften Alfred Schnittkes führte.
Den Grundzügen des Romans bleibt der Choreograf tiefer verbunden, als er noch während einer Probe angekündigt hatte. Ins Zentrum rückt Neumeier vier Paare, die zum Teil Ehepaare sind oder werden. Er erzählt von Sehnsüchten und Verlangen, von Herzenswärme und Gefühlskälte, Freiheit und Zwang. Und er skizziert eine starre Gesellschaft, die an der alten Ordnung festhält, während sie schon voller Brüche ist.
Karenin ordnet sein Leben seiner Politikerkarriere unter
Mit einer Wahlkampfveranstaltung steigt Neumeier in die Geschichte ein: Tolstoi zeichnet Karenin als „kalten Verstandesmenschen“, der nur eine Schwäche hat: „Er kann Frauen und Kinder nicht weinen sehen.“ Ansonsten ordnet er sein Leben seiner Politikerkarriere unter, auch, als Anna noch seine Nähe sucht. Mit seiner gefühlvollen Frau kann er letztlich nichts anfangen.
Ein wahrlich geniales Bühnenbild hat Neumeier durch drei dreh- und verschiebbare Wandelemente mit zwei Türen geschaffen: Auf diese Weise geht stets eine Szene flüssig in die nächste über. Er nutzt die technischen Möglichkeiten außerdem dazu, die Ebenen des Romans wie auf einem kubistischen Gemälde ineinander zu treiben: Vorkommnisse in der Realität werden – ausgeklügelt beleuchtet – durchbrochen von dem, was sich im Unterbewusstsein, in den Träumen und Gedanken der Figuren abspielt. Das ist großartig. Und es entspricht der Wahrheit, denn während Menschen das eine tun, spielt sich in ihren Gedanken häufig etwas anderes ab.
Abgezirkelte Bewegungen
Bei Neumeier steckt Karenin mit abgezirkelten Bewegungen im Korsett seines Amtes fest. Seine Familie inszeniert er wie Statisten für eine Show, seinen Sohn Serjoscha (zart getanzt von Marià Huguet) nimmt Karenin, der anfangs in einem dunkelblauen Anzug nach Art des französischen Präsidenten Macron steckt, kaum wahr. Das zweite Paar ist Anna Kareninas Bruder Stiwa und dessen Frau Dolly. Dario Franconi tanzt Stiwa als Hallodri, der ständig fremdgeht. Patricia Friza ist in ihrer Rolle als wütende, dann verzeihende, meist leidende Gattin und Mutter ein kraftvoller Mittelpunkt auf der Bühne. Ihre Beine benutzt sie als Waffe gegen den in flagranti Erwischten, der sie, die ihren gepackten Koffer ergreift, eisern festhält und am Ende ins Ehebett verpflanzt, auf das die fünf Kinder gekrochen sind.
Der Landmensch Lewin, den Aleix Martinez überzeugend und berührend tanzt, ist dagegen ein gerader Mann. Aufrichtig folgt er seinem Herzen, bringt Kitty zum Lachen und besucht sie, die ihn erst verschmäht, später im Sanatorium. Vorsichtig und zärtlich nähert er sich an sie an und heiratet sie schließlich. Die Rolle der Kitty hat Neumeier mit der sehr jungen, technisch noch nicht gereiften Tänzerin Emilie Mazon besetzt. Sie verkörpert so die Unerfahrenheit und Unschuld der offenen, gar nicht raffinierten Kitty. Wie alle Frauen außer Anna tut sie laut Tolstoi zunächst, „was man von ihr verlangt“.
Unfreiwillig komische Züge
Lewin ist ein Visionär, der mit der Natur und den Bauern auf seinem Gut verbunden ist, das er demnächst genossenschaftlich zu reformieren gedenkt. An dieser Stelle riskiert John Neumeier einen harten Bruch, indem er Lewin mit Cat Stevens’ kitschigem Song „Morning Has Broken“ begleitet. Das ist nicht ironisch gemeint, weil Neumeier – wie er in einer Probe erläutert hat – findet, dass Cat Stevens und Lewin einiges gemeinsam haben. Der Morgen einer neuen Gesellschaft ist für den Landadeligen bereits angebrochen. Er fügt sich im Gegenlicht in die Reihen der Schnitter ein, weil er künftig mit den Bauern teilen will.
Ähnlich wie der sehr religiöse Cat Stevens sei Lewin ein Gottsucher, betont der Choreograf. Die Szene, die mit Kitty und ihrem Baby auf dem (sehr real wirkenden) Traktor endet, hat dennoch unfreiwillig komische Züge.
So öffnet sich die Bühne wieder für die Liebenden Anna und Graf Wronski (Edvin Revazov), deren Zigaretten-Flirt in einen Balz-Tanz übergeht, harmonisch fließen die Bewegungen. Das Zweisame und das Einssein probieren sie und halten sich an den Händen. Vorn an der Rampe fährt derweil Serjoschas Spielzeug-Zug vorbei. Neumeier überträgt damit Tolstois Unheil kündende Zug-Metapher vom Romananfang in die Choreografie. Zusätzlich schafft er mit dem unglücklich überrollten Bahnwärter aus dem Buch (intensiv: Karen Azatyan) eine Figur, die in orangefarbenen Arbeiterhosen den Tod verkörpert und fortan das Leben von Anna durchkreuzt.
Das Bühnenbild wankt, die Welt gerät aus den Fugen
Glückliche Stunden, aber bereits mit beginnendem Rückzug Annas, verleben die beiden in Italien. Anna Laudere und der hingebungsvolle Edvin Revazov tanzen leichtfüßige, verführerische Pas de deux, doch Neumeier setzt sie bereits an die Enden eines überlangen Tisches. Wo Schnittke einen Wirbelsturm komponiert, da geht das Getändel von Anna und Wronski in Flucht und Kampf, Hingabe und Anbetung über. Die tiefste Beziehung behält Anna aber wohl zu ihrem Sohn Serjoscha, und da hat auch Anna Laudere ihre tiefsten Momente. Da wird sie zur zerrissenen Frau, der die Trennung von ihrem Kind schwer auf der Seele lastet. Als sie sich zu dem traurigen Serjoscha geschlichen hat, umarmt sie ihn überglücklich. Doch bald lässt Karenin, der schwer Gebeutelte, sie auch schon wieder hinauswerfen.
Annas Ende ist nah, die feine Operngesellschaft ringsum beginnt eine Danse Macabre, Neumeier lässt sein Bühnenbild wanken, die Welt gerät aus den Fugen. Und beinahe unbemerkt geht ein Mensch unter, den diese Gesellschaft bewusst aussortiert hat, weil er die Regeln brach: Anna Karenina, die Frau, die ohne Kompromisse ihrem Herzen gefolgt und daran zerbrochen ist. Stürmischer Applaus und Ovationen am Ende.
Noch Karten erhältlich
Für folgende Vorstellungen im Rahmen der Hamburger Ballett-Tage, die John Neumeiers „Russische Spielzeit“ beenden, sind noch Karten zu Preisen von zehn bis 119 Euro unter Tel. 35 68 68 oder im Internet unter
hamburgballett.de erhältlich:
5.7. Die kleine
Meerjungfrau
6.7. Nijinsky
7.7. Peer Gynt
8.7. Turangalîla (nur noch wenige Karten) 9.7. Tatjana
11./12.7. National Ballet of China: Sechs Ballette chinesischer Choreografen
13.7. Die Möwe
Zum Festival ist ein großformatiges, 216 Seiten starkes Programmbuch mit vielen Fotos und Tänzerporträts erschienen. Es kostet 15 Euro.