Hamburg. Der Experte Jens Schade spricht mit dem Abendblatt über den Krieg auf der Straße, Egomanie und Wege aus der Streitfalle.

Die Mehrheit der Hamburger erlebt laut neuesten Umfragen zunehmende Aggressivität im Straßenverkehr – egal ob als Fußgänger, Radler oder Autofahrer. Woran liegt das? Der Verkehrspsychologe Dr. Jens Schade forscht zum Thema. Er spricht über einem Paradigmenwechsel in der Verkehrsplanung und die Gründe der Wut, zudem plädiert er bei Konflikten für mehr „unerwartete Freundlichkeit“.

Herr Schade, trügt der Eindruck, oder heißt es auf den Straßen zunehmend jeder gegen jeden?

Jens Schade: Das eine sind subjektive Alltagserfahrungen, das andere objektive Messungen. Und wenn man sich auf das Objektive verlässt, wird es schwierig. Schon seit den 60er-Jahren wird kolportiert, dass das Verkehrsklima rauer wird, aber das ist ein Mythos. Zumindest im Autoverkehr. Die persönliche Erfahrung mag das hergeben, wissenschaftlich ist dieser subjektive Befund aber problematisch. Für steigende Aggressivität auf der Straße gibt es keine belastbaren Belege.

Zur Person

Das müssen Sie erklären.

Schade: Wie will man Aggression auf der Straße messen? Sind es die Unfallzahlen? Die im Straßenverkehr Getöteten? Die Auffahrunfälle? Die Beleidigungen? Die Nötigungen? Und wenn es die Nötigungen sind: Nimmt man die Anzeigen oder die Verurteilungen? Zumal auch diese Zahlen nicht darauf hindeuten, dass es auf den Straßen schlimmer geworden ist. Sie könnten auch spiegeln, dass die Anzeigebereitschaft gestiegen ist. Sinkende Verkehrsmoral kann man daran jedenfalls nicht ableiten.

Sie haben zum Thema geforscht, ein In­strument zur Messung des Verkehrsklimas entwickelt. Was sind Ihre Ergebnisse?

Schade: Basierend auf Befragungen von Verkehrsteilnehmern zeichnet sich ein vergleichsweise neutrales Bild ab. Es ist also bei Weitem nicht so negativ wie häufig behauptet. Interessant dabei: Männer und Frauen beurteilen das Klima etwa gleich gut oder schlecht. Ältere sind zufriedener als Jüngere. Am wichtigsten ist aber die Erkenntnis: Wer viel fährt, ist unzufriedener, weil er mehr Negativerlebnisse sammelt als jemand, der nur selten unterwegs ist. Unsere Annahme ist, dass Vielfahrer die Aggressivität im Verkehr überschätzen, während die anderen das Risiko vielleicht unterschätzen.

Ton und Gebaren im Großstadtverkehr werden also nur gefühlt aggressiver?

Schade: Begrenzter Platz und viel Verkehr erhöhen grundsätzlich die Interaktionsmöglichkeiten, da bleiben negative Interaktionen nicht aus. Deshalb geraten in der Stadt Autofahrer, Radler und Fußgänger viel häufiger aneinander als auf dem Land. Die Enge schafft hier zusätzlichen Konkurrenzdruck.

Wer konkurriert mit wem?

Schade: Die Hackordnung ist unverändert – das Auto ist am stärksten, dann kommt der Radfahrer, und am Ende der Kette bewegt sich der Fußgänger. Neu ist allerdings die Gewichtung der Verkehrsteilnehmer in der Verkehrsplanung. Da hat es einen Paradigmenwechsel gegeben. Traditionell war Planung auf das Auto ausgerichtet, jetzt werden zunehmend die Bedürfnisse von Radfahrern und Fußgängern berücksichtigt. Plötzlich sind Radfahrer mit eigenen Streifen auf der Straße, während für das Auto weniger Platz bleibt. Das hat seine Wirkung. Vor allem für den motorisierten Verkehr ist das eine neue Erfahrung, an die man sich erst gewöhnen muss.

Das heißt, Autofahrer haben allen Grund, gereizt zu sein, weil sie in die moralisch unterlegene Sünderrolle des Umweltverschmutzers gedrängt werden und nun auch noch ihren Platz teilen müssen?

Schade: Zumindest ist anzunehmen, dass es manch einer schwer hat, sein Selbstverständnis zu überdenken. Das Privileg geht verloren, die Straße gehört nicht mehr Autofahrern allein. Das macht etwas mit der Psyche. Wenn dann noch Termindruck und Enge dazukommen, man also das Gefühlt hat, von anderen aufgehalten oder gegängelt zu werden, kommt Frust auf, man lässt Druck ab.

Zu Recht?

Schade: Die moderne Verkehrsplanung orientiert sich an den Entwicklungen auf der Straße – und die sind in der Stadt nicht mehr vom Auto dominiert. Die Führerscheinquote unter jungen Menschen geht zurück, viele Großstädter sind multimodal unterwegs. Das heißt: Sie kombinieren unterschiedliche Verkehrsmittel. Darauf reagiert die Verkehrsplanung. Selbstverständlich hat das Folgen für Autofahrer, vor allem für ihre Selbstwahrnehmung.

Jeder fährt mal Auto, tritt in Pedale oder geht zu Fuß: Warum fällt uns der Perspektivwechsel, das Verständnis für andere Verkehrsteilnehmer, trotzdem so schwer?

Schade: Das ist ein menschliches Problem. Realität ergibt sich aus der eigenen Perspektive. Das bedeutet, dass ich mein Handeln, auch meine Fehler, im Verkehr stets sehr gut erklären kann, während ich das Handeln und die Fehler anderer nicht verstehe und erst mal mit ihrer aggressiven Persönlichkeit in Verbindung bringe. Wie ich es auch wende, meist finde ich mich in der Rolle des Opfers wieder, während der andere Schuld hat, weil sein Verhalten für mich unerklärlich ist.

Das ist ernüchternd.

Schade: Aber auch logisch. Nehmen wir die alte Hackordnung. Der Autofahrer verdrängt qua Fahrzeugmacht den Radfahrer von der Straße. Der reicht seinen Ärger mit seiner Vormachtstellung an den Fußgänger weiter. Während Fußgänger darüber nicht amüsiert sind, kann der Radfahrer sein Handeln mit dem Druck von der Straße rechtfertigen. Das Ergebnis ist für alle frustrierend.

Wäre es dann nicht sinnvoller, klare Trennlinien zwischen den Verkehrteilnehmern zu ziehen, um ihnen möglichst wenig Kontakt zu ermöglichen, oder ist genau das Gegenteil, ein „Raum für alle“, besser?

Schade: Die Demokratisierung des Verkehrs mit gleichberechtigten Teilnehmern hat sicher ihren Charme, funktioniert aber nicht auf stark befahrenen Straßen. Gleichrangigkeit erfordert gegenseitige Rücksichtnahme, die oft zu kurz kommt. Andererseits brauchen etwa Kinder klare Regeln. Auch Ältere, Seh- oder Gehbehinderte hätten es in so einem Raum eher schwer.

Also hilft gegen Emotionen und Verteilungskämpfe nur strikte Trennung?

Schade: Die gibt es nicht, schon gar nicht in der Stadt. Spätestens an Kreuzungen queren sich die Wege von Fußgängern, Radfahrern und Autos, leider oft überraschend für den anderen, sodass viele Konflikte auch aus unerwarteten Begegnungen resultieren. Gute Sichtbarkeit, etwa durch Radfahrstreifen auf der Straße, kann die Situation verbessern. Wenn ich als Autofahrer Radfahrer auf der Straße erwarte, steigt die Wahrscheinlichkeit, sie auch rechtzeitig wahrzunehmen.

Gibt es eine gesellschaftliche Erklärung für die erlebte Zunahme von Aggressionen im Verkehr?

Schade: Vielleicht hat die Regelakzeptanz und Regeltreue generell abgenommen. Bei Rotlichtverstößen etwa ist die Bestürzung inzwischen nicht mehr so groß wie noch vor ein paar Jahrzehnten, obwohl der Gesetzgeber das stärker ahndet. Diese Disziplinlosigkeiten regen andererseits immer noch genügend Leute auf, sodass es immer wieder zu Reibungen kommt. Ein anderer Punkt ist, dass es den Wutbürger auch auf der Straße gibt. Er nutzt den Konflikt im Verkehr zur eigenen Emotionsregulation. Statt ins Fitnessstudio zu gehen, lässt er auf der Straße Dampf ab.

Wie kann man Aggressionen auf der Straße aus dem Weg gehen? Was raten Sie in Konfliktsituationen?

Schade: Unerwartete Freundlichkeit funktioniert recht gut. Auf negative Einflüsse positiv zu reagieren oder sich einfach mal zu entschuldigen, könnte dem Gegenüber den Wind aus den Segeln nehmen. Wer freundlich reagiert, erhält mit größerer Wahrscheinlichkeit eine positive Reaktion. Jeder weiß aus anderen Bereichen, dass Schreien und Strafen nur selten zum Ziel führen, sondern eher das Gegenteil bewirken.