Hamburg. Drängeln, hupen, ausbremsen, pöbeln: Aggressionen prägen zunehmend den Verkehr. Das zeigen Umfragen – und viele Beispiele.
Es wird gedrängelt, gehupt, gepöbelt – und der Ton wird immer rauer. Es sind Momente wie dieser am Großen Burstah, die viele Verkehrsteilnehmer in dieser Wahrnehmung bestätigen. Dem drängelnden Audi fährt ein Radfahrer nicht schnell genug und nicht ausreichend weit rechts, was der Bedrängte mit einem Schlenker zur Fahrbahnmitte quittiert. Ergebnis: Hupen, Stehversuch, Eskalation. Schockierte Passanten erleben einen mit Schimpfworten garnierten Wutausbruch, der mit wenig freundlichen Handzeichen pariert wird. Alltag auf Hamburgs Straßen.
Schon vor Jahren war Karsten Witt, damals Leiter der Verkehrsdirektion der Polizei, zu der Einschätzung gelangt: „Das Klima auf den Straßen wird rauer.“ Und laut den jüngsten Erhebungen ist es im Auto, auf dem Rad und zu Fuß seither nicht besser geworden. Im Gegenteil: 53 Prozent der Autofahrer, die 2016 im Auftrag des Deutschen Verkehrssicherheitsrates befragt wurden, sind der Meinung, dass der Verkehr zunehmend von aggressivem Verhalten geprägt ist. Hamburgs Radfahrer wiederum leiden laut einer Studie des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) unter Stress, fühlen sich bedrängt und gefährdet. Und auch die Fußgänger, vertreten durch den Verein Fuss e.V., beklagten sich erst kürzlich über rüpelnde Radfahrer auf Gehwegen.
Was die Versicherer dazu sagen
Jeder gegen jeden? Dem Deutschen Verkehrssicherheitsrat zufolge finden acht von zehn Befragten, dass Aggression ein prägendes Element im Straßenverkehr ist. In Hamburg, wo zunehmender Egoismus und abnehmende Rücksichtnahme an jeder Ecke beobachtet werden kann, verstärke sich dieser Eindruck durch die Enge der Verkehrsfläche. Gegenseitige Rücksichtnahme, wie sie als Leitgedanke in der Straßenverkehrsordnung verankert ist, werde kaum noch gelebt.
Drängeln und riskantes Überholen
Wie zum Beispiel an der Osterstraße in Eimsbüttel, wo einem Radfahrer die Vorfahrt genommen und dem schuldigen Autofahrer dafür ans Seitenfenster gespuckt wird – ungeachtet der zuschauenden Kinder. Oder am Kreuzweg in St. Georg, wo sich ein Autofahrer mit drohendem Hupen erst Gehör und dann Platz verschafft – ungeachtet des genötigten Radfahrers. Oder an der Laeiszhalle, wo ein Jugendlicher mit Kopfhörern bei Rot über die Kreuzung geht – ungeachtet des verbalen Zorns der vollbremsenden Rad- und Autofahrer. Emotionen, das zeigen diese Beispiele, sind auf den Straßen oft im Spiel. Nur meistens keine guten.
Objektive Belege für ein schlechter werdendes Verkehrsklima fehlen allerdings, sagt Verkehrspsychologe Jens Schade. Der Wissenschaftler der Technischen Universität Dresden forscht zur „Einstellung im Verkehr“ und spricht, wenn über den „Krieg auf der Straße“ geklagt wird, von einem „Mythos“, der seit den 60er-Jahren kolportiert werde. „Messen lässt sich das nicht“, sagt er, „selbst wenn subjektive Alltagserfahrungen etwas anderes spiegeln.“ In der subjektiven Wahrnehmung gehören vor allem Drängeln (67 Prozent), riskantes Überholen (65 Prozent), das Missachten der Vorfahrt und ungeduldiges Hupen zu den größten Ärgernissen
71.000 Rücksichtslosigkeiten pro Jahr
Zum Beispiel am Mühlenkamp in Winterhude, wo die Elbgold-Fangemeinde, die hier gern ungeniert mit Autos den Radstreifen zuparkt, bereits abgerauscht ist. Trotzdem zieht sich ein Hunderte Meter langer, hupender Stau bis in den Hofweg. „Schnell und zügig“ steht auf dem Wagen der Speditionsfirma, der in zweiter Reihe steht. Schön wär’s. Aus Verzweiflung drängeln sich Autofahrer in den Gegenverkehr, ein Mini nimmt einem Lkw die Vorfahrt: ungerührte Gesichter beim Verursacher. Eine Frau mit geparktem SUV in zweiter Reihe vor der Ampel bringt ihre Ignoranz auf den Punkt: „Es gibt eben solche und solche Leute.“
Ob Straftatbestände wie Beleidigungen oder Nötigungen im Verkehr zugenommen haben, können weder Polizei noch Staatsanwaltschaft mangels Statistik sagen. „Demnach ist eine Entwicklung des Verkehrsklimas nicht ohne Weiteres zu beurteilen“, sagt Nana Frombach, Sprecherin der Staatsanwaltschaft. Beim Kraftfahrtbundesamt in Flensburg reicht die entsprechende Statistik immerhin bis ins Jahr 2013. Knapp 3,5 Millionen „Verkehrsverstöße nach wahrnehmbarer Rücksichtslosigkeit“ wurden dort registriert – Tendenz in diesem Jahr: sinkend. Dabei hatten 71.000 dieser „wahrnehmbaren Rücksichtslosigkeiten“ ihren Tatort in Hamburg.
Auch positive Signale
Zum Beispiel an der Sechslingspforte an diesem Morgen. Ein Radfahrer zischt links an einem haltenden Auto vorbei über den Fußgängerüberweg. Der Autofahrer kocht, der Fußgänger auch. Am selben Zebrastreifen wird zehn Minuten später ein Autofahrer von einem Mann im Oldtimer angehupt. Grund: Er lässt einen Fußgänger über die Straße. Häufig werden aus solchen Nichtigkeiten Streits, die als „erkennbar riskantes Verhalten“ oder als „Behinderung, Belästigung, Nötigung“ enden.
Doch es gibt auch positive Signale im womöglich ruppiger werdenden Hamburger Verkehrsklima. Am Tibarg in Niendorf funktioniert die gleichberechtigte Koexistenz zwischen Radfahrern und Fußgängern bereits seit 2015 friedlich. Das Radeln in der Fußgängerzone ist erlaubt, eine drei Jahre lange Pilotphase blieb ohne Auffälligkeiten. „Bisher sind keine Verkehrsunfälle angezeigt worden“, sagt Thomas Piper vom zuständigen Polizeikommissariat 24. Streits seien selten. Eng wird es nur bei schönem Wetter und an Sonnabenden. Dann müssen die Radler um die Fußgänger kurven. Aber Pöbelei? Fehlanzeige.
Lesen Sie morgen: Ein Interview mit dem Verkehrspsychologen Jens Schade