Hamburg. Bislang wurden 227 Anträge auf verkehrsberuhigende Maßnahmen eingereicht. Ein Bescheid ist aber noch nicht ergangen.
Auf Hamburgs Hauptstraßen könnte es schon bald weitere Verkehrsbeschränkungen geben. Der Grund: Immer mehr Bürger beantragen bei den Behörden Maßnahmen zum Schutz vor Lärm und Abgasen. Von Anfang 2014 bis zum 24. März 2017 gingen 142 solcher Anträge ein, bis zum Stichtag 9. Mai waren es sogar schon 227 Anträge. Das geht aus zwei Anfragen der Linken-Bürgerschaftsfraktion an den Senat hervor.
Ursache für den Anstieg sind offenbar entsprechende Werbekampagnen des Allgemeinen Deutschen Fahrrad-Clubs (ADFC) und des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND). Der ADFC Hamburg bietet auf seinen Internetseiten eine komfortable Hilfe an, die die Antragstellung erleichtert.
Die rechtliche Grundlage dafür bietet der Paragraf 45 der Straßenverkehrsordnung. Der Fahrrad-Club will so den Druck auf die Behörden erhöhen, mehr Tempo-30-Zonen auszuweisen. Ob das gelingt, ist unklar. Derzeit ist allerdings nach Auskunft der Innenbehörde noch in keinem einzigen der Anträge ein Bescheid ergangen.
Tempo 30 auf mehr als der Hälfte der Straßen
Denn zunächst müssen umfangreiche Messungen vorgenommen werden. Der Senat spricht in seiner Antwort von „komplexen Prüfverfahren, die sich einerseits auf die tatsächlichen Beeinträchtigungen, andererseits auf die Wirkungen von Maßnahmen beziehen und dabei wiederum im Kontext mit anderen Maßnahmen aus dem Komplex Luftreinhaltung und Lärmschutz gestellt werden müssen“. Damit gibt es eine weitere Möglichkeit, in Hamburg gegen den politischen Willen der zuständigen Verkehrsbehörde Tempo-30-Zonen einzuführen. Eine in diesem Frühjahr beschlossene Reform der Straßenverkehrsordnung schreibt vor, dass vor den 1065 Kitas, den rund 380 Schulen, allen Senioreneinrichtungen und Krankenhäusern Tempo 30 angeordnet werden muss. Der Verzicht muss von der Stadt gerichtsfest begründet werden. Vor allem Umweltverbände hoffen nun, durch die Hintertür Tempo 30 in der ganzen Stadt durchsetzen zu können. Derzeit gilt schon auf mehr als 50 Prozent der etwa 4100 Straßenkilometer in Hamburg Tempo 30.
Überschreitungen auch auf der Elbchaussee
Was die Reinhaltung der Luft und den Lärmschutz angeht, so liegen inzwischen einige Messergebnisse vor. In vielen Fällen werden entsprechende Grenzwerte überschritten. Werden beispielsweise beim Lärm nachts 60 dB(A) und tags 70 dB(A) übertroffen, haben die Bürger in der Regel einen Rechtsanspruch auf Schutz. Derartige Überschreitungen wurden nun unter anderem auf der Max-Brauer-Allee, Elbchaussee, Kieler Straße, Bundesstraße, Grindelallee, Schäferkampsallee, Kaiser-Wilhelm-Straße, Hudtwalckerstraße, Lokstedter Weg, Lübecker Straße, Wandsbeker Chaussee und Walddörferstraße festgestellt.
Kommentar: Tempo 30 ist keine Allzwecklösung
Mit welchen Maßnahmen auf diesen Straßen der Lärm verringert werden kann, muss nun von der Innenbehörde geprüft werden. Die Behörde weist darauf hin, dass es sich dabei immer um eine Einzelfallprüfung handele. „Dabei sind alle berechtigten Interessen der Antragsteller, der Allgemeinheit und der sich aus den sich verändernden Verkehrsabläufen neu ergebenden Betroffenen sorgfältig abzuwägen“, heißt es in der Antwort des Senats auf die Anfrage der Linken. Klar ist jedenfalls, dass Tempo 30 den Lärm vermindert. „Grundsätzlich kann eine Temporeduktion von 50 km/h auf 30 km/h eine Pegelminderung von 3 dB(A) erbringen“, heißt es in der Antwort. Das ist eine Menge. Es entspricht etwa dem, was eine Halbierung des Verkehrs auf der jeweiligen Straße bewirken würde. Wirksam wäre auch eine Reduzierung des Lkw-Verkehrs. „Ein Lkw erzeugt in der Regel so viel Lärm wie 20 Pkw“, schreibt die Innenbehörde.
Harburger warten seit zwei Jahren
Auch Motorräder spielen eine große Rolle. Im Rahmen eines Tempo-30-Pilotversuchs auf der Winsener Straße wurden in den Monaten Oktober und November 2013 nächtliche Spitzenpegel von 86,9 dB(A) gemessen, in den Nachtstunden der Monate Mai und Juni 2015 aber Maximalwerte von bis 93,3 dB(A). Lapidarer Kommentar der Innenbehörde: „Die hohen Werte bei den Frühjahrsmessungen spiegeln die beginnende Motorradsaison wider.“
Linken-Verkehrspolitikerin Heike Sudmann wirft dem Senat vor, „das Problem auszusitzen – aus lauter Angst, Tempo 30 oder Fahrverbote verhängen zu müssen“. Statt innerhalb von drei Monaten die Anträge zu bearbeiten, wozu die Polizei laut ADFC verpflichtet sei, würden die Betroffenen auf der Max-Brauer-Allee seit einem Jahr warten, die auf der Heimfelder Straße in Harburg seit fast zwei Jahren. „Ohne Entscheidung der Behörde können sie aber nicht vor Gericht ziehen und gegen den gesundheitsgefährdenden Verkehr vor ihrer Haustür klagen“, so Sudmann. „Das ist echt perfide.“
Kein Rechtsanspruch auf Verkehrsbeschränkung
Der Hamburger Geschäftsführer des Bunds für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), Manfred Braasch, sagte , es sei „richtig, dass sich Anwohner sorgen um Gesundheit und Lebensqualität machen“. Die Belastung mit Lärm und Luftschadstoffen sei vielerorts zu hoch, Hamburg brauche „eine deutlich weniger Auto-zentrierte Organisation des Verkehrs“. Bis „diese Vision Realität wird, ist es das gute Recht von Anwohnern, konkret für ihre jeweilige Straße entsprechende Maßnahmen zu fordern“, sagte Manfred Braasch. „Die sich jetzt abzeichnende massenhafte Ablehnung durch die Behörden läuft auf eine Konfrontation hinaus.“
Die für die Prüfung und für Verkehrsbeschränkungen zuständige Innenbehörde gibt sich zurückhaltend. Es bestehe kein Rechtsanspruch auf verkehrsbeschränkende Maßnahmen – lediglich einen Anspruch auf „ermessensfehlerfreie Entscheidung der Behörde“. Allerdings gebe es bereits zwei Klageverfahren in diesem Kontext. Trotz des deutlichen Anstiegs würde auch weiterhin jeder Antrag „einer Einzelfallprüfung unterzogen“, so die Innenbehörde. „Die erforderlichen Prüfverfahren sind komplex, da einerseits die tatsächlichen Beeinträchtigungen, andererseits die Wirkungen von Maßnahmen erhoben und beurteilt und dabei wiederum in einen Kontext mit anderen Vorhaben aus dem Komplex Luftreinhaltung und Lärmschutz gestellt werden müssen.“ Immerhin: „Aufgrund der langen Prüfprozesse prüft die Innenbehörde zurzeit, ob den Antragstellern eine diesbezügliche Zwischennachricht gegeben werden soll.“
Hamburg will eigenen Weg erarbeiten
Susanne Meinecke, Sprecherin der Behörde für Wirtschaft, Verkehr und Innovation, sagt: „Uns ist es aus verkehrlicher Sicht wichtig, deutlich zu machen, dass Hamburg einen eigenen Weg erarbeitet, der die verkehrlichen Herausforderungen in einer Millionenmetropole noch besser berücksichtigt und dabei die Anforderungen an die Sicherheit natürlich immer im Blick behält.“ Soll wohl heißen: In einer Millionenmetropole könne man auf Hauptstraßen nicht massenhaft Verkehrsbeschränkungen einführen, wenn die Stadt weiterhin funktionieren solle.