Hamburg. Hans Werner Eberhardt hat sich auf die Suche nach seinem Vater gemacht. Er schrieb einen Brief und legte ihn auf das Grab in Ohlsdorf.

Es war mal wieder Zeit, nach den Gräbern zu sehen. Alle drei Monate guckt Martin Ripp nach dem Rechten, bei schönem Wetter spaziert der 81-Jährige dafür zu Fuß von Bramfeld nach Ohlsdorf, vorbei an Kapelle 6, ein paar Hundert Meter durch die Grünanlage, dann die Abkürzung über die Wiese. Seit 40 Jahren macht Martin Ripp das, seit sein Bruder hier liegt.

Es ist ein unscheinbares Grab, ein schlichter, grauer Stein für Hans Ripp und dessen Frau Hildegard, aber das kleine Beet ist stets gepflegt. Doch an diesem Tag ist etwas in Unordnung. Auf dem Grabstein liegt ein dicker Ast, daneben steht eine Tonschale. Als Martin Ripp näher kommt, entdeckt er darunter einen Zettel, eingeschlagen in Klarsichtfolie. Ein Brief. Martin Ripp wundert sich. Post für einen Toten?

„Guten Tag den Lebenden“, ist der Brief überschrieben. „Sind Ihnen die hier Ruhenden vielleicht bekannt oder vertraut? Meine Suche nach Verwandten oder Bekannten blieb bisher erfolglos. Vielleicht ist es Ihnen ebenso wichtig, auch die eigenen Erinnerungen zu teilen, um damit Ihnen und mir einen Einblick in die Geschichte zu gewähren.“

Der Sohn war erst fünf, als sein Vater starb

Martin Ripp steckt den Brief in die Jackentasche, wischt die Erde vom Grabstein, sammelt ein paar Blätter vom Beet und machte sich auf den Heimweg. Da muss sich jemand irren, denkt er. Hans ist seit 40 Jahren tot, seine Frau seit 20, die zwei Kinder sind über 70. Was sollte das für eine Geschichte sein?

Drei Monate später im Friedhofscafé Fritz an der Fuhlsbüttler Straße. Hans Werner Eberhardt ist mit dem Fahrrad aus Hamm gekommen, er guckt freundlich unter seiner Schiebermütze hervor, seine Hände spielen mit dem Pott Kaffee. „Es gibt nicht viele Geschichten, an die ich mich erinnere“, sagt er. „Ich war ja noch sehr klein.“

Hans Werner Eberhardt war erst fünf, als sein Vater starb. In diesen wenigen Jahren hatte er ihn nur selten gesehen, und nach dessen Tod war der Vater eh kein Thema mehr, seine Mutter wollte nicht über ihn sprechen. Und jemand anderen fragen konnte er nicht. Es war eine Affäre, der Vater, 30 Jahre älter als die Mutter, hatte bereits eine Familie, ein anderes Leben, zu dem Hans Werner Eberhardt und seine Mutter keinen Zugang hatten.

Die Mutter lebt im Sanatorium

„Nach dem Tod meines Vaters hat meine Mutter alles, was sie von ihm hatte, vernichtet“, sagt Hans Werner Eber­hardt, heute 44 Jahre alt. „Es hat sie zerstört, sie ist nie darüber hinweggekommen.“ Zwar habe seine Mutter bald danach geheiratet, doch die Ehe hielt nicht mal ein Jahr. „Sie hat es danach immer wieder versucht, sie wollte auch einen Vater für mich finden“, sagt Eber­hardt. Sein Blick verrät, wie wenig das funktioniert hat. Seit 25 Jahren lebt seine Mutter in einem Sanatorium.

„Für sie ist das, was jetzt passiert ist, unfassbar“, sagt Hans Werner Eber­hardt. „Ich glaube, ihr ist immer noch nicht klar, dass das zu ihrem Leben gehört.“

Von seinem Vater blieb Hans Werner Eberhardt kaum etwas. In einer der wenigen Erinnerungen sitzt er als Dreijähriger auf dem väterlichen Schoß und steuert ein Auto über einen großen Parkplatz. Ein flaschengrüner Golf, der Motor laut und vibrierend, das Lenkrad riesig, er stolz wie Bolle. „Ich fahre immer noch wahnsinnig gern Auto“, sagt Eber­hardt. „Das hat mich wohl geprägt.“

Kleine Geschichte von großer Bedeutung

Es ist nur eine kleine Geschichte, doch für Hans Werner Eberhardt eine von großer Bedeutung. Denn sie ist eine der wenigen, durch die er sich eine seiner Eigenschaften erklären kann. Keine entscheidende, aber zumindest ein Puzzleteil.

So wie sein Vorname. Hans. Benannt nach dem Vater. Ein Foto gab es noch, es zeigt Hans Werner Eberhardt als Baby auf dem Bett der Mutter und auf dem Nachttisch ein gerahmtes Bild, darauf – winzig und verschwommen – sein Vater. Immer wieder hat Hans Werner Eberhardt versucht, dieses Bild im Bild zu vergrößern. Keine Chance.

Dafür wurden die Fragen größer. Wer war mein Vater? Was mochte er? Was konnte er? Welche Einstellung hatte er? Und wer bin ich? Bin ich ihm ähnlich? Was habe ich von ihm?

Ein holpriges Leben

Hans Werner Eberhardts Leben verläuft holprig. Mit 16 verlässt er die Schule in Osnabrück, wo er bei seiner Mutter und seiner Oma aufwächst, bricht zwei Ausbildungen ab, lernt Goldschmied, holt nach dem Zivildienst mit hörgeschädigten Kindern sein Fachabitur im Bereich Gestaltung nach, arbeitet in Frankfurt bei einer Trickfilm-Firma, macht sich als Konstrukteur für Kinderspielzeug selbstständig und zieht nach Köln, wo ihm die Decke auf den Kopf fällt.

Er begräbt die Firma, arbeitet als Rettungsschwimmer und im Vertrieb und bewirbt sich schließlich um einen Studienplatz in seiner Geburtsstadt Hamburg. Die Wartezeit von drei Jahren überbrückt er mit einer Ausbildung zum Schriftdolmetscher und Sprachmittler, seit eineinhalb Jahren studiert er nun an der Universität Hamburg Gebärdensprachdolmetschen. Und scheint endlich angekommen.

Der Vater wäre vergangenes Jahr 100 geworden

„Ich war lange mit mir selbst beschäftigt“, sagt Hans Werner Eberhardt. Doch die Fragen begleiteten ihn. Und die Verbindung zu Hamburg – die Stadt seines Vaters. Als Kind kam er mit seiner Oma aus Niedersachsen hierher, als er selbstständig war zu Kundenterminen – „und immer wieder“, sagt Hans Werner Eber­hardt, „war ich mit meiner Geschichte konfrontiert.“

So schwierig das Verhältnis zwischen Vätern und ihren Söhnen sein kann, gar kein Verhältnis zu haben ist sicher das schwierigste. Im besten Fall kann man stolz sein auf den Vater, auf seine Leistung, die man weiterführt oder zumindest in Ehren hält. Und ihn am Vatertag, der am Donnerstag wieder zele­briert wird, anrufen oder ein Bier mit ihm trinken. Im schlechtesten Fall wird einem bewusst, was man anders machen, wer man nicht sein will. Und den Vatertag dazu nutzen, mit den Kumpels Bier zu trinken.

Wenig Hoffnung auf Erinnerungen

Aber nichts zu wissen, keine Frage stellen, sich nicht abarbeiten zu können, nicht einmal ein Bild zu haben, das kann einen orientierungslos werden lassen. Hans Werner Eberhardt musste jemanden finden, der ihm von seinem Vater erzählen konnte.

---- Der Vatertag ----

Große Hoffnung hatte er indes nicht. Sein Vater wäre vergangenes Jahr 100 geworden, Jahrgang 1916. Unwahrscheinlich, dass es noch enge Angehörige gab. Vor zehn Jahren konnte er immerhin das Grab finden, seine Mutter hatte irgendwann mal eine Beerdigung in Ohlsdorf erwähnt. Doch bei der Suche nach Verwandten konnte die Friedhofsverwaltung nicht helfen, das Beerdigungsinstitut gab es nicht mehr, dafür aber den Datenschutz. Und so ein Grab kann ja nichts erzählen.

Der Friedhof als einziger Bezugspunkt

Trotzdem kam Hans Werner Eber­hardt immer wieder nach Ohlsdorf, über Jahre war der Friedhof sein einziger Bezugspunkt. Bis ihm das nicht mehr reichte. Wohl auch deshalb, weil er selbst Vater geworden war. Sein Sohn Arthur ist heute anderthalb Jahre alt. „Mir war aufgefallen, dass das Grab immer gepflegt war“, sagt Eberhardt. „Anfangs dachte ich, die Friedhofsverwaltung kümmert sich, aber ich war mir nicht sicher, ob da nicht doch noch jemand ist.“ Also entschloss er sich, einen Brief zu schreiben.

Mehrere Wochen vergehen, ohne dass Hans Werner Eberhardt etwas hört. Er hat seine Nummer auf dem Brief hinterlassen, doch er glaubt nicht daran, dass sich noch jemand meldet. Bis er eines Abends seinen Anrufbeantworter abhört, darauf eine Nachricht von dem Finder des Briefes – der sagt, er sei der Bruder des Verstorbenen. „Ich glaube, mir ist in dem Moment alles aus dem Gesicht gefallen“, sagt Hans Werner Eberhardt. Seit Jahren hatte er sich gewünscht, jemanden zu finden, der seinen Vater kannte. Und jetzt war da jemand auf dem Anrufbeantworter – sein Onkel. Konnte das wahr sein?

War da nicht mal diese Affäre?

Eine Woche später geht Martin Ripp wieder zu Fuß nach Ohlsdorf. Er hat sich seit dem Telefonat mit dem unbekannten Briefschreiber viele Gedanken gemacht. Meistens kam er noch zu dem Schluss, dass der Fremde sich irren muss. Der Sohn von seinem 20 Jahre älteren Bruder, wie sollte das gehen? Viel zu jung ist er doch. Und überhaupt.

Doch zwischendurch kommen Martin Ripp Zweifel. Und wenn doch? War da nicht mal diese Affäre, die sein großer Bruder ihm gebeichtet hatte, Anfang der 70er? Mit dieser Frau, die er beim Ausgehen kennengelernt hatte? Wo war das noch, auf dem Dom? Aber das war doch kurz darauf wieder vorbei. Oder? Einmal hatte sein Bruder diese Frau erwähnt, und dann nie wieder.

Behutsam wird die Familie zusammengeführt

Als Martin Ripp am Info-Häuschen des Friedhofs eintrifft und den jungen Mann mit der Schiebermütze sieht, der dort ganz offensichtlich auf jemanden wartet, werden die Zweifel zur Gewissheit: Doch, genau so musste es gewesen sein. „Du hast die Augen vom Hans“, sagt Martin Ripp. Hans Werner Eberhardt trägt seitdem ein Foto seines Vaters in seinem Portemonnaie. Es zeigt diesen als jüngeren Mann, ungefähr in dem Alter, in dem Hans Werner Eberhardt jetzt ist. Es ist das erste Foto, auf dem er seinem Vater in die Augen gucken kann, die Augen, die er von ihm geerbt hat.

„Wir tasten uns seitdem ganz langsam voran, diese Geschwindigkeit liegt uns beiden“, sagt Hans Werner Eber­hardt. Er macht eine Pause, dann lächelt er. „Das liegt wohl in der Familie.“

Ein inniges Verhältnis

Martin Ripp, der neben ihm im Café Fritz sitzt, nickt. Er war immer stolz auf seinen Bruder, den gelernten Lithografen, der 1939 zur Luftwaffe kam, Jagdflugzeug Bf 109, und auf dessen Rückkehr aus der Gefangenschaft er, damals mit seinen zwölf Jahren, so sehnsüchtig in der Barmbeker Wohnung gewartet hatte. Der nach dem Krieg erst für die Hapag zur See fuhr, bis er Leiter der Reparaturabteilung des technischen Betriebs wurde und ihn ebenfalls dorthin holte, als Rechnungskontrolleur, weil er bei seinem Job bei einem Teppichgroßhandel so unglücklich war. Der große Bruder Hans, mit dem er stets ein inniges Verhältnis hatte, bis zu dessen Tod 1977, Bauchspeicheldrüsenkrebs.

Und jetzt ist da dieser junge Hans, der dem Bruder in vielen Dingen so ähnlich ist. „Er kann genauso charmant sein; allein, wie er mit der Kellnerin spricht – das könnte mein Bruder sein“, sagt Martin Ripp und schmunzelt. „Das liegt ihm wohl in den Genen.“

Ganz langsam wird auch die Familie zusammengeführt, Hans Werner Eber­hardt hat vor Kurzem schon die beiden erwachsenen Söhne seines Onkels kennengelernt, seine Cousins. Bald sollen Eberhardts Freundin und der kleine Sohn und Martin Ripps Frau dabei sein. Vielleicht machen sie sich auch auf die Suche nach den beiden Kindern von Hans Ripp, Hans Werner Eberhardts Halbbruder und Halbschwester, zu denen Martin Ripp schon seit Jahren keinen Kontakt mehr hat. Sein Halbbruder, so viel weiß Hans Werner Eberhardt zumindest, hat ebenfalls denselben Vornamen – Hans.

Neue Geschichten erzählen lassen

„Nach und nach bekomme ich in diesen Tagen Antworten“, sagt Hans Werner Eberhardt. Und mit ihnen neue Fragen. Doch jetzt kann er sie stellen. Und sich neue Geschichten erzählen lassen. So wie die, als Hans Ripp im Fronturlaub Anfang der 40er-Jahre einen Ranghöheren der Wehrmacht nicht zurückgrüßte. Als dieser ihm androhte, diese Frechheit werde Konsequenzen haben, gab Hans Ripp ihm eins auf die Nase. „Dein Vater hat sich nie etwas gefallen lassen“, sagt Martin Ripp. Hans Werner Eberhardt lächelt. „Das kenne ich von mir.“