Hamburg. Das Abendblatt fragt freitags die Menschen, worüber sie sich ärgern oder freuen. Teil 7: Kinder- und Jugendarzt Andreas Biebl

Als Kinder- und Jugendarzt ist Dr. Andreas Biebl nah dran an den Herausforderungen des täglichen Familienlebens. Eigentlich könnte sich der 66-Jährige zur Ruhe setzen, dafür arbeitet er aber noch zu gern mit Kindern und Jugendlichen. Also unterstützt er seine Frau an einigen Nachmittagen in der Praxis in Barsbüttel.

Nach Stationen in Gießen, Ulm, Bethlehem und Göppingen lebt Biebl wieder in dem Haus in Öjendorf, in dem er aufgewachsen ist. Der zweifache Vater hat einen zweijährigen Enkel. Berufsbedingt beschäftigen ihn vor allem Themen rund um das Wohl von Kindern und ihren Familien und deren Bildung. Sorgen machen ihm die zunehmende Handynutzung und das Bildungssystem.

Es sind Menschen wie Herr Biebl, die kein politisches Amt innehaben oder die Interessen eines Verbands vertreten, die in dieser Gesprächsreihe erzählen, was ihnen unter den Nägeln brennt, was sie ärgert oder freut.

Herr Biebl, was bewegt Sie gerade?

Andreas Biebl: Vor einigen Monaten war ich in einem Geschäft und konnte nicht bezahlen, da die Kasse nicht funktionierte und die Kassiererin nicht in der Lage war, die Summe im Kopf nachzurechnen.

Und das beschäftigt Sie so nachhaltig?

Ja, weil das ein Licht auf unser Schulsystem wirft. Wer dort keine Übung bekommt im Kopfrechnen, darf sich nicht wundern, wenn seine Rechenfähigkeit im Alltag zu wünschen übrig lässt. Preisüberschlagsrechnungen und Packungspreisvergleiche sind nicht möglich. Ohne tägliches Üben und Automatisieren kommt keine Routine zustande.

Auswendig lernen scheint verpönt zu sein. Können Kinder das noch?

Wenn man es ihnen abverlangt, können Kinder das. Es wird an den Schulen aber nicht gemacht. Das ist ja Drill. Und Drill ist nicht gut, weil militärisch. Beim Einmaleins geht es aber nicht anders. Mein Bruder kennt Physikschüler, die nicht in der Lage sind, einen Dreisatz zu bilden und die das Einmaleins nicht anwenden können. Die holen stattdessen einen Taschenrechner raus. Die Schule will jetzt jedem Kind einen Taschenrechner geben. Dabei muss man Dinge automatisieren, dann kann man das.

Also ist unser Bildungssystem schuld und die Lehrer schlecht?

Die Lehrer sind viel besser als ihr Ruf. Ich habe über erziehungsauffällige Kinder in meiner Praxis viel mit Lehrern zu tun, und die können unheimlich gut hingucken, die können gut differenziert beobachten. Aber mit den großen Klassen haben die Lehrer gar nicht die Möglichkeit, differenzierten Unterricht anzubieten. Differenzierte Unterrichtsvorbereitung kostet viel Zeit.

Ist Inklusion da überhaupt möglich?

Wir hatten ein Kind in der Praxis, das war an der Sprachheilschule, es lief super, und dann kam es in die normale Schule. Nach vier Wochen hat es geheult und wollte zurück in die alte Schule. Warum? „Ich will auch mal wieder gut sein“, hat es gesagt. Das geht mir nicht aus dem Kopf. Was man diesem Kind an Schulfreude geraubt hat. Die Inklusion ist ungeschickt aufgezogen. Die Klassen sind viel zu groß. Es sollte weiterhin Sonderschulen geben.

Was beobachten Sie an Veränderungen in Ihren Jahren als Kinderarzt?

Früher haben die Mütter ihren Kindern vorgelesen, wenn sie im Wartezimmer saßen. Jetzt sitzen die Kinder da, zerreißen ein Bilderbuch, und die Mutter spielt auf ihrem Handy.

Beunruhigt Sie das?

Ja, weil die direkte Kommunikation mit Blickkontakt wegfällt und über Blickkontakt kriege ich ja nun ein bisschen mehr mit – wie geht es dem anderen? Wie kommt das an, was ich sage?

Was hat das für Folgen, wenn die Mutter ständig aufs Handy guckt?

Es vermittelt dem Kind: Du bist mir nicht so wichtig. Und dann wundern sich die Eltern, wenn sie bei den größeren Kindern etwas weniger Erziehungseinfluss haben. Die Kinder sehen ja: Ist ohnehin egal, was ich mache. Das ergibt häufig das erziehungsschwierige Kind. Dann kommen Eltern in unsere Praxis.

Was genau läuft da schief?

Die Beziehungsfähigkeit zwischen Kind und Eltern nimmt mit übermäßigem Gebrauch technischer Hilfsmittel ab. Denn man hat 20 Sekunden, um dem Kind direktes Feedback zu geben. Also, damit Lob oder Kritik beim Kind ankommen. Gucke ich auf mein Handy, komme ich gar nicht dazu.

Und was bedeutet das für das Kind später?

Auch Kinder und Jugendliche verbringen viel Zeit mit dem Handy. Schüler sitzen sich zum Teil in der U-Bahn gegenüber, jeder guckt ins Handy, und die unterhalten sich ja gar nicht. Diese nonverbale Rückmeldung fällt weg, und das halte ich für bedenklich, weil sich die Leute einer Kommunikationsebene berauben, die ihnen die Natur mitgegeben hat.

Worüber freuen Sie sich?

Ich freue mich über Konzerte, wo Jugendliche auftreten. Klavier- oder Musikschulwettbewerbe, Jugend musiziert. Da sieht man: Es gibt Kinder, die sich so etwas antun, aber so gern, weil es ihnen Freude macht.

Und warum arbeiten Sie gern mit Kindern?

Weil sie offen sind. Wenn Babys oder Kleinkinder in die Praxis kommen, dann sind sie neugierig, wollen etwas sehen und gucken überall herum. Wenn man mit denen dann Kontakt aufnimmt, macht das richtig Spaß. Dafür braucht man natürlich Zeit. Zeit, für die Kinderärzte weniger pro Nase bekommen als ein Erwachsenenarzt.